Da verläßt man aus meiner Sicht aber die rein medizinisch-neurowissenschaftliche Ebene und begibt sich auf eine philosophische Ebene. Und auf der stellt sich die Frage, ob etwas anderes als ein Ich überhaupt eine Entscheidung treffen kann.
Du hängst dich da an dem Begriff "Entscheidung" auf, wobei ich das ja deutlich provoziert habe, indem ich diesen Begriff so betont nach vorne gestellt habe in meinem Beitrag. Dabei hatte ich diese Passage im Hinterkopf, aber nicht zitiert, was ich hier nachhole:
Wieso beginnt das Gehirn früher umzuplanen? Man könnte doch auch sagen: Der Pianist beginnt früher umzuplanen. Ist der Mensch in seinen Handlungen Opfer seiner Hirnprozesse? Kann ein Gehirn überhaupt planen, oder macht das der Mensch?
In der Gehirnforschung ist dieser totale Blick auf den Menschen erst einmal wenig hilfreich, der in dem Begriff "Person" steckt. "Person" ist da mehr ein psychologischer und philosophischer Begriff.
Wenn man etwas über das Funktionieren unserer "grauen Zellen" wissen will, muss man sehr ins Detail gehen und gewissermaßen stark sezieren, auch in den Versuchsanordnungen, da das Gehirn und überhaupt unser Nervensystem und das Zusammenspiel der verschiedenen Zentren, Ebenen und Teile äußerst komplex ist. Die unbewussten und vegetativen Ebenen nehmen darin einen verblüffend großen Anteil ein.
Den Begriff "Opfer" kann ich nicht verstehen, das hört sich nach einer Aversion diesen Forschungen gegenüber an. Auch diese Formulierung scheint in diese Richtung zu gehen:
... aber ich bin eben nicht bereit, mir meine Kunst (als schöpfendes Ich) von der Wissenschaft wegdiskutieren zu lassen.
Aber du hast doch ein Gehirn, das, deinen vielen intelligenten, kompetenten und hilfreichen Beiträgen nach, die ich von dir gelesen habe, offensichtlich auch sehr gut funktioniert
.
Um das "Wegdiskutieren" des schöperischen Ichs, überhaupt des "Ich" geht es bei diesen Forschungen gar nicht, weder in ihrer Intention, noch in ihren Konsequenzen.
Wenn man etwas über das Funktionieren unserer "grauen Zellen" wissen will, muss man sehr ins Detail gehen und gewissermaßen stark sezieren, auch in den Versuchsanordnungen, da das Gehirn und überhaupt unser Nervensystem und das Zusammenspiel der verschiedenen Zentren, Ebenen und Teile äußerst komplex ist. Die unbewussten und vegetativen Ebenen nehmen darin einen verblüffend großen Anteil ein.
Ich will dann mal den Begriff "Entscheiden" durch "Filtern" und "Sortieren" ersetzen.
Dazu einige Beispiele.
Du hast Durst und schüttest die ein Glas Wasser ein oder machst dir einen Kaffee. Eine bewusste Handlung, zu der du dich gewissermaßen "entschieden" hast. Woher kommt nun aber das Durstgefühl? Über bestimmte sog. Osmorezeptoren im Körper bekommt das Gehirn Informationen über den Elektrolythaushalt im Körper, der sehr genau austariert und abgestimmt sein und bleiben muss. Das für den Durst (und Hunger und noch einiges mehr) "zuständige" Zentrum im Gehirn ist der Hypothalamus. Registriert dieser eine Dysbalance im Elektrolythaushalt und einen Wassermangel, gibt er Impulse an höhere Zentren ab, bis zur Großhirnrinde, wo die bewussten Prozesse und Programme ablaufen. Dort wird dann die eigentliche Handlung in Gang gesetzt, also sich ein Glas Wasser einzuschütten oder einen Kaffee, Tee usw. zu machen. Wie es zur Entscheidung für ein bestimmtes Getränk kommt, ist dann wieder von anderen Zentren abhängig und möglicherweise von zusätzlichen äußeren Reizen (ein zufälliger Blick, der entweder zuerst auf die Wasserflasche oder auf die Kaffeemaschine fältt, oder, oder, oder ...).
