LoboMix
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Hinweise auf historische Hintergründe, Zusammenhänge und Ursprünge können selbstverständlich wertvolle Impulse liefern und verborgene oder verschwiegene Fäden ans Tageslicht bringen, und ich begrüße im allgemeinen Hinweise wie in deinen obigen Posts.... die Geschichte des "vom theoretischen Ballast befreiten Musikanten" ist aber nicht so ideologiefrei, dass ein diesbezüglicher Verweis nicht angebracht wäre. Mit der Theorie-Skepsis unserer Tage verhält es sich eben bisweilen, wie mit dem Heimatfilmen der 1950er Jahre oder dem Muttertag - verstehen kann man seine Weltbilder erst, wenn man historisch zurückblickt. Nicht nur Theorie, sondern auch ihre Rezeption hat eine Geschichte - und wenn das eine Geschichte ist, die manchen Leuten nicht passt, dann ändert das nicht daran, dass sie eben nicht im luftleeren Raum stattfindet .
Ich darf von mir selber sagen, dass ich stets versuche, wach zu bleiben und den "Anfängen" denen man "wehren" sollte entgegen zu treten, und auch Brechts Warnung, "der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch" erlebe ich manchmal als beängstigend aktuell.
Warum aber mein Einwand zu deinem Hinweis auf die Theorie-Feindlichkeit Goebbels in diesem Thread?
Zwei Gründe haben mich bewogen zu meinem Einwand weiter oben:
- Zum einen bringt die Anonymität eines Forums mit sich, dass man selten näheres und persönliches über die Foristen erfährt. Wie könnte man wissen, ob @Daniela Violine, hätte sie im 3. Reich gelebt, naive Mitläuferin des Regimes, überzeugte Parteigängerin oder aufgrund Religionszugehörigkeit, ethnischer Zugehörigkeit, Überzeugungen oder persönlicher Verhältnisse und Lebensumstände vielleicht sogar im KZ gelandet wäre?
Man kann es nicht wissen, und daher hielt ich den Verweis auf Goebbels, den ich als ein in-die-Nähe-rücken zur Mitforistin empfand in diesem Zusammenhang als unangemessen.
Zum anderen ist es gerade ein besonders wohltuendes und erstrebenswertes Merkmal einer freiheitlichen und pluralistischen Gesellschaft wie der unseren (deren Freiheitlichkeit und Pluralismus es unbedingt zu verteidigen gilt!), dass sich in der Musikwelt kreativ Tätige durchaus den Grad und die Tiefe ihres musiktheoretischen Hintergrundes aussuchen können. Ein Standpunkt wie der von @Daniela Violine vertretene ist also völlig legitim, zumal sie erkennbar fern jeder Machtposition ist, dies auch anderen vorzuschreiben.
Der Verweis auf Goebbels wäre dann angebracht, wenn es in unserer Zeit und Gesellschaft erkennbare Tendenzen gäbe, dass es Personen und Institutionen im Kulturbereich, hier insbesondere in der Musik, zu quasi "machthabenden" Stellungen und Positionen bringen würden, die ähnlich wie Goebbels die Kultur bzw. Musik "vom theoretischen Ballast befreien" wollen und dies sogar auf totalitäre Weise durchzusetzen beabsichtigen würden.
Derzeit kann ich aber keine solche Institution erkennen vor der diesbezüglich gewarnt werden müsste. Das erwähnte "Theorie-Bashing" sehe ich nicht in einer "machtvollen" Position, sondern eher als einen ziemlich verstimmt gröhlenden ´Chor´, der zwar laut werden kann, aber nicht wirklich Gehör findet. Wachsam zu bleiben halte ich aber auch für wichtig.
Gibt es irgendwo einen konstruktiven Beitrag, den "Bashing" beibringen könnte? Ich denke nicht, denn Bashing ist vom Grundsatz her nicht zu differenzierten Betrachtungen in der Lage. Daher möchte ich auch keinerlei Beträge zu irgend einer Form des Bashing bringen.Ein gutes Argument zugunsten des allzu populären Therorie-Bashing wäre gewesen, auf die miesen Gestalten zu verweisen, die mit abstrusesten "Theorien" übelste Machenschaften legitimiert haben. So aber gerät die Diskussion lediglich auf ein unappetitliches Gleis und findet ab sofort ohne mich statt.
Gerade Theorien sollten mit einem differenziert-kritischen Blick betrachtet werden. Längst nicht alles, was sich "Theorie" nennt, hat wirklich etwas mit ernst zu nehmenden und anregenden Konstrukten zu tun und manches erreicht nicht einmal das Mindestmaß an geistigem Niveau, ich nenne als Beispiel nur das Stichwort "Verschwörungstheorien".
Auch ´echte´ Theorien sind von unterschiedlicher Tragweite und Bedeutung für ihr Fachgebiet. Auch im Maß der Anfeindungen, die ihnen gelegentlich entgegen gebracht werden, gibt es interessante Unterschiede.
Einsteins Relativitätstheorie darf sicher als höchst respektiert und anerkannt gelten. Das mag ihren vornehmlichen Objekten geschuldet sein, die zwar faszinierend sind, aber im wahrsten Sinne weit weg liegen, nämlich in den unendlichen Weiten des Alls, aber auch ihrer enormen Komplexität, die wohl nur sehr spezialisierte Fachleute zu erfassen in der Lage sind. Die wissenschaftlichen Experimente, die zu ihrem Nachweis unternommen wurden und werden sind ebenfalls sehr komplex und hoch speziell (z.B. die Forschungen im CERN und die Experimente zum Nachweis der Gravitationswellen).
