Ist Rock tot?
Nein, sicher nicht. Aber hier und da müffelt er etwas. Eine Einschätzung in 5 Akten:
Legenden, die sich selbst überleben
Egal ob wir über die lustige Rentner-Patchwork-Familie AC/DC, den geldgeilen Ego-Zirkus Guns’N’Roses, die steinalten Stones oder den BMI von Vince Neil reden (immerhin ein interessanteres Thema als eine mögliche neue Mötley Crüe Tour) - die Großen wollen einfach nicht in Würde das Zepter abgeben und demontieren dauerhaft sich selbst und das gesamte Image des Rock'n'Roll. Natürlich wünschen wir keinem Künstler einen Mitgliedsausweis für den Club 27, und natürlich wollen wir alle noch einmal XYZ gerne live sehen, bevor sie nun endgültig aufhören. Doch das Lebensgefühl Rock verkommt mit diesem Zirkus zunehmend zur schrägen, anachronistischen Attraktion, die auf junge Menschen seltsam nostalgisch wirkt und kaum Identifikation bietet. Ich persönlich kann dieses Feeling nachvollziehen. In meiner Jugend zogen die 80er Coverbands durch die Stadt und ich fand dass ähnlich bizarr. Halbglatze, Bierbauch, we salute you!
Keiner braucht mehr den Rock-Rebellen
Ein Rockstar wie Lemmy war für eine Generation, die mit verschiedensten Repressalien aufwuchs, ein bisschen wie ein Erlöser. Er ging für uns alle an die Grenzen, er opferte sich für den Rock'n'Roll und zeigte der ganzen Welt, wie man sich auch mit Ecken und Kanten durchs Leben schlagen kann. Er war ein Dinosaurier, der sich nie anbiederte. Ein Dinosaurier, den aus der heutigen Jugend kaum noch einer versteht. Denn heute braucht es kein Idol mehr, das Grenzen übertritt. Grenzübertritte sind nur einen Klick entfernt, und sie werden dank Private-Browsing nicht einmal mehr gesühnt. Und in einer Welt, in der sich die Jugend per Smartwatch lieber selbst optimiert, anstatt ihr den eigenen Stempel aufzudrücken, ist jemand wie Lemmy nur noch ein kettenrauchender, spielsüchtiger Alkoholiker mit Warze im Gesicht. Der "Rebell" steht heute nicht mehr für ein selbst bestimmtes Leben und Individualität, sondern für Unbelehrbarkeit und Ignoranz. Und er wirkt damit ähnlich ignorant auf junge Leute, wie der Papa, der mit der Motörhead CD die A5 in der Dieselkarre zur Arbeit brettert.
Außen hui, innen pfui
Wer die aktuellen Diskussionen um Klimawandel, Rassismus, Gender und Feminismus ein bisschen verfolgt, der wird bemerken, dass Rock künstlerisch darauf nur wenig zu antworten hat und zum Teil selbst kein gutes historisches Bild abgibt. Rockmusik ist oft konservativer, als sie sein möchte - und ja, der Stereotyp des Rockers ist auch meist nicht annähernd so tolerant, wie vermutet. Hinzu kommt, dass der Zeitgeist eine neue Nachdenklichkeit und Sensibilität zutage fördert, die mit "Girls, Girls, Girls" und Konsorten nicht mehr viel gemein hat. Filme wie "The Dirt" sind kein geiles Rock'n'Roll Artefakt, sondern ein peinliches Beispiel für Werte, die heute höchstens noch der gemeine Proll ernsthaft gut finden kann. Nicht alles altert gut, gerade durch jüngere Augen betrachtet.
The Thrill Is Gone
Die "klassische" Rockmusik ist zu Ende entwickelt und die wirklich neuen Dinge spielen sich nur noch in den Grenzgebieten ab, die für den Mainstream unrentabel sind - dem sollten wir uns bewusst sein. Es gibt jüngere Genres, denen eine ähnliche Entwicklung noch bevorsteht (Techno, Hip Hop), die jedoch vom Zeitgeist noch mehr profitieren als Rock. Gerade Techno und Hip Hop sind zugänglicher für eine Jugend, die alles digital und individuell erlebt. Keine Verstärker müssen geschleppt, keine Kompromisse mit Mitmusikern eingegangen werden. Das Erlernen eines Instruments ist nicht notwendig, Autotune regelt den Gesang, komponieren kann man nachts allein im Bett am Notebook. In Sekunden landet alles aus Youtube, Spotify, Instagram. Diese Art der Kreativität ist eigentlich nur logisch, betrachtet man, wie andere Bereiche des Lebens optimiert werden.
Diversitäten zum Abschluss
Auch ich muss zugeben, dass mich die Neuerscheinungen nur noch selten vom Hocker hauen. Dafür ist meine Sammlung mittlerweile zu groß, und gehört hat man ja auch schon das ein oder andere. Die wirklich interessanten Beiträge finde ich persönlich meist in einer Rocknische oder abseits der Rockmusik.
Beim Thema Radio gebe ich meinen Vorrednern Recht: im Ausland gibt es wesentlich bessere und differenziertere Angebote, die nicht nur den üblichen Dorfdisco-Rock spielen. Als Referenz möchte ich Radio X aus London nennen. Ja, die schalten Werbung, aber britische Werbung ist durchaus unterhaltend... ;-)
Zum Abschluss: Man darf nicht vergessen, dass es in der U-Musik immer einen sich wandelnden Trend gibt. Die letzte Welle der "Rockmusik" im Mainstream habe ich mit Silbermond, Juli, Wir sind Helden und Co. Anfang der
2000er wahrgenommen. Momentan torkelt man meines Wissens irgendwo zwischen Befindlichkeits-Deutschpop, Schlager, Mumble-Rap, und den letzten Lebenszeichen von Tropical House umher. Interessant ist, wie schlecht sich EDM seit dem Corona-Lockdown schlägt.