Dieses kleine Beispiel beleuchtet vielleicht besser, was auf der neurologischen Ebene mit "Entscheidung" gemeint ist. Ein "Opfer" wärest du wohl dann, wenn du eine
Störung der Funktion des Hypothalamus hättest und damit eine Störung des Durstgefühls. Dann würdest du Gefahr laufen, zu dehydrieren.
Ein zweites Beispiel:
Du gehst mit einem Freund spazieren und ihr unterhaltet euch angeregt. Dabei weichst du einem Schlagloch im Weg aus.
Inwiefern war das eine bewusste "Entscheidung"? Meistens eher nicht, sondern das passiert quasi "vollautomatisch" ohne ein inne halten oder dass dafür das Gespräch unterbrochen werden muss. Das Sehzentrum hat beim permanenten "Abscannen" der Umgebung das Schlagloch wahrgenommen. Viele andere Dinge, die die Augen gesehen und an das Sehzentrum weiter gegeben haben, wurden weg gefiltert und haben keine Reaktion hervor gerufen. Aber das Schlagloch wurde als relevant kategorisiert, und die für das Gehen zuständigen Areale wurden "informiert", so dass dort ein Programm abgerufen wurde, bei dem du einen Schlenker um das Schlagloch herum gemacht hast.
Eine bewusste Entscheidung? Kaum, eher ein unbewusstes, fast Reflex-artiges Reagieren auf einen äußeren Reiz, der die Amygdala (dort werden ankommende Reize der Sinnesorgane auf eine ganz basale Weise gefiltert und sortiert, das meiste wird aussortiert) passiert hat, weil er als relevant eingestuft wurde. Wahrscheinlich, weil du dir früher mal oder sogar öfter mal den Fuß in einem solchen oder ähnlichen Schlagloch umgeknickt und dann tagelang gehumpelt hast. Das hat sich dann tief in deinem Gedächtnis verankert und blitzte als eine unbewusste Erinnerung auf in dem Moment, als das Schlagloch ins Blickfeld kam. Damit wurde dieses unbewusst wahrgenommene Detail relevant und löste die beschriebene Reaktion des Schlenkers aus. Eine bewusste Entscheidung? Auch hier eher nicht, und auch hier wurdest du kein "Opfer" dieser Verschaltungen im Gehirn. Wenn es nicht so automatisiert und schnell reagiert hätte, hättest du hingegen dir wahrscheinlich den Fuß umgeknickt.
Wenn während des Spaziergangs mit der angeregten Unterhaltung ein Auto vorbei fährt, dass im Moment des Passierens eine Fehlzündung hat und ein lauter Knall ertönt, dann hätte das gewiss zu einer Unterbrechung des Gehirns geführt, da solche extremen Reize von der Amygdala als ein sehr relevantes Zeichen einer Gefahr gedeutet wird, worauf womöglich eine Fluchtreaktion folgen sollte.
Dann braucht das Gehirn, brauchst du eine gewisse Zeit, dich wieder zu sortieren, den Knall als harmlos zu identifizieren und die schon ansatzweise in Gang gekommene Fluchtreaktion (Ausschüttung von Adrenalin, beschleunigter Puls, Tonus-Erhöhung der Muskulatur usw.) wieder herunter zu fahren und dann das Gespräch wieder fortzusetzen.
