Schönen guten Tag zusammen,
ich habe seit einigen Monaten das Viscount Legend 70s Artist W EX in der großen Version, also quasi "The full monty". Bin recht ambitioniert am Klavier und hatte zuvor das Clavia Nord Piano 88 in der ersten Fassung, also auch schon ein etwas älteres Schätzchen, bei dem ich die AC-Pianosound sehr schätzte, die Rhodes-Sounds okay fand und das Wurlitzer so naja.
Das Viscount Legend war ein spontaner Impulskauf online bei Thomann. Ich fand, es sah einfach geil aus und ich musste mich für eine Sprunggelenksverletzung belohnen, die mich monatelange ans Heim fesselte.
Auspacken: Glänzende Augen! Geile Optik, sehr gute Verarbeitung, toller modularer Aufbau.
Anspielen: Ganz ehrlich, als ich die Preset-Sounds durchging, wären mir vor Enttäuschung fast die Tränen gekommen. Ich war kurz davor, das Ding wieder einzupacken und zurückzuschicken. Ich hab's dann doch nicht getan, denn ich habe eine weise Frau ("Schau es dir doch erst mal ein paar Tage an") und ich hatte viel Zeit
Mein Fazit nach einigen Monaten: Ich habe es behalten und werde es auch behalten. Der Reihe nach:
1. Vergesst die Werkssounds / Presets. Die sind alle auf Effekt gezüchtet, komplett mit Effekten zugeballert, klingen alle furchtbar, einer schlimmer als der andere.
2. Die AC-Piano-Sounds sind leider indiskutabel schlecht. Ich kann fast nicht glauben, WIE schlecht sie sind. Mein >10 Jahre älteres Clavia Nord Piano klang und klingt besser. Hier hoffe ich tatsächlich noch auf ein Software-Update und nerve den Hersteller regelmäßig damit. Erste Hilfe bietet das Herunterladen der überarbeiteten Pianos auf der Viscount-Homepage, da sind zwei einigermaßen brauchbare dabei, die man dann noch mit der richtigen Einstellung von Brillianz/Dynamik soweit biegen kann, dass man ohne ganz große Schmerzen klassisch Klavier üben kann.
3. Die Vintage-Sektion (Wurli, Rhodes, Yamaha CP80) KANN richtig, richtig geil klingen, WENN man sich einmalig die Arbeit macht, das Notebook per USB ranzuhängen und über die Viscount-Software in die Profi-Einstellungen zu gehen. Hier kann man nämlich richtig coole Sachen machen: Eine Eigenverstimmung über die Tastatur spreizen, sehr feinfühlig das (virtuelle) Zusammenspiel aus Hammer / Klangzunge / Tonabnehmer feinjustieren, den berüchtigten "Bark" hinzufügen etc.. Nach nur 10 Minuten hatte ich alle Rhodes/Wurli-Sounds meinem persönlichen Geschmack angepasst, als neue Presets abgespeichert - und seitdem bin ich mit dieser Sektion ÜBERGLÜCKLICH.
4. Überraschend gut sind die Sounds der Allgemein-Sektion, also von Streichern über Bläser bis hin zu Bass, Gitarren, Orgeln (inklusive Sakralregistrierungen). Hier kann man - gerade beim Einsatz als Top-40-Keyboarder im Prinzip alle anderen Klangerzeuger zuhause lassen, das ist ein sehr brauchbarer und praxisnaher Mix, bei dem mich sogar die Leslie-Simulation einigermaßen überzeugt hat (wenn auch diesbezüglich für mich die Hammond SK1 weiterhin die Benchmark der Tonewheel-Simulationen darstellt).
5. Die Effekte hätte ich mir angesichts der Preisklasse auch höherwertig gewünscht. Auch hier sorgen die Standardeinstellung für ziemlich nassen, billigen Sound, insbesondere beim Reverb. Man kann allerdings auch hier reichlich feintunen - wer das tut, der wird mit sauber klingenden Effektsounds belohnt. Direkt aus'm Karton hingegen klingen die Werkseinstellung wenig besser als ein Alesis Midiverb von 1890.
Kurz und grün: Wer akustisch Klavier spielen will, wird mit dem Gerät eine herbe Enttäuschung erleben. Wer hingegen einen Schwerpunkt auf elektroakustischem Vintage-Zeug hat, der kann mit etwas Eigenarbeit wirklich herausragende Sounds kreieren. Was dann noch hilft, ist die sehr flexible Verwaltung drumherum (Split-Funktionen etc.)
Ach ja: Haben noch mehr Leute hier Erfahrungen gemacht? Würde ich gerne lesen. Schreibt!