Verständnisfrage zum Solo von MMW-Sexy

Beitrag #19 (Klaus), schöne Analyse
Danke für das Kompliment!

Ich denke man gewinnt mitunter bedeutendere Erkenntnisse, wenn man ein Stück ganz genau unter die Lupe nimmt, als wie wenn man viele Stücke nur oberflächlich betrachtet.

Zur "komplexen Funktionsharmonik", der "Überraschung" im Refrain und dem früheren Thread Harmonik in der Rockmusik:

Die Funktionstheorie wurde geschaffen, um die Musik des 18. und 19.Jahrhunderts zu erklären. Diese Musik ist stark von Leittönen und der Dominant-Tonika-Spannung geprägt. Das Modell ist so erfolgreich, daß auch heute noch viel Musik nach diesen Prinzipien funktioniert. In der Ernsten Musik spielte dieses Modell ironischerweise gerade dann keine bedeutende Rolle mehr, als die Funktionstheorie entwickelt war. Komponisten wie Debussy, Bartok, Strawinsky, Schönberg, Messiaen u.a. empfanden die Funktionsharmonik als zu beengend. Sie suchten und fanden Auswege - auch durch Verwendung modaler Elemente. Eine ähnliches Bedürfnis tauchte später im Jazz auf, als die Musiker sich von einer funktionsharmonischen Enge befreiten und den modalen Jazz erfanden. (die frühe Entwicklungsgshichte in diesem Post.)

In der Populären Musik zeigte sich später ebenfalls ein Trend weg von der strengen Funktionsharmonik. Als wohl wichtigster Ausgangspunkt für den Wandel wäre der Blues zu sehen. Der Leitton fehlt und plagale Verbindungen werden aufgewertet (V-IV-I statt IV-V-I), ja sogar die strenge Trennung von Dur und Moll wird aufgehoben, was völlig neue Wirkungen ermöglicht.

Dies alles können wir auch im vorliegenden Stück beobachten.

Ob die Funktionstheorie wirklich die erste Wahl zur Erklärung dieser Musik ist, kann bezweifelt werden. Das Stück kann ja nicht einmal als sonderlich akkordbasiert angesehen werden, denn Powerchords sind ja eigentlich keine Akkorde.

Rock ... beruht auf Gegenklängen...

Jedenfalls ein großer Teil der Rock- und Popmusik. Die Zuwendung zu den "Nebenfunktionen" schwächt natürlich die strenge Funktionsharmonik, wie man sich das heute im Sinne einer größeren Offenheit wünscht. Und auch die stärkere Hinwendung zu Moll, jetzt auch gerne ohne die Dominante (Leitton), geht in die gleiche Richtung.

Man sollte von der Theorie her mehr die modalen Kadenzen in den Focus rücken.

Etwas überraschend aber im Refrain: bVI bVII IV. (Ich hätte mit Schluss auf der I gerechnet).

Klar ich ebenfalls - aufgrund der Hörgewohnheiten. Doch so geht es auch. Bemerkenswert ist, daß wir auf der IV landen. Die IV spielt im Stück überhaupt eine größere Rolle: Man denke an das Gitarrensolo, daß auf der IV basiert.
Irgenwie plausibel, daß sich die funktionsharmonische strengere klassischen Sonate so entwickelt hatte, daß der der Seitensatz i.d.R. gerade in der Dominanttonart stand:

Der Seitensatz, der oft (wenn auch nicht immer) ein weiteres Thema (Seitenthema) - manchmal sogar mehrere - enthält, steht in einer anderen Tonart als der Hauptsatz. Bei Hauptthemen in Dur steht der Seitensatz meist in der quinthöheren Dur-Tonart, mit dem Begriff der Funktionstheorie auch Dominant-Tonart genannt.
http://de.wikipedia.org/wiki/Sonatensatzform

Damals standen die Zeichen eher auf Eindeutigkeit und Schlusskraft der V.

Nun stehen die Zeichen eher auf der IV und Offenheit. Von daher erscheint die Folge im Refrain bVI bVII IV ( bzw. |Bb(no3)|C(no3)|G(no3)|G(no3)|) nicht mehr so überraschend.

Die Rückführung in der Bridge zur I erfolgt ganz einfach im Sekundgang IV III II I (konkret: |G(no3)|F(no3)|E(no3)|D(no3)|).
Sekundgänge sind schon in der modalen Musik der Renaissance beliebt gewesen, allerdings nur drei Schritte in der gleichen Richtung.
Sekundgänge mit vier Akkorden treten auch in der populären Musik immer wieder auf:

abwärts: Andalusische Kadenz in vielen Songs
aufwärts. z.B. Bob Dylan: Like a Rolling Stone

Insgesamt haben sich harmonische Offenheit/vielfältigkeit durchgesetzt auf Kosten einer, nahezu gesetzmäßigen Eindeutigkeit. Solange es nicht völlig beliebig dahinplätschert oder gar aleatorisch wird, soll es mir Recht sein.
Sehr wirkungsvoll kann es sein, beide Antipoden in einem Song zu verbinden. Das wird tendeziell ja auch genutzt, z.B. um in Strophe und Refrain stimmungsmäßig abzugrenzen.

Viele Grüße
Klaus
 
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Zitat von RMACD Beitrag anzeigen
Beitrag #19 (Klaus), schöne Analyse

Dem kann ich mich nur im vollen Umfange anschließen!

................Ich denke man gewinnt mitunter bedeutendere Erkenntnisse, wenn man ein Stück ganz genau unter die Lupe nimmt, als wie wenn man viele Stücke nur oberflächlich betrachtet.............
.
Viele Grüße
Klaus

Seh ich wohl auch so.
Ich bin mir nur nicht im Klaren darüber, ob das ohne gewisse Grundlagen immer so machbar ist, zumindest in der schönen und klaren Struktur, wie du es im Beitrag 19 getan hast.

Bzw die einzelnen Punkte, die du da gegliedert hast, hab ich mir mal als Grundgerüst rausgeschrieben und versuche mal damit andere Songs zu analysieren.
Einiges an theoretischen Grundlagen hab ich mir ja angelesen, aber - dann in der Praxis - das anzuwenden, da haperts dann doch kolossal.
Zu diesem Thema auch eine PN an dich.

Und - btw - ob speziell jetzt dieser Song oder das Thema ansich, scheint sich großer Beliebtheit bzw Interesse zu erfreuen - siehe die Hits in der Kürze der Zeit.
Freut mich ganz besonders.:great:
 
Hallo,
da möchte ich kurz nachhaken:

Einiges an theoretischen Grundlagen hab ich mir ja angelesen, aber - dann in der Praxis - das anzuwenden, da haperts dann doch kolossal.

Was meinst Du mit "in der Praxis anwenden"? Falls es Dir um's Musikmachen geht, dann denke ich ist das der falsche Weg sich Songs wie diesen anzunähern. Ich bin mir als naiver Mensch relativ sicher, dass der Gitarrist auf der Aufnahme beim Solo sich wenig bis keine Gedanken um Musiktheorie gemacht hat, sondern einfach ein fetziges Blues bzw. R'n'R Solo über den G basierten Teil gespielt hat.

Gruß

PS: Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich will auf keinen Fall sagen, dass Theorie unnötig oder nutzlos ist!
 
Hallo,
da möchte ich kurz nachhaken:
Was meinst Du mit "in der Praxis anwenden"?

Beides!
Zum Einen meine ich mit "in der Praxis anwenden", das harmonische zu analysieren (das muß man praktisch realisieren können, auch wenns Theorie ist)
und zum Anderen das dann in Musik realisieren.

Die andere Vorgehensweise - sich etwas anhören und dann einfaches was geiles dazu spielen - ist ein anderer Weg, klar.
So hab ichs ja auch gemacht. Aber speziell bei Sexy hats mich jetzt mal einfach interessiert, wie's zustande kommt.
Und wie man sieht, kann/wird ja viel interessantes da rein interpretiert. Und darum ging es mir.

Und nein, ich glaube auch nicht, das sich bei dieser oder irgendeiner anderen Aufnahme von dem Song wer einen Kopf darüber gemacht hat.
Und das gilt wohl für viele andere Songs genauso. Da bin ich ganz bei dir.
 

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