Bassmenschen, Schlägertypen, Tastenquäler diskutieren ebenfalls über solche Dinge, aber -mein Eindruck- lange nicht derart quasireligiös.
Die Elektroniker tun das schon. Aber nicht hier im Musiker-Board, sondern im sogenannten Nachbarforum™.
Und wen das nicht überzeugt, der möge sich in englischsprachigen Foren umsehen. Vintage Synth, Gearslutz oder – die ganz Extremen – Muff Wiggler. In Jordan Rudess' eigenem Forum tummeln sich auch die Synthnerds, dito in Fanforen von z. B. Genesis und Jean Michel Jarre, wo man besonders die Ganzgenauhinhörer und Exaktheitsfanatiker trifft.
Diese Übernerds sind dann aber nicht deckungsgleich mit den Keyboardern, die bei Rock- und Metalbands in der Ecke stehen oder sitzen und ein bißchen Piano, Hammond oder Streicherflächen spielen.
So Sachen wie Röhre vs. Transe gibt's in Synthesizerkreisen nämlich auch. Analog, diskret, spannungsgesteuert vs. analog, integriert, spannungsgesteuert vs. analog mit DCOs vs. digitale Oszillatoren mit ansonsten analogem Signalweg vs. volldigital, simuliert aber Analogtechnik (virtuell-analog). Oder echt original alt vs. Neuauflage original alter Geräte (vs. Digitalklone original alter Geräte) vs. komplette Neuentwicklungen ohne historische Vorlage. Oder ob der Minimoog der beste Synthesizer aller Zeiten ist oder komplett überbewertet. Sogar die einzelnen Modularformate gegeneinander. 5U (Moog/Dotcom/CotK) ist traditioneller und näher an klassischen Moog Modulars und bietet einfach mehr Platz auf den Faceplates, 3U (Doepfer/Eurorack) kostet weniger, ist kompakter und hat bei weitem die größte Modulauswahl von der größten Anzahl an Herstellern, dann gibt's die Westcoast-Hipsters, die auf Buchla und Serge schwören (woraufhin die Eurorack-Jünger brüllen, daß sie das mit den richtigen Modulen auch alles können)...
Trotzdem lässt es sich nicht leugnen, dass Keyboarder - und gerade Synth-Keyboarder, die vor zehnminütigem Spiel gerne mal zwei Stunden an einem Sound schrauben - insgesamt weitaus nerdiger wirken als ein Gitarrist mit einem noch so großen Effekt-Arsenal.
Das nämlich auch noch. Wenn man sie denn überhaupt wahrnimmt.
Schon unter den Synthesizerspielern in Rockbands gibt es nur wenige, die da wirklich hervor- und die Saitenfraktion ausstechen. Geddy Lee von Rush (der allerdings auch Leadsänger und Bassist ist). Keith Emerson von Emerson, Lake & Palmer. Jordan Rudess von Dream Theater. Möglicherweise Nick Rhodes von Duran Duran, aber auch der darf sich hinterm Leadsänger Simon LeBon einordnen.
Aber es gibt ja nicht nur Bandkeyboarder. Diejenigen Synthfreaks, die nicht in einer Band sind und nur Elektronik machen, toppen die Synthleute in Bands in Sachen Nerdigkeit um Größenordnungen. Ich sage nur Happy Knobbing. (Wer sich darunter nichts vorstellen kann, möge sich auf YouTube informieren. Ja, YouTube.)
In beiden Fällen gibt es höchstens dann den "Will ich auch machen"-Anreiz, wenn man sowieso eine Affinität zu elektronischer Musik und/oder elektronischen Instrumenten hat. Erschwerend kommt hinzu, daß es dem gemeinen Popmusik-Konsumenten wie auch dem typischen Club- oder Ravegänger ziemlich Wumpe ist, wie die Musik gemacht wird. Der Gesang, so vorhanden, ist vielleicht noch interessant, aber das instrumentale Backing soll höchstens zum Tanzen oder Träumen anregen und nicht zum Nachmachen. Noch dazu haftet dem Synthesizer (vom statt dessen verwendeten Laptop oder iPad ganz zu schweigen) etwas Abstraktes und schwer Begreifbares an, während bei einer Gitarre sofort ersichtlich ist, was da passiert.
Ich meine, nimm mal jemanden mit Musikinteresse mit in die Gitarrenabteilung eines Musikgeschäfts und laßt euch da was vorführen. Die Chancen sind gut, daß derjenige denkt: "Boah, geil, das will ich auch!" Nimm ihn statt dessen mit zu
Schneiders Laden nach Berlin oder meinetwegen auf die
Superbooth, auch in Berlin, und dann laßt ihr euch da was vorführen. Da wird derjenige eher denken: "Äh, WTF passiert hier eigentlich gerade, und was hat das mit Musik zu tun?"
Der Einstiegswiderstand ist bei der Gitarre auch geringer. Ich meine, wenn jemand bei uns in den Keyboardbereich kommt (und, wie gesagt, hier im Musiker-Board geht's noch harmlos zu, woanders sitzen die absoluten Nerds) und mit "Keyboard" anfangen will (wahlweise mit "Beats produzieren"), dann wird er innerhalb einiger Posts sich denken: "Ach du heilige Scheiße, das muß ich alles wissen?! Oder was wollen die alle von mir? Ich will doch einfach nur..." Dabei ist das, was sie da zu lesen bekommen haben, gerade mal die Spitze des Eisbergs.
Martman