Darüber hinaus finde ich es seltsam, von Festivals zu hören, wo an Stelle einer Band, die Hand gemachte Musik anbietet, ein DJ auf der Bühne steht, der einen USB-Stick aus der Tasche zieht, Kopfhörer aufsetzt und dem Publikum zuwinkt. So sieht sowas aus:
Es geht uns doch eindeutig was verloren, wenn etwas, das über Jahrtausende kultiviert wurde - das Erlernen
und Spielen von echten Musikinstrumenten - weniger Anerkennung findet und vom Publikum auch
nicht mehr vorausgesetzt wird. Dass Festivals, wo kein einziger Live Gig stattfindet, 6-stellig Besucher anlocken.
Das ist letztlich das, was seit Ende der 80er Jahre aus elektronischer Musik gemacht wurde.
Zugegeben, es gibt wirklich nur wenige elektronische Acts, die je weitgehend oder komplett live und handgespielt aufgetreten sind, wo also wirklich jede Note, jeder Drum- oder Percussionschlag und jeder letzte Klangeffekt von Menschenhand ausgelöst wurde. Kraftwerk taten das ab 1974 eine Zeitlang, aber dann haben sie den maschinenhaften Charakter von Sequencern kennen- und lieben gelernt. Jean Michel Jarre hatte bei seinen China-Konzerten im Oktober 1981 und bei den Tourneen 2008 bis 2011 fast komplett handgespielte Musik – aber gewisse Drumfiguren und gewisse Ostinato-Parts müssen auch bei ihm zwingend von einem Sequencer kommen, weil Menschen diese gar nicht mit der notwendigen Gleichförmigkeit und Präzision spielen können oder diese Parts überhaupt nicht für Menschen spielbar sind.
Die wenigen verbliebenen Elektroniker, die tatsächlich noch ihre Hände auf Klaviaturen legen, um darauf händisch und in Echtzeit zu musizieren (statt damit Sequenzen zu triggern, on-the-fly zu programmieren oder zu transponieren), sind überwiegend Solisten. Die können gar nicht alles gleichzeitig per Hand spielen und sind auf Maschinenhilfe angewiesen. Zahlreicher sind die, die sich auf die Berliner Schule (Tangerine Dream, Klaus Schulze et al.) berufen, zwar mit Hardware auftreten, aber das Spielen einem oder mehreren Stepsequencern überlassen, derweil sie selbst an den Sounds und den Sequenzen herumdrehen.
Aber die, die heute Teenager oder Anfang 20 sind, die kennen auch das alles nicht mehr. Für die ist es unvorstellbar, daß elektronische Musik auch nur teilweise händisch spielbar ist – sie kennen es nur, daß die in FL Studio zusammengeklickt wird. Für die ist es auch unvorstellbar, daß es elektronische Musikinstrumente gibt – sie kennen nur Software, und sollten sie jemals von Hardwaresynthesizern hören, werden sie davon ausgehen, daß das von vorgestern ist und niemand mehr so etwas benutzt, weil hoffnungslos veraltet.
Dieser Generation kann man mit händisch gespielter Elektronik eh nicht mehr kommen. Seit 30 Jahren wird die elektronische Musik dominiert von solcher, die zu 100% vom Sequencer gespielt wird. Perfektes Timing im Nanosekundenbereich und Intonationsgleichheit auf Maschinenniveau – keine Kunst, wird es doch von Maschinen gemacht. All das wird heutzutage erwartet. Deswegen verstehen sich diejenigen, die elektronische Musik produzieren, heutzutage auch längst nicht mehr als Musiker, sondern als DJs und treten auch als solche auf. Von denen wird auch erwartet, daß sich ihre Performances anhören wie Radio, CD oder Spotify, also wie Studioproduktion. Die machen sich nicht mal mehr die Mühe, onstage ihre DAW-Projekte abzufahren oder sie gar auf Ableton Live umzubauen, damit es spannender wird, sondern sie fahren die fertig gemixten und gemasterten Releases ab.
