Ich gehöre zu denen, die auch bei Metal-Songs der Meinung sind, die besten Songs müssen immer auch noch funktionieren, wenn man sie nur mit Akustikgitarre + Gesang spielen würde. Das sorgt dafür, dass man die Akkordfunktionen nicht aus dem Blick verliert. Bei Growls umgekehrt wird im Melodic Death Metal (und verwandten Genres, z.B. auch gerne im Pagan Metal) oft von der Leadgitarre oder anderen Instrumenten die „Gesangsmelodie“ beigesteuert. Heißt, man könnte diese Melodie nehmen und sie bei einer Akustikversion normal singen.
Wird Growling hingegen rein rhythmisch eingesetzt, wie bei Amaranthe (keine Melodie spielt während des Growlings im Hintergrund), merkt man, dass die beiden Clean-Sänger sich bei den Akustikversionen ihrer Songs erst komplett neue Melodien für die ansonsten gegrowlten Parts überlegen müssen.
Das Problem, wenn man z.B. nicht von Akkorden / bestimmten harmonischen Funktionen ausgeht, sondern Strophe, Pre-Chorus und Refrain aus Riffs zusammenbaut, ist, dass die Gesangsmelodie dann oft mehr so „im Nachgedanken“ auf das Riff draufgelegt wird. Und was der Gitarrist geil findet, ist eben noch lange nicht das, was dem Song am meisten dient, oder was der Zuhörer sich gut merken / mitgrölen kann.
Würde man solch einen Song nun auf die Akustikgitarre übertragen, würde man im Zweifel die ganze Zeit nur den Grund-Moll-Akkord schrammeln. Wenn sich dann auch noch die Gesangsmelodie nicht viel bewegt (oder gar nicht vorhanden ist, weil Growling), merkt man durch diesen Test relativ schnell, ob der Song in seinen Grundbausteinen eigentlich eintöniger ist, als man das vermuten würde, wenn man ihn mit E-Gitarre und Distortion hört.
Letztendlich sind Melodien das, was die Songs stärker voneinander unterscheidbar macht als Rhythmik. In den Metal-Subgenres, wo Melodien nicht wirklich vorgesehen sind, hat man quasi nur noch die unterschiedlichen Synkopen-Pattern, um sie voneinander abzuheben. Insbesondere dann, wenn die Gitarren auch noch so tief gestimmt, dass die unterschiedlichen Melodien der Riffs, sofern denn vorhanden (und nicht nur 0-0-0-Djent), schwieriger als solche zu erkennen sind.
All das ist also im Endeffekt ein Plädoyer für Melodic Death Metal, Pagan, Symphonic, und allen voran natürlich das melodiöseste (und damit wohl „mainstreamigste“) Metal-Subgenre, nämlich Power Metal. Der hat dann eher ein anderes großes Problem — nämlich, dass
inhaltlich wenig aussagekräftige 08/15-Fantasy-Texte oftmals zum guten Ton gehören. Dem Stil treu zu bleiben scheint oft wichtiger, als inhaltlich etwas Neues auszusagen. (Gut, im Brutal Death Metal ist das nicht groß anders.
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Dass so Dinge wie Steve Terreberrys „Power Metal Lyrics Generator“ tatsächlich funktionieren, und viele Power-Metal-Bands sich heutzutage in Marvel-artiger Dauer-Ironie pausenlos selbst parodieren, spricht jetzt nicht unbedingt gerade für die größte Kreativität:
- DragonForce scheinen noch nie viel Wert auf ihre Texte gelegt zu haben; der „Power Metal Lyrics Generator“ geht maßgeblich auf ihre textlichen Negativbeispiele zurück (insbesondere auf „Inhuman Rampage“). Seit „Ultra Beatdown“ sind die Texte zwar besser (im Sinne von „abwechslungsreicher“) geworden, aber viel Aussage höre ich da immer noch nicht raus. Die cleversten Texte, die sie bisher geschrieben haben, dürften tatsächlich ihre Parodien anderer Bands sein (Nightwish, Sabaton, Amaranthe, Rammstein etc.), die Herman und Sam während der Pandemie geschrieben haben.
- Freedom Call sind dazu übergegangen, mehr und mehr direkt reine „Party“-Songs zu schreiben — anstatt Fantasy-Texte, die auf dem Studio-Album für sich stehen, und dann erst live zur Party-Hymne werden, wenn alle die Hymne mitsingen (“Metal is for Everyone“ & Co.). Von wenigen atmosphärischen Sternstunden abgesehen (“Paladin“, “Emerald Skies“) könnten Freedom Call mit ihren neueren Songs auch am Ballermann auftreten. Oder im Karneval. Oder im ZDF-Fernsehgarten.
- Twilight Force sind, wie ich kürzlich von Vali erfahren durfte, auch primär als Power-Metal-Parodie gedacht
- Nanowar of Steel singen über reichlich Random-Zeug (Käptain Iglo, einen veganen Velociraptor, Barbie etc.), wobei das meiste ebenfalls Anspielungen auf andere Power-Metal-Bands, also Insider-Witze sind. Im Folk- / Pagan-Bereich machen dann Feuerschwanz das Gleiche in Grün.
- Amaranthe benutzen gerne komplizierte technische Nomen. Das hilft aber nicht gerade dabei, Gefühle zu vermitteln — und die fehlende Chemie der Sänger untereinander, insbesondere bei den Balladen, kommt erschwerend hinzu.
