Nach ca. drei Tagen Dauerbeschallung bin ich zu einem vorläufigen Urteil gekommen, und es interessiert mich, wer von euch das neue Album wie erlebt hat. Vielleicht geht's ja jemandem so wie mir... Mein Eindruck bislang:
Der erste Durchlauf hat mich nach drei Liedern herb enttäuscht. Deutschland, Radio und Zeig Dich sind Über-Hits, die mich sofort abgeholt haben und die ich auch nach zehn Runden noch am besten finde, aber danach sind nur Grower auf dem Album, die sich mir erschreckenderweise zunächst als Ausfälle präsentierten. Zum Glück wusste ich dank der vorab vorgestellten Snippets, dass sich doch tolle Riffs und Melodien auf dem Album verstecken, deshalb habe ich einen Tag Pause eingelegt und mir Rammstein danach mehrmals hintereinander angehört.
Mittlerweile sind Ausländer, Puppe und Weit Weg zu meinen Zweit-Favoriten aufgestiegen, Diamant und Hallomann sind ganz gut, Was Ich Liebe ist von der Musik her cool, hat aber einen Text, den ich schon als Pussy-Demo recht schwach fand. Sex hat zwar einen nett abgehangenen Groove und einen schönen Aufbau, aber das hintergründig-doppelbödige Eklige im Strophentext wird im Musikantenstadl-Chorus völlig konterkariert (Lindemanns plattes Solo-Debüt lässt grüßen), und Tattoo... Maaann, was hat Herr Lindemann da für eine Chance vertan! Musikalisch kommt Tattoo auf meiner Skala gleich auf dem zweiten Platz hinter Zeig Dich, aber der Text... Abgesehen vom wenig spektakulären Sujet an sich stört mich, dass das Geschreibsel sich nicht entscheiden kann, ob es Loblied oder Kritik oder stumpfe Beschreibung sein will - lediglich der ruhige Zwischenpart bringt ein bisschen Witz rein, reißt aber den schwachen Gesamteindruck nicht raus. Der Song hätte meiner Meinung nach einen weitaus dramatischeren und mehrschichtigen Text verdient.
Man merkt's im letzten Absatz schon deutlich: Die Texte und auch einen guten Teil des Gesangs halte ich für die Schwachpunkte des Albums. Langsam wissen alle, dass Till ein Faible für Haut hat und alles, was sich drauf reimt - ebenso fürs Gesicht, für die Dualität Hass-Liebe und für die Sonn-ne. Das nervt mich sehr, vor allem, weil die neue Platte musikalisch sowohl frisch ist als auch eine Rückbesinnung auf die ersten drei Scheiben andeutet und gleichzeitig das damals ohnehin schon verbesserte Songwriting von Reise, Reise und Liebe Ist Für Alle Da noch eine Stufe höher bringt. Alle Musiker haben eine Schippe draufgelegt; Richard und Paul haben ihre kraftvollen Riffs fettfrei getrimmt, Olli hat sich wieder ein paar schöne eigenständige Bassläufe abgezwackt, Flake mixt weiterhin fröhlich alte und neue Synth-Sounds zu einem eindringlichen, aber nie aufdringlichen Klangbild zusammen, Schneider vereint gekonnt fast schnörkelloses Getrommel mit geschmackvollen Akzenten und Variationen, und alle zusammen haben die Songs wirkungsvoll arrangiert und mit einer gehörigen Portion gelungener Referenzen ausgestattet. Nur Till wirkt von dieser Weiterentwicklung völlig abgehängt, intoniert die ruhigen Parts immer noch mit seiner aufgesetzten und von den vorigen Alben sattsam bekannten Märchenonkelstimme und drückt gerade mal ein paar Refrains und Parts einen eigenen Stempel auf. Da wäre mehr zu holen gewesen.
Insgesamt mag ich das neue Album sehr, insbesondere weil ich nach dem Kracher LIFAD schon einen Rückfall in grausige Rosenrot-Untugenden befürchtet hatte - lahme Riffs, müdes Songwriting und noch mehr pseudo-dramatische "Reim-dich-oder-ich-box-dich"-Texte. Sollte noch eine weitere Platte kommen, würde ich mich aber sehr über mehr Mut und neue Reime in den Texten freuen.
Wie findet ihr das Album? Könnt ihr meine Kritik nachvollziehen oder schüttelt ihr mit dem Kopf?
Liebe Grüße!
André