Ich verstehe nicht, wie ihr diese diatonischen Instrumente im Vergleich zu einem Akkordeon für klein, leicht und billig halten könnt.
Eine Steirische Harmonika ist in der Regel groß und schwer. Auch viele Club-Harmonikas sind groß und schwer. Schottische Dreireiher mit Stradellabass stehen chromatischen Knopfakkordeonen da auch in nichts nach. Steirische Harmonikas und manche italienische Zwei- und Dreireiher kosten mehrere Tausend Euro. Umgekehrt gibt es auch billige chromatische Akkordeone. Ja, da hast du Recht.
Zugegeben, ein Akkordeon von der Stange darf man dann nicht kaufen, die klingen anders als die meisten Diatonischen, weil sie anders klingen sollen. Wenn man aber auf den Bau seines Akkordeons Einfluss nehmen kann, glaube ich nicht, dass man gegenüber einer Diatonischen auch nur einen einzigen Nachteil hat.
Man könnte wahrscheinlich für jedes der drei Videobeispiele, die ich oben angeführt habe, auch ein ungefähr entsprechendes chromatisches Akkordeon bauen lassen. Aber wozu? Es kämen entweder eben doch drei unterschiedliche Instrumente dabei heraus oder ein Universalinstrument mit deutlich weniger individuellem Charakter.
Vielleicht ist das ein bisschen vergleichbar: Im Blues verwenden nur wenige Spiele eine chromatische Mundharmonika. Die meisten benutzen diatonische Mundharmoniken, schleppen häufig ein ganzes Set mit sich herum und mühen sich ab, mit Bendings und Overblows die fehlenden Töne irgendwie zustande zu bringen, die aber doch nie die gleiche Qualität haben wie die fest eingebauten Töne, basteln und pimpen ihre Mundharmoniken mit halber Ventilierung usw. usf. Warum nehmen die denn verflixt nochmal kein chromatisches Instrument? Damit haben sie dann alle bisherigen Möglichkeiten und zusätzlich noch ein ganzes Universum von neuen.
Aber diese Rechnung geht eben nicht auf. Ich habe jahrelang Jazzimprovisation mit chromatischen Mundharmoniken gemacht (weil ich eben gedacht hatte, mit einem chromatischen Instrument habe ich alle Möglichkeiten eines diatonischen + noch viel mehr). Ab und zu kamen da auch mal Bluesstandards vor. Aber du kriegst den echten Klang damit eben kaum hin, auch nicht mit wirklich guten (und teuren) chromatischen Instrumenten. Die Läufe klappen nicht so, die Slurs kriegst du praktisch nicht hin, du hast mit dem Schieber eine technische Schicht zwischen dir und dem Ton, Tongue Blocking funktioniert anders (und schlechter), der Klang stimmt einfach nicht. Also, du kannst mit ner chromatischen Mundharmonika natürlich wirklich gute Musik machen und hast theoretisch viel mehr Möglichkeiten. Aber es klingt immer wie eine chromatische, fast nie wie eine Blues Harp. Und das liegt nicht nur am fehlenden Bending, sondern auch an der anderen Mundhaltung, Atemtechnik usw. Irgendwann habe ich dann, mehr aus Zufall, so eine "Kindermundharmonika" in die Hand genommen und gemerkt: Hopla, das klingt und spielt sich auf einmal viel authentischer, selbst als ich noch keine spezielle Technik dafür kannte. Und übrigens nicht nur Blues, sondern auch ganz billige Polkamusik.
Ähnlich bei den meisten diatonischen Akkordeonen: Da gibt es Passagen, wo du mit dem Balg kräftig rütteln musst, und welche, die du in einem Zug spielen kannst. Manchmal geht der Knopfwechsel mit einem Wechsel der Balgrichtung einher, manchmal sind beide unabhängig voneinander. (Das hat Be-3 ja schon gesagt.) Das sind vom Instrument diktierte Unregelmäßigkeiten oder "Eigenheiten", die aber charakteristisch für den Klang sind. (Das Instrument diktiert sie allerdings nicht völlig willkürlich.) Dann gibt es unterschiedliche Spieltraditionen: In England und Skandinavien bleibt man traditionell tendenziell häufiger auf einer Reihe und hat daher mehr Balgwechsel; in Frankreich und Deutschland spielt man häufiger über die Reihen hinweg, um Balgwechsel zu minimieren. (Das führt nach meiner Überzeugung, nebenbei gesagt, auch dazu, dass in Frankreich und Deutschland Instrumente mit mehr als zwei Reihen dominieren, weil man eben 1. alle Tonfolgen ohne Balgwechsel spielen will und 2. die Beschränkung auf ganz wenige Tonarten umgehen will. Damit werden die Unterschiede zu den chromatischen Akkordeonen deutlich geringer und der Wechsel auf chromatische drängt sich mehr und mehr auf, was etwa in Deutschland dazu geführt hat, dass neue Spieler praktisch immer gleich mit dem chromatischen Akkordeon beginnen, Ausnahme: die spezielle Musik der Steirischen Harmonikas, aber davon verstehe ich nichts.) Ein bisschen ähnlich ist es bei Tex-Mex-Musik: Die spielen ihre diatonischen Dreireiher fast ausschließlich auf Zug, könnten also wahrscheinlich auch relativ leicht auf chromatische Instrumente wechseln. (Aber warum sollten sie?)
Für die Musik, die ich auf der diatonischen Quetsche spiele, ist die diatonische Quetsche das genau passende Instrument. Jedes andere wäre nur Ersatz. Wenn ich feststelle, dass mir dieser Klang gefällt und ich solche Musik spielen will, dann lege ich das chromatische Instrument in den Schrank und lerne statt dessen das diatonische. Genauso wie ich es bei der Mundharmonika gemacht habe. Sollte ich eines Tages feststellen, dass ich wieder Jazz spielen will, dann werde ich das dazu passende Instrument nehmen. Es gibt eben nicht die eierlegende Wollmilchsau. Selbst die Kirchenorgel, die ja nun wirklich fast alle theoretischen Möglichkeiten bietet, ist kein solches Universalinstrument; denn ich kann darauf nicht ein einziges der oben angeführten Videobeispiele interpretieren. Ich kann nicht mal Mozart auf einer Orgel spielen; denn das klingt dann immer sofort wie Jahrmarktsorgel. Habe ich ausprobiert.
Wie willst du denn z. B. Cajunmusik mit einem chromatischen Akkordeon hinkriegen? Ich kann mir nicht vorstellen, wie das gehen soll. Die akkadische Musik bestand ursprünglich vor allem aus Fidelstücken. Der Einreiher (und zwar gerade in der dort üblichen vierchörigen Version) passt sich in die typisch "schmierende" Spielweise der Fideln ein (und prägt das Klangbild seinerseits durch seinen Schnarrbass). Ein chromatisches Akkordeon verändert die Spielweise und damit den Klang per se. Ich habe mich lange bemüht, zwei vergleichbare Stücke zu finden, eins mit Einreiher, eins mit chromatischem Akkordeon. Das ideale Vergleichsstück habe ich nicht gefunden, aber vielleicht gibt das hier so ungefähr einen Eindruck, was ich meine:
Hier ein Beispiel, wie Zydeco mit einem Pianoakkordeon klingt: