Der "normale" klassische Komponist hat (und hatte auch schon vor Jahrhunderten) zwar idR. ein Klavier in seinem Arbeitszimmer, damit er bei spezielleren Situationen sich das auch tatsächlich vor Ohren führen kann was er gerade erdenkt, aber prinzipiell schreibt so jemand an Musikstücken wie unsereins an MB-Beiträgen, ohne suchen und probieren
Lieber
@Palm Muter, in einigen Details möchte ich doch etwas widersprechen bzw. etwas ergänzen.
Die Fähigkeit, ohne akustisches Feedback, z.B. durch Probieren und Anspielen an einem Klavier, im Extremfall komplett rein aus dem Kopf zu komponieren war und ist keineswegs der Normalfall bei Komponisten quer durch die Jahrhunderte.
Für das Komponieren
vollständig aus dem Kopf heraus, also für das reine Niederschreiben der schon im Kopf
komplett ausgearbeiteten Komposition kenne ich zwei herausragende Beispiele, bei denen es nachgewiesenermaßen
nur so stattfand: W.A. Mozart und Hector Berlioz - letzterer konnte gar nicht mehr als nur ein wenig Flöte spielen, Klavier beherrschte er nicht. J.S. Bach konnte sicher auch im Kopf fertig komponieren. Beethoven musste es später so machen, als er praktisch taub wurde, worunter er aber extrem gelitten hat.
Sicher gab und gibt es nicht wenige, die zumindest Skizzen und Teile von Kompositionen, sicher auch ganze Werke ohne weitere Hilfsmittel zu Papier bringen konnten und können, aber von den meisten ist bekannt, dass sie sich vieles am Klavier selber vorspielten und eben: ausprobierten, ob die gefundene Idee auch wirklich "funktioniert".
Skizzenbücher, sofern erhalten, und verworfene Sätze und Abschnitte, die neu gefasst wurden, sind eine besondere Fundgrube für die Musikwissenschaft, weil so der Werdegang einer Komposition nachvollziehbar wird.
Gerade von Beethoven ist bekannt, dass er immer wieder Teile von Sätzen oder sogar ganze Sätze nach der Uraufführung des Werks umgearbeitet hat, weil er mit dem Ergebnis nach dem Hören des Gesamteindrucks nicht mehr zufrieden war.
Es gab sicher mehr "Ausprobieren" in der Musikgeschichte, als fertige Niederschriften ohne solcherart akustischer Vorab-Kontrolle.
Gerade Klassik dazu als Beispiel anzuführen ist doch weltfremd. Das, was dem am ehesten entspricht war etwa zur Zeiten der Wiener Klassik das sog. "Fantasieren am Klavier", was aber eben nicht die normale Form des Schaffensprozesses war, sondern der Ausdruck absoluter Genialität verstanden und eben mit Giganten dieser Musik wie Mozart, Beethoven oder Chopin verbunden wurde.
Auch hier ein Widerspruch. Bis etwa in die Zeit der Wiener Klassik hinein war im Gegenteil eher die
normale Form eines Schaffensprozesses, sich über das Fantasieren und Improvisieren dem kompositorischen Prozess zu nähern und aus dieser Quelle für das Komponieren zu schöpfen.
Bach und seine Zeitgenossen, Mozart, Beethoven, Haydn, später auch Chopin und viele andere, waren begnadete Improvisatoren auf ihrem Instrument (hier in der Regel Tasten). Sicher waren die "ganz Großen" auch hierin weit über dem Durchschnitt angesiedelt, aber der mehr ausübende, sozusagen "Noten fressende" reine Interpret, der sich penibel an den Text zu halten hat und nichts drumherum, ist mehr oder weniger ein Erbe der 19. Jahrhunderts.
Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts war es sogar noch bei Orchestermusikern (!) noch üblich, Solo-Melodien in den Stimmen mit improvisierten Umspielungen, "Figurationen" anzureichern - heute vollkommen unvorstellbar. In Berlioz Autobiographie kann man nachlesen, wie er diese nunmehr als Unsitte verpönte Tradition den Orchestermusikern bei Dirigaten eigener Werke regelrecht ausgetrieben hat.
Zu Bachs Zeiten musste jeder Dorfschullehrer, der in den kleineren Dörfern üblicherweise zu den Messen den Orgeldienst zu verrichten hatte, in der Lage sein, nicht nur Choralmelodien an der Orgel ad hoc harmonisch korrekt aus der Melodie heraus auszusetzen (wie es natürlich sowieso damals schon und immer noch jeder professionelle Organist lernt). Sondern er musste auch ein Choralvorspiel improvisieren können. Nicht zwingend auf dem Niveau von Bach, aber klingen musste es.
Klar ist es in irgendeiner Form immer "Auslegung von bereits Vorhandenem"
Echte Innovation ist wohl tatsächlich eher die Domäne der "Großen" und natürlich der "Genies".
Aber auch unterhalb dieses besonders hohen Anspruchs gibt es durch "Auslegung von bereits Vorhandenem" genug Spielräume für Qualität und hörenswerte, gehaltvolle Improvisationen.
Nicht wenige Profis (Jazz/Rock/Pop) greifen auf lange eingeübte Patterns zurück, vor allem, wenn sie einen Abend haben, wo sie nicht zu 100% drauf sind.
Habe ich selber mal live erlebt bei Klaus Doldinger und Passport, die am Abend des Tages, wo sie von einer Tournee durch Südafrika zurück nach Deutschland kamen, auf einem (kleineren) Jazz-Festival auftraten. Eigentlich waren die "platt", da haben die mit und von ihrer Routine gespielt. Das war immer noch gut - waren ja tolle Profis, aber der Kenner war doch ein wenig enttäuscht, der kannte sie besser.
und nicht einfach nur auf auswendig gelernten Griffpositionen zur entsprechenden Tonart oder Akkordprogression herumnudelt.
Herumnudeln ist natürlich unteres Niveau, und damit wird keiner auf Dauer Säle füllen. Wer aber zu Hause oder im Freundeskreis Spaß daran und damit hat, dem sei das doch unbenommen.
Außerdem kann ich dir gleich Dutzendweise komplett "fertige" Kompositionen nennen von virtuosen Konzerten aus der Klassik und Romantik, wo derart platt auf Dreiklangsorgien herumgenudelt wird, das einem schlecht wird (mir jedenfalls). Ist dann auch kein Gewinn, dass dieses Gewusele sorgfältig niedergeschrieben wurde.