Die Evolutionstheorie hatte und hat es da schon viel schwerer, ficht doch ihre Gedankenwelt die Menschen näher und persönlicher an, wie die (leider zunehmenden) konterkarierenden Bestrebungen der "Kreationisten" in den USA beweisen.
Aber dennoch ist die Evolution Gegenstand sehr umfangreicher und hoch seriöser Forschungen und einer sehr intensiven wissenschaftlichen Annäherung.
Hinzu kommt, dass weder die Relativitätstheorie noch die Evolutionstheorie im Alltag der Menschen eine nennenswerte Rolle spielen und ihre Zeitabläufe in den meisten Aspekten das menschlich überschaubare Maß übersteigen.
Die Musiktheorie hat dagegen nach meinem Dafürhalten einen deutlich schwereren Stand. Das ist naturgemäß ihrem Gegenstand selber geschuldet: der Musik.
Die Musik spricht zwar durchaus auch den Intellekt an (mir geht es so), aber auch und ganz intensiv, meiner Einschätzung und persönlicher ERfahrung nach viel intensiver das Gefühl. Und da wird es unvermeidlich irgendwann diffus und schwer zu packen.
Hinzu kommt, dass es nicht wenige Welthits gab und gibt, deren theoretischer Hintergrund und das theoretische Rüstzeug ihrer Macher als nicht sonderlich komplex bezeichnet werden darf.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich spreche der Musiktheorie in keiner Weise Seriosität ab oder würde auch nur andeutungsweise ihre Bedeutung und Wichtigkeit absprechen oder anzweifeln wollen. Im Gegenteil interessiere ich mich durchaus sehr für viele Aspekte und Themen der Musiktheorie und auch der Musikwissenschaften (wobei ich beides nicht eigentlich studiert habe, jedenfalls nicht im Rahmen eines eigenständigen Studiums neben meinem Musikstudium).
Aber immer wieder stoße ich bald auf die Grenzen des theoretisch erklärbaren - wobei das gewiss mit meiner nur begrenzten Vertiefung in die Theorie zu tun hat, und ganz sicher auch mit meinen begrenzten intellektuellen Fähigkeiten. In jedem Fall steige ich ab einer gewissen Grenze aus, die mir überinterpretiert und über-analysiert erscheint. [Hier sei eingeschoben, @OckhamsRazor, dass ich deine Erläuterungen in Post #31 zum musikethnologischen Betrachtungswinkel und zur "naiven Harmonisation" sehr einleuchtend und hilfreich empfand - wie ich überhaupt gerne deine überaus kompetenten Analysen gerne lese, auch wenn ich nicht allen Wendungen dabei folgen mag bzw. kann.]
Ich erlebe mich immer wieder außerstande, über eine musiktheoretische Annäherung Dinge zu erklären, wie z.B. die faszinierende Wirkung des langsamen Satzes des Klarinettenkonzertes von W.A. Mozart. Die Zeit bleibt regelrecht stehen, alles kommt zur Ruhe, die Wirkung besonders dieses Satzes geht so außerordentlich tief und unter die Haut ...
Dabei ist er gleichzeitig so schlicht und raffiniert gemacht (und dem Solo-Instrument so absolut perfekt auf den Leib geschrieben), und vergleichsweise leicht zu analysieren.
In Worte und Analysen kann ich diese Wirkung kaum bis gar nicht fassen - im letzten bleibt die Musik immer für sich stehen, als ein klangliches Phänomen, das ich spüren, auf mich wirken, mich durchdringen lassen kann.
Als Mensch und Musiker, der immer und noch stets vom Klang tief berührt und bewegt war und ist, als jemand, der sozusagen in Klänge eintauchen möchte, verwundert es mich nicht, dass sich bei mir das Pendel immer wieder mehr in Richtung Praxis geneigt hat und neigt, und im Zweifel weniger in Richtung Theorie. Ich kann es gut nachvollziehen, wenn es andere ähnlich sehen.
Aber wie gesagt, fasziniert und interessiert mich auch die Musiktheorie, die auch mir hilft, mein Verständnis zu vertiefen, den Strukturen auf den Grund zu gehen und ein wenig mehr Ordnung und Übersicht in die ganzen Phänomene zu bringen.
Wenn ich einen 4-stimmmigen Satz im Stile eines Bach-Chorals schreiben möchte, dann könnten mich alleine meine Ohren anleiten, aber wenn ich mich in das Regelwerk dahinter vertiefe, spart es im Allgemeinen einiges an Zeit und Umwegen.
Über den "Tristan-Akkord" wurden unzählige Schriften verfasst, etliche Theoretiker versuchten, ihn zu fassen zu bekommen.
Allerdings hat ein ganz wesentlich an diesem Phänomen Beteiligter nachweislich keine einzige dieser Schriften gelesen: Richard Wagner selber. Er hat hingegen die Oper "Tristan und Isolde" geschrieben.
Es ist manchmal zum Verzweifeln mit der Theorie ... und das Genie spottet jeder Beschreibung.
Das sehe ich auch so, und hoffe nach diesem reichlich langen OT-Post auf gnädige Mods, die an soviel OT keinen Anstoß nehmen.... aber lebt ein Forum nicht auch davon, dass Threads anfangen, zu mäandern und sich gelegentlich in andere Richtungen bewegen?
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