Vorausgestellt sei nochmal, dass mir vollkommen klar ist, dass die Thematik "Benennung des Dominantseptakkords ohne Dominantfunktion" musikpraktisch keine Relevanz hat.
Nachdem Diether de la Motte "funktionsfreie Dominantseptakkorde" vor bald 50 Jahren als solche bereits im Werk von Schumann gefunden und benannt hat, ist der Sachverhalt musiktheoretisch eindeutig beschrieben.
Gefunden haben sie ganz sicher zahllose Komponisten und Interpreten vor ihm, ich glaube, wir würden Brahms und Co. Unrecht tun, wenn wir ihnen unterstellen, das nicht bemerkt zu haben.
Auch Diether de la Motte ist ja offensichtlich das Problem aufgefallen, dass der Dur-Septakkord allgemein als "Dominantseptakkord" bezeichnet wurde, es aber ab Schumann eben manchmal kein Dominantakkord mehr ist. In der Wissenschaft muss man in solchen Momenten entscheiden, ob man bei dem nicht ganz korrekten Begriff bleibt oder es anders beschreibt. Er hat sich dann dafür entschieden, die Funktionsbezeichnung "Dominante" zu belassen und "ohne Dominantfunktion" davorzuschreiben. Ganz sicher hatte er seine Gründe dafür.
Aus praktischer Sicht geht das wie gesagt auch völlig in Ordnung. Es ist halt keine exakte Beschreibung und auch keine sprachliche schöne. Ein Dominantakkord ohne Dominantfunktion klingt für mich halt wie eine Gewindestange ohne Gewinde, sprachlich unschön, und es gäbe einen einfacheren und zutreffenden Begriff. Aber das ist ja bei vielen Dingen so, die einen eingeführten Namen haben, der inzwischen nicht mehr für alle Fälle zutrifft.
Dass ein Schraubenzieher keine Schrauben zieht und ein Zollstock bei uns keine Zollmarkierung hat, ändert ja auch nichts an der eingeführten Bezeichnung, und jeder weiß, was gemeint ist.
Analog zur obigen Bezeichnung wäre das vielleicht ein "Zollstock mit Zentimetermarkierung" oder ein "Schraubenzieher mit Drehfunktion", ein "Tempotaschentuch nicht von Tempo" ...
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Was mir auch noch in den Sinn kommt, ist Tucholskys berühmter Spruch
“Laß dir von keinem Fachmann imponieren, der dir erzählt: „Lieber Freund, das mache ich schon seit zwanzig Jahren so!“—Man kann eine Sache auch zwanzig Jahre lang falsch machen.”
Aber wir wissen ja, dass es hier kein falsch und richtig gibt, also trifft der hier selbstverständlich nicht den Kern der Sache.
"There are two different types of dominant chords in the world. Type I is the type that does not resolve down a fifth.
All the dominants that don't resolve down a fifth, that's simply, they belong to this category."
Ich nehme an, Type II ist dann "it resolves down a fifth"?
Diese etwas hemdsärmlige Einteilung ist ja aber ganz anders gedacht.
Sie versucht es eher nach der Funktion einzuteilen - also wie der Akkord sich
auflöst. Ein Akkord an sich ließe sich danach gar nicht in Type I oder Type II einteilen, weil Du nicht weißt, ob der Bass sich eine Quinte nach unten auflöst oder nicht.
Allerdings teilt sie damit Trugschluss und Tritonussubstitution - die ja eine Dominantwirkung haben - gemeinsam mit den nicht funktionellen Durseptakkorden in Type I ein.