So ist es kein Wunder, daß elektronische Musik bis heute nicht richtig ernstgenommen wird. Die meisten wirklich Musikinteressierten haben mit elektronischer Musik nichts am Hut. Für die sind elektronische Instrumente keine Musikinstrumente. Da werden die Klänge ja nicht erzeugt mit mechanischen Schwingungen, die direkt durch die Muskelkraft des Musikers angeregt werden. Und weil diese Geräte immer wieder anders klingen, jedenfalls nicht wie irgendetwas Natürliches, muß das alles ja zwingend unecht sein. Abgesehen davon: Elektronisch = digital = Computer = macht eh alles vollautomatisch, ohne daß der Musiker irgendwas machen muß, womöglich sogar mit einer KI. Das wird teilweise heute noch sogar 50 Jahre alten Modularsynthesizern nachgesagt – denen gerade, weil die für den Laien aussehen wie Großrechner, obwohl da drin nicht nur kein bißchen Digitaltechnik steckt, häufig auch kein einziger integrierter Schaltkreis, sondern teilweise nicht einmal Platinen.
Seit Walter Carlos'
Switched-On Bach halten sich genau diese Gerüchte hartnäckig. Ein einziger Musiker macht mit einem einzigen Synthesizer Musik, die eigentlich für ein ganzes Orchester produziert wurde: Da stimmt doch was nicht. Daß hinter einer vielleicht vierzigminütigen Platte monatelange Overdub-Orgien steckten, weil der Synth immer nur eine Note zur Zeit spielen konnte, wußte keiner und interessierte auch keinen. Und irgendwer hat irgendwann mal an einem Moog oder Buchla den Stepsequencer vorgeführt. So eingeschränkt der auch war, verleitete er die Leute dazu zu glauben, daß der Synthesizer alles, aber auch wirklich alles vollautomatisch spielen kann.
1974 brachten Kraftwerk ihr erstes (damals noch fast) vollelektronisches Album heraus:
Autobahn. Das einzige, was da irgendwie automatisiert war, das war vielleicht mal ein Delay oder ein LFO. Damit tourten sie dann monatelang durch die USA. Kraftwerk waren eigentlich das, was der elektronischen Musik eine bessere Reputation hätte geben können: eine Art Rockband, nur mit elektronischen Instrumenten, die aber trotzdem von Menschen gespielt werden. Bevor sie das aber konnten, wurden sie immer maschineller und verabschiedeten sich allmählich vom menschlichen, händischen Spielen.
Als
Die Mensch-Maschine raus war, hätten eigentlich neu entstehende britische Bands in die Lücke vorstoßen können. Aber die wenigsten waren hinreichend elektronisch, die meisten waren für den Mainstream zu dilettantisch, und daß Kraftwerk einen bis zwei elektronische Drummer hatten, hat sich dort nicht wiederholt. Als dann in den frühen 80ern der Synthpop in den Mainstream kam, war er schon zu poliert. Da gab es schon zu ausgefuchste Studiotricks, die unbedingt angewandt werden mußten, da waren Drummachines endgültig unerläßlich, und da machte sich endgültig niemand mehr einen Kopf darum, wie das Ganze vielleicht einem Publikum live vorgeführt werden könnte – was es dann ja auch nicht wurde. Modern Talking wurde ja schon Mitte der 80er vorgeworfen, daß bei ihnen bis auf den Gesang alles vollautomatisiert sei. Wenn sie mal irgendwo ihre Musik vorführten, war das ausschließlich im Fernsehen, und auch dann war es immer Vollplayback. Auch manch ein anderer 80er-Jahre-Popstar ist damals nie getourt.
Als dann 1987 das Chicagoer DJ-Trio Phuture mit Minimalstbudget den Acid House erfand, bei dem endgültig absolut nichts mehr per Hand gespielt wurde, und damit die bis heute andauernde EDM-Welle in Gang setzte, auf die das auch zutrifft, war endgültig alles vorbei.
Waren das musikalische Vorbilder? Kaum. Für viele Leute fiel elektronische Musik einfach vom Himmel, oder sie war einfach "da". Es interessierte niemanden, wie sie gemacht wurde, auch weil man befürchtete, das wäre zu "technisch". War es ja auch. Im Synthpop interessieren sich die meisten Leute nur für die Sänger. Auf die Musiker achteten nur die Geeks. Und die hatten nie das Budget, um auch nur ansatzweise auf das Niveau ihrer Idole zu kommen (außer bei einigen Underground-Acts in den späten 70ern). Spätestens in den 80ern wurde alles, was kein Gitarrenrock war, nur gemacht von denen, die das Geld dafür hatten, und die gingen immer maschineller vor, weil sie es konnten. Keine Chance für ehrliche, handgemachte Synthesizermusik, gegen den zunehmend überproduzierten Hochglanzpop anzukommen, denn mit den damaligen Mitteln wäre sie zu primitiv und dilettantisch rübergekommen. Und mit jedem Jahrzehnt wurde die Hürde höher und die Motivation, diese zu nehmen, geringer. Selbst Amateure machen heutzutage nur vollmaschinelle EDM oder gleichermaßen vollmaschinelle Berliner-Schule-Musik. Wer noch per Hand spielen kann, wird von den Synthgeeks insgeheim bewundert (vor allem von denen, die das nicht können), öffentlich aber ausgelacht.
