Delio, meine zwei Cents in Form eines fürchterlich langen Texts:
1. Zur Ist-Situation und Verbesserung:
mach dir nix draus, wenn bisher alles erworbene sich nicht zu einem Puzzle zusammengesetzt hat. Wie ein paar Kollegen hier schon sagten: suche einen guten Gitarrenlehrer, lass dich von dem mal ordentlich in alle Einzelteile zerbröseln und bau dich anhand seiner Stunden wieder auf. Ich spiele seit fast 15 Jahren Gitarre und habe immer noch genügend weiße Seiten. Deshalb habe ich auch erst vor kurzem Stunden bei einem sehr guten Gitarristen genommen - und dem fielen bereits in der ersten Stunde Kleinigkeiten auf, die mir zuvor überhaupt nicht bewusst waren. Keiner ist perfekt!
2. Mach deine Übungen lebendiger und bringe mehr Spaß rein:
Ich kenne JustinGuitar und habe dort man mal eine Geschwindigkeitsübung für die linke Hand absolviert. Nett, aber ich hab nicht das Griffbrett hoch und runter gewuselt des Wuselns willen, sondern weil ich irgendwo her die Schnapsidee hatte, das Intro von AC/DC’s „Thunderstruck“ einigermaßen sauber und im Originaltempo spielen zu können. Anderes Beispiel: momentan zerpflücke ich Beatles- und Oasis-Songs, weil ich verrückt nach schönen Akkordvariationen bin und es mir ohne den Song-Kontext schlichtweg keine Freude bringen würde, triste Akkord-Tafeln runterzuspielen. Und wenn ich darauf mal keine Lust mehr habe, dann übe ich mich in Eddie Cochran Songs, weil ich Rockabilly liebe, aber aktuell weder die Licks noch den Rhythmus auf 3:30 hin bekomme. Lange Rede, kurzer Sinn: such dir Songs, die du können willst und gehe (mit einem Lehrer) durch, was du können musst, um diese spielen zu können. Wenn Gitarre spielen einzig aus Spider-Übungen und Tonleiter-Theorie bestehen würde, dann hätte ich schon längst meine Äxte im Rhein versenkt und wäre Schachprofi geworden.
3. Schalte ab vom Lernen und fördere damit deine eigene Kreativität:
Wenn ich 15 Minuten wirklich konzentriert übe, dann brauche ich danach mindestens eine halbe Stunde Gegenprogramm in Form von Improvisation und kreativem Allerlei. Vielleicht erfinde ich ein Lick, vielleicht spiel ich ein kleines, eigenes Blues-Solo, vielleicht schmeiße ich mein Fuzz an, schmettere ein Heavy Metal Riff und versuche, die Feedbacks zu formen, vielleicht spiele ich clean auch nur ein paar Akkorde vor mich hin und wundere mich, wie schön anders A Moll plötzlich klingt, wenn ich einen Finger weg lasse. Ich komponiere für mich selbst, erfinde Akkordfolgen, Melodien, Texte und schreibe sie auf, wenn sie mir gefallen. Sollen andere stundenlang Wechselschläge üben, ich schalte auch mal ab und lasse mich treiben. Und ja, man kann auch Kreativität „üben“ - man muss ihr nur den Raum geben. Einfache Anfängerübung: denke dir im Kopf eine Melodie aus und versuche sie an der Gitarre nachzuspielen. Ist eine Winzigkeit gegen jede JustinGuitar Übung, aber ganz wichtig für den Kopf. Und wenn du das verfolgst, dann kannst du irgendwann vielleicht ganze Akkorde oder Songs im Kopf aufbauen und wie aus dem nichts nachspielen.
4. Powerchords:
Du hast mich echt in meinen Grundfesten erschüttert, als du fragtest, ob man die braucht. Hallo? Es gibt Scharen von Gitarristen, die heute noch wild diskutieren, ob Link Wray nun diese göttlichste aller göttlichen Erfindungen kreiert hat oder nicht – und sei’s drum, den Urknall zu suchen: mit den straighten, einfachen Powerchords wurde die Gitarrenwelt ein ganzes Stück rauer und ohne sie würden Rock, Punk und Metal heute möglicherweise grausig zahnlos klingen. Ganze Generationen, dazu zähle ich auch mich, hätten nie das wundervolle Gefühl erlebt, mit drei einfachen Tönen die Songs ihrer Idole zumindest amateurhaft begleiten zu können, und vielen hätte ohne diesen Erweckungsmoment sicher die Motivation gefehlt, weiterzumachen. Also von meiner Seite ein ganz klares „JA“ – du solltest Powerchords nicht vergessen, egal was irgendwann einmal dein Steckenpferd sein soll. ;-)
Ich hoffe mal, mein Plädoyer für den 3-Töner konnte überzeugen und der restliche Text hilft dir da irgendwie auch weiter.