klaus111
Mod Emeritus
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Wie kann Kunst künstlerisch sein, wenn sie Regeln einhalten muss?
Tja. schau und höre Chöre von Jürgen Golle und man merkt, dass das geht.
Das Beispiel Golle zeigt, daß diese schöne Musik auch Gesetzen gehorcht. Sie ist natürlich nicht, z.B. rein zufallsbedingt. Übrigens kann auch zufallsbedingte Musik Gesetzen gehorchen, nämlich den Gesetzen des Hörers, wie Beispiele von John Cage zeigen (1). Sozusagen eine Projektionsfläche, ähnlich dem Kaffesatz, den Formen des Bleigießens, dem Rohrschach-Test. Selbst in unstrukturiertem Material sehen wir Strukturen, zumindest sind wir bestrebt danach, welche zu finden.
Hörenswerte Musik gehorcht m.E. immer bestimmten Gesetzen. Die Komponisten strukturieren das musikalische Material, sie messen den einzelnen Komponenten Bedeutung bei. Der Hörer kann diese Bedeutung erkennen, denn jeder Mensch hat einen Sinn für Melodik, Rhythmik, Harmonik, der allerdings ganz verschieden ausgeprägt bzw. ausgebildet ist. Je nach dem, kann er die Strukturen mehr oder weniger differenziert erkennen und Gefallen daran finden.
Die Art der strukturellen Gesetzmäßigkeiten kann völlig unterschiedlich sein. Die europäische Kultur zeichnet sich insbesondere dadurch aus, die Mehrstimmigkeit zur Entfaltung gebracht zu haben. Im Entwicklungsprozess der Mehrstimmigkeit stellten sich bestimmte Gesetze heraus, die beachtet werden sollten, wenn die einzelnen Stimmen als eigenständig wahrgenommen werden wollen (z.B. keine Oktav- oder Quintparallelen). Gleichzeitig sollten bestimmte Vorstellungen von Harmonik erfüllt werden. Zur Perfektion hat dies Bach gebracht. Obwohl zu Lebzeiten wenig als Komponist bekannt, zeigte er später einen riesigen Einfluss.
Mozart und Bethoven kannten seine Musik nur wenig, ahnten aber sein Größe. Er inspirierte Romantiker, Antiromantiker, Gläubige und Atheisten, Zwölftöner, Jazz-Musiker und zeigt bis heute eine unvergleichliche Präsenz. Kein Wunder, daß diese bestimmte Art der Perfektion auch heute noch an Musikhochschulen gelehrt wird.
Hörer aus anderen Kulturen schütteln hingegen häufig den Kopf: "Schöne Melodien, doch warum alles gleichzeitig?" Ihre Musik folgt primär melodischen oder rhythmischen Gesetzen.
Innovative Künstler schaffen Musik, die nach neuen Gesetzmäßigkeiten strukturiert ist. Die Rezeption von innovativer Musik hängt einerseits von den Hörgewohnheiten de Publikums ab, andererseits auch von Naturgesetzmäßigkeiten. Die menschlichen Sinne haben nur eine begrenzte Kapazität musikalische Information zu verarbeiten. Limitiert sind u.a. das Gedächtnis, das Differzierungsvermögen für Intervalle und Rhythmik. Strömen viele Reize auf den Menschen ein, kann u.U. nicht mehr alles verarbeit werden, es kommt z.B. zu Verdeckungen. Innovative Musik kann dann erfolgreich sein, wenn die durch die Natur vorgegebenen Gesetze berücksichtigt und doch neue Strukturierungsmöglichkeiten gefunden werden. Denn bei der übermäßigen Kultivierung von Musik aus vergangenen Zeiten kann auch Langeweile eintreten, auch das ein Naturgesetz.
(1)
Ich erinnere mich hier sehr lebhaft, wie ich als Jugendlicher zum ersten mal "Roaratorio: An Irish Circus on Finnegans Wake" von John Cage hörte und fassungslos war, als ich danach erfahren habe, dass das Stück komplett nach einem überaus witzigen aleatorischen, also zufallsgeleitetem Prinzip gebildet worden war. Ich hatte doch Strukturen jeder beliebigen Größe und Ideen von verschiedener Komplexität auf allen Ebenen der Musik gehört …
(Peter Holtz (2005) Dissertation: "Was ist Musik? Subjektive Theorien Musik schaffender Künstler", S. 69)
Viele Grüße
Klaus