Heute kommt ein nicht unerheblicher Teil der elektronischen Musik komplett aus jeweils einem einzigen Rechner. Generell scheint es ohne Computer und DAW nicht mehr zu gehen. Damit ist die Glaubwürdigkeit elektronischer Musik als etwas Handmachbares endgültig dahin, denn einem Computer glaubt man schon eher, "alles vollautomatisch und ganz von alleine" zu machen, als einem 50 Jahre alten gefühlten Laborgerät. Und weil man niemanden sieht, der solche Musik komplett ohne jegliche Zuspielung per Hand spielt, glaubt auch niemand, daß so etwas grundsätzlich möglich wäre – die älteren nicht, weil sie diesen "neumodischen" Maschinen immer noch nicht trauen, und die jüngeren nicht, weil sie es anders nie kennengelernt haben.
"Handgemachte" Musik ist seit spätestens Mitte der 80er Jahre eigentlich nur noch Rock, bevorzugt Indie/Alternative Rock, weil Musik, die nicht von Synthesizern dominiert wurde, bei den großen Mainstream-Labels nur noch von Musikern und Bands gemacht werden durfte, die bei dem Label schon seit den 70ern Hits abwarfen (AC/DC, Meat Loaf, Rolling Stones, ZZ Top, Van Halen etc.). So guckten damals diejenigen, die noch "handgemachte" Musik haben wollten, aber was Neues hören wollten, an den Major-Releases vorbei und orientierten sich Richtung Indie-Labels. Von Mitte der 80er an, als nach dem allmählichen Niedergang des frühen Punk und der klassischen New Wave fast nur noch The Smiths übrig waren, entstand da ein neues, elektronikfreies Genre nach dem anderen. Thrash Metal (als Antwort auf den Hair Metal), die Wiedergeburt des amerikanischen Punk Rock, College Rock, Grunge. Während Popmusik und damit auch R&B bei den Major-Labels immer ausgefuchster wurde, wurde die zumeist bei Indie-Labels beheimatete Rockmusik immer roher. Und simpler. Seit damals bedeutet Rhythmusgitarre, daß man mit maximal möglicher Verzerrung dasselbe spielt wie der Bassist, und zwar Grundtonachtel. Gerade damals paßte das zum Gefühl der Rebellion gegen die Pop-Giganten mit ihren übertechnisierten Produktionen.
Und genau das blieb alles Elektronische seitdem: übertechnisiert und vollautomatisiert. In den 80ern hatte man nur als Außenstehender den Eindruck, daß bei elektronischer Popmusik keine Handarbeit mehr stattfand. Seit den 90ern trifft das tatsächlich zu, da werden nur noch Sequenzen programmiert. Rücksicht auf die Live-Umsetzbarkeit wird schon seit ca. 1980 nicht mehr genommen, teilweise schon seit noch früher, und einige Künstler haben das noch nie.
Handgemachte elektronische Musik ist immer noch möglich – so weit handgemacht, wie man das als Solomusiker kann, überwiegend handgemacht, weil man trotzdem noch eine Drummachine hat und braucht, oder tatsächlich komplett handgemacht, weil es nie mehr elektronische Drumkits am Markt gab als heute. Das macht aber kaum mehr jemand. Die, die das können, werden eher weniger als mehr. Der Rest will es gar nicht und/oder kann es womöglich gar nicht, hat damit aber einen derartigen Bombenerfolg, daß man damit die komplette öffentliche Wahrnehmung elektronischer Musik prägt. Die großen Aushängeschilder elektronischer Musik heißen heute David Guetta, Calvin Harris und Avicii – und das sind DJs, die am Rechner produzieren und "live" nur Vorproduziertes abfahren können. Selbst in der Synthesizernerd-Szene kommen auf einen, der wirklich per Hand spielt, Dutzende Anhänger der Berliner Schule, für die händisches Spiel pfui ist – auch weil sie es selbst nicht können. Aber die stellen dann auf Nerdtreffen so ziemlich alle Live-Acts.
