Jetzt mal ohne Quote:
Wenn ich lese, daß jemand "Synthesizer spielen" lernen will, und zwar umfassend, oder daß jemand umfassende Literatur zum Synthesizerspiel lernen will, dann gehe ich immer zunächst mal davon aus, daß er nicht einfach nur lernen will, wie man die Presets eines Romplers spielt, sondern daß es darum geht, elektronische Musik auf elektronischen Musikinstrumenten in allen Facetten kennenzulernen. Denn Rompler anknipsen, Streicher- oder Saxophon- oder "Synth"-Sound anwählen, das ist meines Erachtens nicht wirklich Synthesizerspielen und wenn, dann nur ein ganz ganz klitzeklitzekleiner Teil davon, noch dazu ein für Synthesizer an sich unbedeutender, den man höchstens als Alleinunterhalter (und die spielen meist keine Synthesizer) oder Bandmucker braucht.
Und das ist ein so gewaltig großes Feld mit derartig vielen Facetten, derartig vielen Gebieten, die dann auch noch ineinander übergehen, daß man das gar nicht irgendwie in einem oder zwei Büchern unterbringen kann. Und dann ist es vielfach auch noch sinnlos, weil viele dieser Spielweisen nur auf einem ganz bestimmten Gerät oder einigen wenigen Geräten geht.
Klar, es gibt Grundlagen, aber bitte, dafür braucht man kein Lehrbuch. Beispiele:
- Wie spiele ich Flächen?
- Wie spiele ich kurze, perkussive Sounds?
- Wie spiele ich monophone Leadsounds?
- Wie spiele ich kurz und polyphon?
- Wie spiele ich polyphone Leadakkorde mit nicht nennenswertem Amp-Release?
Aber viele Spielweisen und damit meine ich tausende sind abhängig a) vom Kontext, b) vom Feeling (wer das nicht hat, soll weiter Chopin spielen) und c) vom Equipment. Was auf einem Synth vorgemacht wurde, kann mitnichten auch nur auf der Hälfte aller Synths nachgemacht werden. Und da gäbe es noch viel, viel, viel mehr Beispiele. Was jetzt folgt, ist nur ein verschwindend kleiner Ausschnitt.
- Ein spielerisches Element, das man beispielsweise bei Jarre findet (neuerdings ARP 2600P Lead in Variation 2, schon lange der Analogsopran vom EMS Synthi AKS), ist: Rechte Hand spielt monophonen Sound (Attack und Release der Verstärkerhüllkurve sind kurz), linke Hand dreht das Tiefpaßfilter von Null auf und wieder zu. Allerdings spielen sich die beiden Beispiele auch wieder leicht unterschiedlich, weil sich die Sounds ganz anders anfühlen. Und wenn man einen Synth hat, wo man keinen Cutoffregler zum Anpacken hat, der außerdem hier und jetzt den kompletten Regelbereich des Filters durchfahren kann, hat man ein Problem.
- Überhaupt Jarre. Man hätte sich als Pianist, der Synthesizer lernen will, mal von 2008 bis 2011 in die sechste Reihe eines Jarre-Konzerts setzen sollen. Das wäre sehr lehrreich gewesen darüber, daß Lehrmaterial zum Spielen eines Synthesizer analog zu Lehrmaterial zum Klavierspiel kompletter Humbug ist.
- Pizzicato. Klar könnte man zeigen, wie realistische Orchester-Pizzicato-Sounds auf einem Keyboard zu tun hat. Das hat aber nichts damit zu tun, mit "Pizzagogo" von einem Roland D-50 Orinoco Flow von Enya zu spielen. Oder mit einem modifizierten (das muß man auch noch machen) "RealPizz" vom Roland JD-990 (oder diversen JV/XP-Modellen) Insomnia von Faithless, das ist nämlich wieder anders.
- Piano. Und zwar vom Synthesizer. Das berühmt-berüchtigte akustische Piano von der Korg M1 kann man (von der leichten Synthesizertastatur abgesehen) wie ein echtes Klavier spielen, aber wirklich zu Hause ist es im Eurodance- und House-Bereich, und da spielt man es wieder anders, nämlich einhändig Akkorde anschlagend, die aber knackscharf und ohne Dynamik.
- Piano vom Synthesizer zum zweiten, FM-Edition: Die Tänzerin von Edo Zanki (und Ulla Meinecke) auf einem Yamaha GS1 und eine x-beliebige Whitney-Houston-Ballade auf der labbrigen Tastatur eines Yamaha DX7 unterscheiden sich nicht nur vom Spiel auf einem Steinway oder einem Rhodes, sondern auch voneinander. Wieder fühlen sich die Sounds sehr unterschiedlich an, stehen in einem unterschiedlichen Kontext und werden auf unterschiedlicher Hardware gespielt.
