Wie nennt man diesen Akkord??

  • Ersteller neohawaii
  • Erstellt am
Hauptsächlich als Schlußakkord eingesetzt, findet man ein paar gute Beispiele bei Miles Davis in den 50ern.
z.B. der Schluß von 'Four' auf Workin'. Eigentlich in Eb-Dur, spielt Red Garland D/Eb als Schlußakkord und Miles darüber ein einfaches Eb-Moll Arpeggio.
Auf In a silent way wird man ebenfalls fündig.

Hi Hiatus,

der Akkordtyp I°7mit Tension MA7 als Schlusswendung ist mir bekannt. Er läßt so einen Anschein von Rätsel/Frage im Raum stehen. Ist es dann doch nicht ein nicht-aufgelöster Vorhalt wie in meinem oben erwähnten Beispiel, nur eben ohne Folge-Akkord? Mir kommt das so vor. Ich benutze ihn gerne hin und wieder.

Habe mal geyoutubed und fand folgendes:

Miles Davis Quintet - Live in Tonight Show 1955 - Four
Hier ist der Schlussakkord ein Eb7/#9

Miles Davis - FOUR
Hier ist der Schlussakkord ein Eb-MA7.

Miles Davis & John Coltrane / Four 1958
Hier ist der Schlussakkord wiederum ein Eb7/#9.

Und ich glaube Dir dass Garland als Schlussakkord Eb°7 mit MA7 spielt. Schlussakkorde genießen ja eine gewisse Freiheit - will sagen, sie vertragen einiges.
 
Ist es dann doch nicht ein nicht-aufgelöster Vorhalt wie in meinem oben erwähnten Beispiel, nur eben ohne Folge-Akkord?

Hallo Cudo,
bin ja noch ein absoluter Frischling hier im Forum und ehrlich gesagt bin ich hoch erfreut, welch niveauvoller Diskurs sich hier bereits in kürzester Zeit ergeben hat.
Vor allem weil es einen u.a. dazu bringt, diverse Standpunkte nochmal in Ruhe zu überdenken und auch mal andere Blickwinkel in Betracht zu ziehen.
Habe also alles was meine Bibliothek zum Thema hergibt nochmal quergelesen und mußte feststellen, daß die Meinungen zum Teil doch stark divergieren,
was sich nicht zuletzt auch in den insgesamt vier gänzlich verschiedenen Akkordsymbolen widerspiegelt, die mir dabei begegnet sind.
Jedes einzelne davon zeugt von einer anderen Herangehensweise, gerade auch was die potentielle Funktion des Akkordes betrifft.
Die Frage die sich mir dabei unweigerlich stellt, ist natürlich die nach dem Grund der Uneinigkeit.
Zu spröde oder zu ambivalent? Grauzone, die sich einem eindeutig klassifizierenden Zugriff kategorisch entzieht? usw.
Gerade auch in Bezug auf die Thematik 'eigenständiger Schlußakkord versus unaufgelöster Vorhalt'.
Wo verläuft die Demarkationslinie? Wie viele vermeintliche Akkordneubildungen seit der Blütezeit der Mehrstimmigkeit resultierten daraus,
daß Vorhaltsbildungen plötzlich damit begannen ein Eigenleben zu entwickeln,
sich aus ihrem ursprünglichen Sinnzusammenhang herauszukatapultieren?
Ich meine das übrigens nicht im geringsten so provokant wie das jetzt vermutlich klingen mag, sondern sehe darin eine ernstzunehmende musikästhetische Fragestellung.

Um das ganze noch ein wenig zu unterstreichen, poste ich jetzt auch mal einen kleinen Youtube-Link:

The Yellowjackets - Greenhouse

Quasi die gesamte Einleitung basiert auf dem Pedalton Eb. Bis auf eine kleine Ausnahme.
Beginnend bei ca. 0:25 wird er langsam ausgeblendet und bei 0:31 bleibt in den Oberstimmen ein einfacher B-Moll Dreiklang stehen.
Kurz darauf tritt das Eb allerdings wieder hinzu.
Wie wirkt also dieser auf den ersten Blick merkwürdige Akkord? Stört das Eb oder klingt es trotz alledem irgendwie schlüssig?
Erwartet man diesen Ton vielleicht sogar? Wirkt der Akkord am Ende gar tonikal?
Vor allem aber, wie sollte man ihn bezeichnen?
B-/Eb oder vielleicht besser ein B7#9, allerdings ohne Sept, dafür mit Terz im Baß?
Vielleicht aber auch doch nur einfach ein Eb°7, jetzt aber sogar mit zwei Tensions?

Auf deine Meinung wartet gespannt,
Hiatus
 
Zuletzt bearbeitet:
Hallo Cudo,
bin ja noch ein absoluter Frischling hier im Forum ...

und dazu von mir ein nachträgliches herzlich willkommen.

Habe also alles was meine Bibliothek zum Thema hergibt nochmal quergelesen
Leute mit Bibliothek sind mir sympathisch. :)
und mußte feststellen, daß die Meinungen zum Teil doch stark divergieren,
was sich nicht zuletzt auch in den insgesamt vier gänzlich verschiedenen Akkordsymbolen widerspiegelt, die mir dabei begegnet sind.

