Sind wir wirklich so naiv, dass die Begriffe "Röhre" und "Vintage"
Ja und nein.
Es gibt gewisse (Hardware-) Fakten, warum das damalige Gear eigen oder meinetwegen auch einzigartig klang (ohne das jetzt als die Krone der klanglichen Schöpfung verstanden wissen zu wollen.) Einer unserer Boardmember hat Vintage-Kupferdraht massenspektrographisch untersuchen lassen, ein anderer deutscher Hersteller hat jetzt erst konstatiert, dass die Magneten damals andere waren als heute, usw. usw. Wenn einer genau diesen Sound sucht, bitte sehr; kein Problem damit.
Richtig ist aber auch:
Nur das allerwenigste Gear war damals gut!
Nur recht wenig Gear ist es heute!
Damals wusste man vielleicht vieles (noch) nicht, wie man eine gute Gitte oder einen guten Amp baut.
Heute aber frisst das Profitmaximierungsprinzip die Qualität mal mehr, mal weniger sichtbar weg.
Heutiges Gear einiger Hersteller kommt mir inzwischen vor, wie manche Produkte der Lebensmittelkonzerne, die zwar perfekt auf Optik getrimmt sind, aber in denen alles erwartbar Echte und Natürliche durch billige Austauschstoffe substituiert wurde.
Keine Sorge, ich verstehe auch die Argumente derer, die da sagen, wir lebten heute in einem Gearheaven, noch nie war die Auswahl so groß, noch nie brauchbare Gitten so günstig. Verstehen bedeutet aber noch nicht anschliessen. Mich lässt das meiste, was man heute so hat, sehr kalt. Manchmal, und das ist natürlich auch subjektiv, kommt es mir so vor, als führte die riesige Auswahl und die damit verbundenen uferlosen Soundmöglichkeiten zu einer seltsamen Beliebigkeit und zur getriggerten Unfähigkeit, klanglich Spreu und Weizen zu trennen.
Was unsere Zunft zudem leider immer noch begleitet ist pseudokompetentes Gear-Geschwätz, Gearbesitz-Protzverhalten, Marken-Herdentrieb, der sehnliche Wunsch mit Gear seine Jugend zu konservieren, zudem auch eine gewisse unstillbare Gear-Völlerei verbunden mit dem Unvermögen das Potential des Geräts zu wecken, und immer wieder und immer fort Marketing-Geschwurbel seitens der Hersteller rauf und runter, deren Jargon imho manchmal Ähnlichkeit mit dem Anfix-Geschwätz von Drogendealern hat.
Wie anders ist es zu erklären, dass die Meisten eine mängelbehaftete Gitte für den Gegenwert von 12 oder mehr Kilo reinen Silbers kauft, die einem ein gelernter Gitarrenbauer für die Hälfte in perfekter Verarbeitung liefert?
Außerdem bin ich mir nicht sicher, in wie weit der bequeme Rückgriff auf das Heilige Vintage-Kalb (die Kunden wollen das) nicht die gesamte Entwicklung der Gitarre (als System) hemmt. Zugegeben, die Evertune und die Nutube sind trotz des Vintagehypes erfunden worden, aber wie wäre wohl der Stand der Technik, wäre die Markmacht der progressiv denkenden Kundschaft ungleich größer?
Gitarristen sind also nicht weniger naiv als Leute, die sich 20USD-Anzüge (Herstellungskosten) mit Boutiquelabel-XY-Aufnäher für 1000 Euro kaufen, oder 3 USD Parfüm-Ingredienzien für 80 Euro und damit eben doch saudumm oder sagen wir: Im Konsumverhalten weitestgehend fremdbestimmt.
Ach, Moment, wir sind gar nicht in der Luxusgüterbranche, oder?
Doch!