Noch ein letztes Beispiel (bin gerade so schön im Fluss
):
Du fährst mit dem Zug ein eine fremde Stadt wo du einen Termin hast. Der Zug kommt mit etwas Verspätung an (wie bei der Bahn fast schon üblich) und du eilst aus dem Bahnhof um den Bus zu erreichen, der dich weiter zum Ziel bringen soll. Deine Aufmerksamkeit ist gänzlich darauf gerichtet, eine Haltestellenübersicht zu finden, damit du möglichst schnell und zielgerichtet die Haltestelle des richtigen Bus findest (die Linien-Nummer und den Fahrplan hattest du dir in weiser Voraussicht schon vorher im Internet heraus gesucht). Das Backwarengeschäft und die Buchhandlung, die auf dem Weg zur Haltestelle passierst, interessieren dich nicht und du gehst einfach daran vorbei, ohne sie überhaupt wahrzunehmen. Später wirst du dich nicht einmal daran erinnern können, dass diese Geschäfte dort überhaupt
existierten. Dein Gehirn hat diese Reize und Informationen komplett bei der eiligen Suche nach der Haltestelle ausgeblendet.
Anders in dieser Situation:
Du bist in weiser Voraussicht der Unpünktlichkeit der Bahn einen Zug früher gefahren als nötig, aber an diesem Tag ging alles glatt und jetzt hast du noch etwas Zeit, bis du mit dem Bus weiter fahren musst. Außerdem hast du ein wenig Hunger. Jetzt fallen die das Backwarengeschäft und die Buchhandlung auf. Weil du Hunger hast und Zeit, kaufst du dir ein Brötchen und stöberst ein wenig in der Buchhandlung.
Im ersten Fall, unter Stress und in Eile, hat die zwingende Entscheidung, schnell zum Bus zu kommen, Reaktionen im Gehirn ausgelöst, die alle für das Erreichen des Ziels irrelevanten Reize völlig unterdrückt haben. Vielleicht hattest du da auch etwas Hunger, den hast du aber nicht gespürt, weil der Bus Vorrang hatte. Erst als du glücklich im Bus saßt und der Stress sich legte, kam das Hungergefühl wieder auf. Womit sich die nächste "Entscheidung" anbahnte, nämlich, endlich am Ziel angekommen, nach einem Backwarengeschäft oder Imbiss Ausschau zu halten.
Ich denke, die Beispiele konnten ein wenig beleuchten, was alles so im unbewussten Bereich an "Entscheidungen" und Programme ablaufen, schon alleine, weil es auf der körperlichen Ebene so viele vegetative Anforderungen, Reflexe und Reaktionen gibt, die die Bewusstseinsebene gar nicht erreichen.
Alles in allem sehr spannend, finde ich.
Und für das Musizieren und Unterrichten durchaus von Relevanz. Der oben angesprochene Fluchtreflex (um nur ein Beispiel zu nennen) ist z.B. dem freien Musizieren diametral entgegen gesetzt in seinen physiologischen Reaktionen (wie etwa die Erhöhung des Muskeltonus). Selbst wenn er nur ganz unterschwellig wirksam wird wie in der Nervosität vor einem Auftritt, um von Bühnenfurcht oder gar Bühnenangst erst gar nicht zureden, kann das schon negative physiologische und motorische Stimuli hervorrufen, mit denen man sich als Betroffener auseinandersetzen sollte.
Dazu kann man sehr gute und wichtige Informationen und Anregungen aus der modernen neurologischen und Gehirnforschung bekommen, denen man sich als Musiker und Pädagoge im 21. Jahrhundert nicht verschließen sollte.
Dass diese 0,2 Sek. Zeitdifferenz bei in dem verlinkten Artikel beschriebenen Experiment nur von geringer Bedeutung sein mögen, und überhaupt die Versuchsanordnung kritisch hinterfragt werden kann, zudem der Artikel in typischer medialer Überspitzung und etwas reißerisch das Ganze als fundamentalen Unterschied zwischen "Klassikern" und Jazzern" darstellt, das sei getrost dahin gestellt.
Aber in sorgfältig durchgeführten Forschungen werden oft, ja fast immer, "kleine Brötchen" gebacken, gerade wenn die zu untersuchende Thematik von enormer Komplexität ist.
