Dass die Textverständlichkeit in gewissen Bereichen(!) des klassischen Gesangs nicht immer gut ist, habe ich nicht bestritten. Erklärungen warum das passieren kann, wurden ja auch schon geliefert:
Dass ich die Italienisch sprachigen Arien nicht verstehe, ist klar, denn ich kann kein Italienisch, aber da ist es egal, ob Klassik oder Pop.
Auch wenn es einige deutschsprachige Opern gibt, ist hier die klassische Sprache Italienisch. Viele Zuschauer in unseren Breitengraden können aber gar nicht oder nur wenig Italienisch. Natürlich sollte man ein Wort auch rein akustisch verstehen müssen (ohne es zu begreifen), aber die Vorstellung, was es heissen
könnte hilft enorm bei der Verständlichkeit. Und wenn die Oper Russisch, Tschechisch oder so ist, wirds sowieso schwierig...
Im Pop liegt der Gesang näher an der Sprechsprache
Und an diese Sprechsprache sind wir gewöhnt, hören sie von morgens bis abends und verstehen sie auch noch, wenn mal ein bisschen genuschelt wird. In der Klassik singen die Frauen aber hauptsächlich mit Kopfresonanz, Sopran und hoher Mezzo sowieso (und die überwiegende Mehrheit der weiblichen Opernrollen sind für Sopran). Wenn ich jetzt mit Kopfstimme sprechen würde, ich gehe jede Wette ein, die Verständlichkeit wäre schon allein wegen dem Ungewohnten viel schlechter als wenn ich meine normale Sprechstimme (=Bruststimme) brauche.
Ich habe das eine oder andere Mal klassischen Sängern zugehört und kaum etwas verstanden bzw. fand die extreme Vokaleinfärbung drollig. Wobei mir klar ist, daß es manchmal gar nicht anders geht. Um den Kehlkopf unten zu halten und genügend hintere Weite zu haben
Das beeinträchtigt aber die Verständlichkeit weit weniger als es im klassischen Gesnag mit permanenter u-Färbung der Fall ist.
Das spielt sicher auch eine Rolle! Im klassischen Gesang ist die tiefe, lockere Kehle, die "U"-Stellung, die grosse hintere Weite das A&O. Wer das nicht kann, kann nicht klassisch singen, so einfach ist das. Alle anderen Regeln und Gebote die noch dazu kommen, damit ein schöner ausgewogener Klang entsteht, sind natürlich auch wichtig, aber die Grundlage zu allem liegt hier!
Persönlich denke ich allerdings, dass schlechte Verständlichkeit nicht so sehr an der Vokaleinfärbung liegt (vllt bin ich als reine Klassik-Singerin und -Hörerin aber einfach zu sehr daran gewöhnt), sondern an der zu wenig prägnanten Aussprache der Konsonanten. Zitat: "Gesungen wird auf den Vokalen, die Würze aber sind die Konsonanten."
Wenn das Gesungene als reiner Vokalbrei auf meine Ohren prallt, so fördert das weder die Verständlichkeit noch ist es besonders hübsch
. Die Konsonanten müssen deshalb sehr bewusst und oft übertrieben stark ausgesprochen werden, was ev. dann von einem Teil der Zuhörer auch mal als übertrieben künstlich wahrgenommen wird, aber eben nötig ist für die Verständlichkeit.
@sing-it.de
Was mich an deiner Aussage stört ist also nicht deine Kritik an der Verständlichkeit per se, sondern dies:
Und wenn der Zuhörer den Text nicht versteht, ist er wurscht.
Das ist für mich eine ziemlich verquere Logik. Für mich heisst das: Wenn etwas nicht ist wie es sein sollte, ist es automatisch egal
Ich versuche das mal halbwegs in eine andere Situation zu übersetzen: "auf dem Strassenabschnitt XY kommt es oft zu Unfällen, also ist (den Verantwortlichen) die Sicherheit dort egal"
Und wieder zurück zur Oper: wenn der Text wurscht wäre, wäre es automatisch auch der Inhalt. So ist es aber ganz und gar nicht! Die Oper ist ein Gesamtkunstwerk, die Musik ist natürlich die wichtigste aber bei weitem nicht die einzige Komponente. Der moderne Opernsänger hat in seiner Ausbildung auch Schauspielunterricht. Und die Zeiten wo 120kg-Sopranistinnen junge Mädchen darstellen (zwar schön singend, aber sich während der ganzen Vorstellung keine 3 Schritte über die Bühne bewegend) sind definitiv vorbei
. Und es ist bekannt, dass gewisse Opern zur Zeit ihrer Entstehung bei der damaligen Obrigkeit einen schweren Stand hatten, weil sie Kritik an den bestehenden Verhältnissen ausübten. Ja wie denn das, wenn der Text doch wurscht ist
Und noch zum Schluss:
Wenn man über Textverständlichkeit in der Klassik spricht, muss man es etwas differenzierter bezeichnen und nicht einfach vom "klassischen Gesang" sprechen. Im Lied ist sie, wie mehrmals erwähnt, nämlich hervorragend. Gleiches gilt prinzipiell auch für Rezitative (egal ob in Oper oder Oratorium).