Könntest Du diese bitte mal auflisten, vielleicht mit Sinnzusammenhang (Funktion) und entsprechendes Literaturbeispiel?

Ich unterscheide prinzipiell 3. Kategorien von °7 Akkorden.
1.) °7 Akkorde die sich halbtonweise nach oben auflösen.
2.) °7 Akkorde die sich haltonweise nach unten auflösen.
3.) °7 Akkorde die sich ohne Grundtonbewegung auflösen.

Standard Beispiel von Letzterem wären z.B. Chega De Saudade, Spring Is Here, How Long Has This Beeing Going On oder auch Moonlight Serenade, wobei bei den beiden letzteren interessanterweise die seltene Kombination V°7 -> V7 vorkommt.

Nun käme natürlich noch diese 4. Kategorie, °7 Akkorde die sich überhaupt nicht auflösen, dazu. Szenario wäre hier ja ein Schlussakkord als I°7. Eventuelle Chordscale wäre GT-HT-Tonleiter.


Die Frage die sich mir dabei unweigerlich stellt, ist natürlich die nach dem Grund der Uneinigkeit.
Kannst Du Quellverweis liefern?

Gerade auch in Bezug auf die Thematik 'eigenständiger Schlußakkord versus unaufgelöster Vorhalt'.
Wo verläuft die Demarkationslinie? Wie viele vermeintliche Akkordneubildungen seit der Blütezeit der Mehrstimmigkeit resultierten daraus,
daß Vorhaltsbildungen plötzlich damit begannen ein Eigenleben zu entwickeln,
sich aus ihrem ursprünglichen Sinnzusammenhang herauszukatapultieren?

Das erinnert mich an Kurt Tucholskys "Der Grundakkord" aus "Tiger, Panther & Co.". 2 Musiker wohnten in einer gemeinsamen Wohnung und der eine spielte spät nachts noch eine große Melodie, hörte aber kurz vor Schluß auf und ging zu Bett. Der Andere, der schon im Bett war, musste natürlich deswegen nochmals aufstehen und den Schlussakkord spielen, nach dem Motto, alles muss zu Ende gebracht werden.

Vielleicht sind Menschen diesbezüglich heute offener und akzeptieren eher einen "offenen" Schluss als damals. Ich glaube mich zu erinnern, Stücke gehört zu haben, die sogar auf der Dominante abschließen. Also ein Halbschluss als Schluss. Sicherlich die Ausnahme.


Um das ganze noch ein wenig zu unterstreichen, poste ich jetzt auch mal einen kleinen Youtube-Link:

The Yellowjackets - Greenhouse

Danke für diesen Link. Das Stück war mir noch nicht bekannt. Ich finde es sehr ansprechend.

Beginnend bei ca. 0:25 wird er langsam ausgeblendet und bei 0:31 bleibt in den Oberstimmen ein einfacher B-Moll Dreiklang stehen.

Hast Du Dir mal überlegt den B- bei 0:31 als Tb9, M3 und Tb13 von Bb7 zu interpretieren? Das würde Sinn machen, denn kurz zuvor wurde ja mit der Dominante hantiert. Dass dann das eb Pedal in diesen Akkord mit rein kommt ist natürlich oberaffengeil. Wow, Ferrante in höchst Form! Oder war das Bob Mintzer, der den Streichersatz schrieb?


PS

Hi S.Franck,

als ehemaliger Schüler von A. Jungbluth hatte ich stets sehr viel von seinem immensen Verständnis und Wissen über Musik profitiert. "Mopsen" würde ich so etwas allerdings nicht nennen, zumal ich beim Schreiben besagter Stelle mein eigen Kram schrieb. Auf welcher Seite von seinen 2 Veröffentlichungen schrieb er denn das?
 
Zuletzt bearbeitet:
Hallo Cudo!

Na dann wollen wir mal:
Also, die drei von dir aufgeführten Verwendungsmöglichkeiten von °7 sind ja klar. In diesem Kontext eben auch die Vorhaltsbildung zu ∆7 bzw. als Pendelakkord über Tonika-Pedal.
Die alles entscheidende Frage ist aber doch die, ob man den von uns diskutierten Akkord immer zwangsläufig als °7 mit T∆7 betrachten muß.
Denn genau da setzen eben die verschiedenen Ansätze an!