- Bei Avantasia merke ich durchaus, dass Tobias Sammet einiges auszusagen hat — allerdings scheint das stellenweise auch nach all den Jahren Berufserfahrung immer noch an der Sprachbarriere zu scheitern. Manche Songs, auch auf den neueren Alben, klingen immer noch so, als hätte er sich zuerst auf Deutsch überlegt, was er sagen wollte, und dass dann mit Google-Übersetzer auf Englisch übersetzt. Bei Nightwish ist das früher wohl auch vorgekommen, wie Tuomas Holopainen selbst zugegeben hat; die haben jedoch mittlerweile das Glück, dass sie durch Troy Donockley als festes Bandmitglied einen Muttersprachler als Kontrollinstanz mit dabei haben.
- Rhapsody of Fire (in ihren verschiedenen Konstellationen) haben sich am ehesten noch die Mühe gemacht, mit ihren Songs Geschichten zu erzählen — das hilft aber nicht unbedingt dabei, eine emotionale Verbindung zu ihren Charakteren herzustellen. Insbesondere dann nicht, wenn sie einen mit Worldbuilding-Fakten zuschütten. („Dargor, Shadowlord of the Black Mountain“, und zahlreiche weitere Eigennamen, bis man nicht mehr durchblickt)
Am besten klappt die Kombination von eingängigen Melodien, Erzählen von Geschichten, und emotionaler Verbindung zu den dargestellten Ereignissen mMn immer noch bei Amorphis. Unter anderem wohl auch deshalb, weil die Band selbst sich voll auf die Musik konzentrieren kann, indem sie das Texteschreiben an jemand anderen auslagern, der sich vermutlich besser mit dem finnischen Nationalepos Kalevala auskennt als sie selbst. Dafür hätte ich mich als Deutscher wahrscheinlich nie interessiert, wenn Amorphis die Faszination daran nicht so überzeugend wecken würden.
So schaffen sie es, weiterhin Texte zu schreiben, die man ernst nehmen kann, anstatt bloß zum großen Pool der Internet-Memes beizusteuern. Und da sie den Kopf freihaben für die Komposition, und auch mehrere Bandmitglieder mitschreiben (Esa Holopainen, Santeri Kallio sowie Tomi Koivusari), heben sich die Songs entsprechend gut voneinander ab.
Amorphis sind eine der wenigen Bands, die ich höre, die es weiterhin mit jedem Album schaffen, sich nochmal ein Stück neu zu erfinden — und in dieser Hinsicht definitiv auch eines meiner Vorbilder.
Bei
Sabaton ist es mehr vom jeweiligen Song abhängig, ob sie nun eine emotionale Verbindung zu den geschilderten geschichtlichen Ereignissen herstellen können (die schwedische Version von „A Lifetime of War“ > die englische!) — oder ob sie mehr klingen wie singende Geschichtslehrer. Letzteres findet man in verstärkter Form auch bei Bands wie Ten oder Civil War.
Dann sind da noch
Nocturnal Rites, die zwar als Power Metal gelten, aber sowohl von ihrer Atmosphäre deutlich düsterer sind, als auch von ihren inhaltlichen Aussagen. Vergleichbar am ehesten mit dem oben verlinkten “Ministry of Saints“ von Edguy, aber eben immer in diesem Stil — wohingegen “Ministry of Saints“ für Edguy absolut untypisch ist. Auf ihrem letzten Album „Phoenix“ (mittlerweile auch schon 6 Jahre alt) sind Nocturnal Rites politischer geworden, sodass sie jetzt wohl ggf. auch eher als „Alternative Rock“ gelten könnten.
Bei
Nightwish und
Epica wird in letzter Zeit weniger autobiografisch und mehr lebensphilosophisch gesungen — worüber sich auch DragonForce bei ihren oben erwähnten Parodien lustig gemacht haben (“F knows what I‘m on about, but I‘ll warble endlessly“). Teilweise finde ich das interessant — am gelungensten finde ich in dieser Kategorie immer noch Borknagars „Colossus“ — aber teilweise wird es auch schnell prätentiös. Insbesondere dann, wenn die Wortwahl deutlich komplizierter ist als die vermeintliche Tiefe der philosophischen Erkenntnis dahinter.
Ich selbst habe früher oft mit dem Text angefangen — wie es z.B. in Italien vielerorts noch Tradition ist. Gerade bei den Italienern merkt man dann allerdings auch oft, dass sie aufgrund der hohen Silbenzahl die Grenzen dessen sprengen, was die später dazukomponierte Melodie eigentlich zulässt. Fängt man umgekehrt mit der Melodie an, läuft es oft eher so wie im Power Metal — man hat zwar eine eingängige Melodie, aber der Text ist mehr Nachgedanke und wird dann „passend gemacht“. Im Zweifel lässt man sogar einfach seine Platzhalter-Lyrics drin — so wie bei Majesticas „Above the Sky“, wo mich die zweite Strophe jedes Mal aus der Immersion der vorher aufgebauten Atmosphäre reißt (“Start with a D, then go to an F, the C will lead to G…“).
Daher entstehen bei mir mittlerweile Text und Musik gleichzeitig. Heißt, ich habe nicht erst einen vollständigen Text, oder eine komplette Melodie, wozu das andere dann hinzugefügt wird; vielmehr
habe ich für einen bestimmten Song vielleicht erstmal nur den Refrain, aber dafür dann bereits direkt schon Text und Musik zusammen. Und den Rest (Strophe, Pre-Chorus, Bridge etc.) überlege ich mir dann ggf. später, aber auch jeweils Text und Musik zusammen. Denn ob eine gegebene Textzeile funktioniert oder nicht, kann man oft nur im Zusammenhang mit der Melodie beurteilen.