- Flächen sind nicht gleich Flächen. Ein Solina String Ensemble, das immer schön einen kontinuierlichen elektronischen Streichersound produziert (solange man keinen Phaser dazwischen schaltet), spielt sich anders als eine Korg Wavestation, die über etliche Sekunden hinweg lange Wavesequenzen durchfährt. Auch das ist wieder ein Fall, wo man "den Sound fühlen" können muß.
- Manfred Mann's Earth Band: Die Synthesizersoli von Davy's On The Road Again (und ich meine die Albumversion) und Don't Kill It Carol (und ich meine wieder die Albumversion) sind in ihrer Form nicht nur jeweils einzigartig, also als Lehrmaterial komplett ungeeignet, sofern man nicht genau diese Songs spielen will, sondern auch noch equipmentgebunden, also nicht auf jedem elektronischen Tasteninstrument so umzusetzen auch schon deshalb, weil, wenn man sie so spielen will wie Manfred man, es sich auch so anhören sollte wie bei Manfred Mann.
- EDM (elektronische Tanzmusik, also Trance, Techno, House, Drum & Bass usw.) spielt man zu 98% überhaupt nicht händisch auf Klaviaturen. Man läßt spielen von Sequencern. Ja, häufig tatsächlich mehreren. Man selbst schraubt dabei nur an den Sounds herum und startet, stoppt, mutet oder unmutet Sequenzen. Da hat man dann im Club oder im Studio mitnichten ein oder zwei große Keyboard vor sich stehen, sondern einen Tapeziertisch mit einem Laptop, einem Audiointerface, einem Kompaktmixer und einer Unzahl "kleiner Spielzeuge". Paradebeispiel ist Acid House, wo man im Grunde nichts groß anderes zu tun hat, als bei der TB-303, die minutenlang immer dieselbe eintaktige Baßsequenz spielt, an Cutoff, Resonanz und Filterhüllkurve rumzudrehen, auf daß das Ding blubbert, schmatzt und quietscht. Oder man baut mal eine Sequenz um an der TB-303 oder an der daneben liegenden TR-808 oder TR-909...
- Irgendwo dazwischen ist die Art und Weise, wie diese Baßfigur von Jean Michel Jarres Equinoxe 5 bis 7 gespielt wurde. Das ist ja vor noch nicht so langer Zeit rausgekommen nicht nur, wie der Sound überhaupt aufgebaut ist, sondern wie diese markante Sequenz gespielt wurde, nämlich teilweise wirklich von einem Sequencer, teilweise per Hand. Und Equinoxe 7 braucht dann wieder eine Hand am Cutoff. Vom Sequenzenumschalten in Equinoxe 5 und 7 ganz zu schweigen.
- Toto, Africa, Synth Brass. Wenn man's richtig wie Steve Porcaro lernen will, braucht man einen Synth mit polyphonem Aftertouch, um für jeden Ton eines Dreiklangs unabhängig von den anderen per Aftertouch die Filter aufzudrehen. Viel Spaß beim Finden. Dito bei bestimmten Vangelis-Sachen. Und auch das ist wieder eine Spielweise für sich.
- Überhaupt "Synth Brass". Außer Africa gibt's ja auch noch Lido Shuffle von Boz Scaggs, Jump von Van Halen, Shine On You Crazy Diamond von Pink Floyd, Oxygène 4 von Jean Michel Jarre, Chariots Of Fire von Vangelis...
- Lucky Man von ELP erscheint zunächst mal wie ein Paradebeispiel für Legatospiel eines monophonen Synthesizersounds und wie ein Lehrbuchbeispiel für Portamento. Ja, aber Keith Emerson hat da natürlich noch ganz andere Schweinereien gemacht: Er hat das Portamento schneller und langsamer gedreht (Dein Synth hat keinen Portamento-Regler? Tja, Pech gehabt.), und dann war da noch das Ende Crossfade der Oszillatoren auf einen zweiten Signalweg mit hüllkurvengesteuertem Tiefpaßfilter und Hall, Resonanz auf (geht auch praktisch nur auf Modularsynthesizern).
- Dann gibt's wieder ganz eigene Spielweisen für paraphone Synthesizer. Mehrere. Viele. Weil die auch wieder anders funktionieren und anders gespielt werden wollen.