Unter nichtelektronischen Musikern dürfte sich derweil die Ablehnung gegenüber allem Elektronischen seit den 80ern sogar noch verstärkt haben. Wenn ein Musiker wie Kebu zwar beidhändig auf mehr als 30 Jahre alten Synthesizern live spielt, aber eben nicht alles gleichzeitig selbst spielen kann und daher einiges an Sequencerhilfe braucht, dann ist das nicht mehr "handgemacht" – eine Rockband würde alles per Hand spielen, nur eben ganz andere Musik. Wenn eine drei- oder vierköpfige reine Elektronikgruppe auftritt, noch mehr per Hand spielt, aber eben auch auf einen Drumcomputer zurückgreifen muß, dann ist das auch nicht "handgemacht". Häufig ist elektronisch generell nicht "handgemacht" – mit dem Argument, daß die Instrumente nicht "echt" sind und die Musiker die Klänge eben nicht selbst direkt erzeugen, indem sie Saiten, Felle oder Luftsäulen in Hohlräumen mit ihrer eigenen Körperkraft in Schwingung versetzen, sondern da eben "irgendwas Technisches" passiert, was bei "richtigen" Instrumenten eben nicht passiert und nicht gebraucht wird.
Musik ist Schublade - auch eine Folge des Internets.
Genres gibt's schon viel länger.
Die Untergenres in der Rockmusik wurden von der Musikpresse erfunden, die die ganzen Releases ja in irgendwas einordnen mußten. Schon Anfang der 70er hatte man auf einmal Hard Rock, Folk Rock, Roots Rock, Garage Rock, Blues Rock, Psychedelic Rock, Art Rock, Progressive Rock, Krautrock usw., und da war noch lange nicht das Ende der Fahnenstange erreicht, auch weil dann irgendwann der Metal kam, der spätestens ab ca. 1990 in immer mehr Untergenres aufgeteilt wurde. Damit entfiel auch der Aufwand zu beschreiben, wie die Musik jetzt klingt. Wenn man sagte: "Das ist Wagnerian Rock", dann war alles klar, dann war das typisches Jim-Steinman-Zeugs. Und die Bands zogen sich natürlich die Genre-Schuhe an, denn je leichter es der Redaktion des Rolling Stone Magazine fiel, sie in Schubladen zu stecken, desto dankbarer war sie, desto großzügiger fielen die Plattenrezensionen aus.
Das machte es ja auch damals schon leichter, neue Hörer zu kriegen. Wer z. B. auf Post-Syd Barrett-Prä-
Final Cut-Pink Floyd stand, sah sich beim Art Rock um und stieß, so noch nicht bekannt, auf Barclay James Harvest. Und wer damals schon Iron Maiden hörte, vom kitschig-bunten Hair Metal aber genervt war, der wurde über die New Wave Of British Heavy Metal direkt zu Judas Priest geführt (oder umgekehrt). Wie Spotify oder Last.fm, nur offline, analog und sogar ganz ohne Strom.
Zur gleichen Zeit wie Metal wurde auch die elektronische Musik in Schubladen aufgeteilt, vor allem, damit die DJs wußten, wo sie suchen mußten, um das zu finden, was ihrem Geschmack am nächsten kam, und damit die Produzenten elektronischer Musik wußten, was sie machen mußten, um welcher Zielgruppe zu gefallen. Auch wenn der Volksmund das alles ausnahmslos pauschal unter "Techno" verbucht, kennt schon der interessierte Laie dutzendweise Genres und Subgenres und findet dadurch sehr leicht das, was ihm gefällt. Ohne Genres müßte derjenige, der einfach nur House hören will, sich widerwillig durch Unmengen an Hardtrance, Detroit Techno, Gabber, Goa, Schranz usw. kämpfen, bis er etwas gefunden hat, was ihm gefällt. (Das wurde schwieriger, als auch House sich breiter und in mehr Fragmenten aufstellte.) Einzig die elektronische Nicht-Pop-Musik von vor 1987 ist nicht in Genreschubladen aufgeteilt, weil die nicht DJ-kompatibel und meist auch nicht tanzbar ist.
Martman