1. Sikora definiert den Akkord im herkömmlichen Sinn, die Tension taucht standardgemäß nicht im Akkordsymbol auf.

2. Kurt Maas sieht's in 'Der musikalische Satz' genauso, schreibt aber explizit C°∆7

3. Mark Levine in seinem 'Jazz Theorie Buch' geht einen völlig anderen Weg. Interessanterweise bezeichnet er ihn als C∆7#9#11, schlägt aber als Akkorsymbol B/C vor.
Insgesamt nennt er 3 verschiedene Verwendungsmöglichkeiten, als Skala sieht er aber für alle drei Fälle GTHT vor.
- Substitut von C∆7 mit anschließender Auflösung, ergo als Vorhalt
- Schlußakkord
- Substitut von Molltonika-Akkorden! Als Beispiel bringt er eine Blue Bossa Reharmonisation aus eigener Feder.
(Den gleichen Ansatz habe ich noch in einem zu vernachlässigenden Gitarrenbuch gefunden, dort allerdings als C-∆7b5)

4. Peter O'Mara sieht es in 'A Chordal Concept for Jazz Guitar' (übrigens ein phänomenales Buch!) genauso wie Levine, führt aber noch zusätzlich C°7 an.
Der Akkord wird aber nur im Kapitel Slash-Chords besprochen. Im Gegensatz zu Levine kommen für ihn aber auch noch E Harmonisch Moll bzw. G Harmonisch Dur als Alternativskalen in Frage.
Als Anwendungsbeispiel bringt er u.a. diese Pat Metheny Nummer:

Pat Metheny - Omaha Celebration

Der Akkord taucht insgesamt vier mal auf, wovon er sich dreimal im Quintfall! in einen Dom7b13 weiterbewegt. Also im Grunde genommen als wäre er ein Substitut für m7b5
Das vierte mal dann sogar eine kl. Terz abwärts in einen ∆7#5.
Und das gibt jetzt wirklich nur noch als Slash-Akkord Sinn:
F#/G - G#/E, Dreiklang Sekunde rauf, Baß die Terz runter.

5. und letztens, diesmal bewußt nicht aus der Jazztheorie ;)
Vincent Persichetti in 'Twentieth-Century Harmony' sieht das ganz lax als Durdreiklang mit b9 im Baß, der im Regelfall funktionsfrei, nicht selten als Mixturbildung verwendet wird.
Und sowas findest du bei Stravinsky oder Bartok hinter jeder Ecke. Ein anschauliches Beispiel dazu findest du in 'Petrushka'.

Igor Stravinsky - Petrushka (4. Tableaux)

So um 4:40 rum als Akkord-Ostinato, das im weiteren Verlauf zwar mit unterschiedlichen Baßtönen konfrontiert wird, die ganze Zeit über aber statisch bleibt und sich nicht auflöst.

(Die Set Theory würde das übrigens ganz einfach als {0, 1, 4, 7} Tetrachord bezeichnen, die Forte-Nummer wäre 4-18)


Und nun noch kurz zu den Yellowjackets. Die Nummer ist von Ferrante und Haslip, die phänomenalen Streicher-Arrangements sind aber von Vince Mendoza!
Deine Analyse ergibt natürlich um die Ecke gedacht Sinn, aber so weit könnte ich meinen Cortex gar nicht verbiegen, als daß ich das jemals auch nur annähernd so hören würde.
Allein schon deshalb nicht, weil der vermeintliche B-Moll Dreiklang über den übermäßigen Dreiklang D, F#, A#, allerdings leittönig mit A# im Baß, quasi dominantisch angesteuert wird!
Dieser wiederum ergäbe aber mit dem nachträglichen Eb im Baß einen astreinen Eb-∆7, weshalb es mich dann doch ganz klar in Richtung Definition als Tonika-Akkord zieht.

Food for thought...
Saluti
 
Zuletzt bearbeitet:
3. Mark Levine in seinem 'Jazz Theorie Buch' geht einen völlig anderen Weg. Interessanterweise bezeichnet er ihn als C∆7#9#11, schlägt aber als Akkorsymbol B/C vor.

Da redet der gute Mark dann aber einen ganz schönen Blödsinn.
B/C bedeutet, dass da ein D# drin ist, das deutet aber jedes westlich geschulte Ohr unversehens zur Mollterz Eb um.
Und Grundvoraussetzung für's Funktionieren einer #9 (denn die scheint er ja eigentlich zu wollen) ist die Existenz einer großen Terz. Auch das F# macht die Sachlage nicht besser, bei Akkorden mit b5 (was das umgedeutete F# als Gb ja wäre) tendiert das Gehör ebenfalls dazu, moll zu "denken" (deshalb funktioniert in einem m7b5 Akkord ja auch der Einsatz einer 11 statt der kleinen Terz, was normalerweise bei Mollakkorden mit reiner Quinte nicht wirklich klappt).
B/C kann man folglich auf keine Weise als irgendein C interpretieren, welches *nicht* moll ist.

Gruß
Sascha

P.S.: Cudo, ich weiß nicht mehr, in welchem Band der Herr Jungbluth das so sagt, denke aber im ersten. Die Formulierung "der Schlussakkord erträgt einige Freiheiten" ist jedenfalls damals hängen geblieben.
 
B/C kann man folglich auf keine Weise als irgendein C interpretieren, welches *nicht* moll ist.

Meine Rede! :great:

Als Polychord würde das ganze Sinn machen, allerdings als Slash-Chord ohne Dur-Terz ist die Deutung einfach nur hanebüchen.
Levine leistet sich ohnehin noch so manch anderen Fauxpas in puncto Akkordsymbolik...

Saluti,
Hiatus
 

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