- Jordan Rudess könnte alleine ein ganzes Buch füllen.
- A propos Rudess, Haken Continuum. Oder Eowave Persephone. Alleine auf den Dingern gibt es etliche mögliche Spielweisen. Und fragt nicht nach dem Seaboard.
- Auch auf jeder Keytar spielt es sich anders, weil die Controller anders sind abgesehen davon, daß es unendlich viel gibt, was man auf einer Keytar spielen könnte. Ein Roland AX-1 spielt sich anders als ein Lync LN-1, ein Korg RK-100, ein Korg RK-100S, ein Lag LeKey, ein Yamaha SHS-10, ein Alesis Vortex oder das Lag Insecte von Jean Michel Jarre. Ribbon, Ribbon mit Modbar, drei Ribbons, zwei Wheels, ein Wheel, als Ganzes kippbarer Hals... In einem Lehrbuch müßte jedes Gerät für jede soundbezogene Spielweise gesondert behandelt werden.
- Setz mal einen des freien Spiels nicht mächtigen studierten Konzertpianisten, der unbedingt nach Lehrbuch vorgehen muß, an eine Yamaha GX-1. Zweieinhalb Manuale, Baßpedal, Bandmanual, der Sound verändert sich wie beim Klavier je nach Anschlagstärke, der Sound verändert sich je nach Druck auf den Anschlag (Aftertouch), der Sound verändert sich durch seitliches Bewegen der Taste (Horizontal Touch). Selbst auf dem Ding liegen Welten zwischen Village Ghetto Land von Stevie Wonder, All My Love von Led Zeppelin, Fanfare For The Common Man von ELP, The Day Before You Came von ABBA und allem, was George Fleury für das Ding arrangiert hat.
- Viele Spielweisen entstehen ja auch spontan dadurch, daß jemand einen Sound entdeckt und sei es ein Preset und einfach mal damit spielt. Da kann man nicht im Handbuch des Synth nachschlagen, wie denn jetzt der-und-der Sound gespielt werden muß.
- Was für einen Sound gilt, gilt für mehrere Sounds noch viel mehr. Etwa als Layers. Oder über die Tastatur verteilt. Wenn es Regeln gibt, die in einem Buch festzuhalten sind, dann gibt's da auch wieder eigene. Es gibt aber keine festen Regeln.
- Der Synthmann gehört ja auch zu den wenigen Musikern, die innerhalb eines Songs derart viele Instrumente spielen können. Solche Fälle gibt's ja auch noch: nicht nur zwei Synths übereinander, sondern drei Synths übereinander, Synths über Eck, Synths über Eck und übereinander oder riesige Keyboardburgen mit 10, 15, 20 Synthesizern, zwischen denen herumgesprungen wird innerhalb eines Songs.
Um noch einmal zu Jarre zurückzukommen: Wer noch nie gesehen hat, wie Synthesizer gespielt werden richtige klassische Analogsynthesizer, keine Presethupen , und wer das unbedingt mal sehen will in vielen Facetten, dem sei
Oxygène Live in your living room ans Herz gelegt. Vier Musiker an Dutzenden Maschinen in vier großen Burgen.
Nur mal so als Beispiel, was in Sachen Synthesizerspiel so alles geht und wie weit das von dem entfernt ist, was man sich als Pianist so vorstellt.
Dazu kommt am Ende noch was: Nicht alle Keyboarder spielen gleich, nicht mal dieselben Figuren in denselben Stücken in denselben grundlegenden Versionen. Niemand hier baut beispielsweise für über 30 Jahre alte Songs solch überbordende Erzmagier-Setups auf wie ich. 99% der Keyboarder hier halten mich für komplett wahnsinnig.
Nicht jeder covert auch gleich, weil nicht jeder dieselben Prioritäten beim Covern setzt. Typ 1 macht sein Ding mit Piano, Rhodes, Hammond und Minimoog. Typ 2 spielt das Allerwesentlichste auf einem Rompler mit zwei Händen in maximal zwei Tastaturzonen. Typ 3 betreibt einen größeren Aufwand, nutzt Zuspielungen, ist aber der Ansicht, daß eine moderne Workstation absolut jeden Synthesizersound, den es je gab, hinreichend originalgetreu nachbilden kann. Typ 4 bin ich, den findet man auch in gewissen Fanforen dessen höchstes Ziel ist
die perfekte Replica, bei der das Wort "hinreichend" nicht vorkommt, sondern die dem Original bis ins kleinste Detail so nah wie technisch irgend möglich kommt.
Martman