Es sind die vielen kleinen Ergebnisse in der wissenschaftlichen Forschung, die von vielen über viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, zusammen getragen, wieder hinterfragt, neu untersucht, verifiziert, aber auch oft falsifiziert werden, die schließlich zum genauen Verständnis der Welt beitragen. Das ist in der Klimaforschung so, das Corona-Virus gibt derzeit ein recht anschauliches Beispiel, und auch der hier diskutierte Versuch mag geeignet sein, einen kleinen Baustein zum Verständnis der Funktion des Gehirns und des Nervensystems beizutragen.
Warum man bei solch komplexen Sachverhalten die Beteiligung des Gehörsinnes ausschließen will, leuchtet mir nicht ein.
Es ist eben diese große
Komplexität, die solche Versuchsanordnungen nötig macht. Die außen liegenden EEG-Sonden sind im Vergleich gar nicht ein eher grobes Messverfahren. In der Gehirnforschung werden viele Versuche mit moderner Live-MR-Technk gemacht, mit denen sehr detaillierte Aufnahmen des Gehirns bei seiner Tätigkeit machen kann. Aber mit den derzeit existierenden MRT-Geräten kann man ein Jazz-Trio beim gemeinsamen Spiel nicht untersuchen, irgendwann wird da vielleicht mal möglich sein.
Das Gehör kann nicht in die Zukunft hören, es sind andere am Musizieren beteiligte Zentren, wo diese
Antizipation der kommenden Harmonie stattfindet. Und das auch nur aufgrund umfassender Lernprozesse und einer großen angesammelten Erfahrung. Der Gehörsinn gibt die Information der gerade gehörten Harmonien an andere Zentren weiter, wo dann entsprechende Muster abgerufen werden, die diese Antizipation möglich machen. Musizieren beschäftigt im übrigen das Gehirn großflächig (was detaillierte Untersuchungen per se sehr schwierig macht) und ist nachgewiesenermaßen mit das beste "Gehirn-Joggng" und hält das Gehirn wirklich sehr gut fit.
Dem Interessierten kann ich das folgende Buch empfehlen, wo man viele Informationen zu dem findet, was ich hier angerissen habe:
"Bildung braucht Persönlichkeit", Gerhard Roth (ein jetzt emeritierter Gehirnforscher), Klett-Cotta Verlag.
In diesem Buch erfindet Roth das Rad auch gar nicht neu. Im Gegenteil werden dort viele Vorgehensweisen von der Seite der Gehirnforschung bestätigt, die erfahrene und einfühlsame Lehrer schon lange anwenden, wenn auch mehr intiuitiv als wissenschaftlich fundiert. Wofür auch manch einer davon kritisiert, wenn nicht regelrecht angegriffen wird.
Richtig blöd wird es aber, wenn aufgrund von konstruierten Ideologien, von denen es im Bildungsbereich gar nicht wenige gibt, und überkommener dogmatischer, aber nie hinterfragter "Methoden" (die in der Musikwelt auch nicht selten ein Zuhause haben) regelrecht
gegen das Gehirn (und zusätzlich oft gegen die Physiologie des Körpers) gearbeitet wird. Dann wird das Lernen unnötig erschwert, es entsteht übler und vermeidbarer Stress, und bei Musikern werden nicht selten Verspannungen, Fehl-Bewegungs-Stereotype, und mitunter regelrechte Traumata damit ausgelöst.
Muss nicht sein, sollte nicht sein. Musizieren, ein Instrument spielen, ist anspruchsvoll genug, da sollte man möglichst alles vermeiden, was dabei störend und hemmend wirkt.
Was den verlinkten Versuch angeht, gehe ich nebenbei erwähnt davon aus, dass man diese Unterschiede zu den "Jazzern" nicht, bzw. so nicht festgestellt hätte, wenn man in der Improvisation versierte "Klassiker" wie die oben erwähnten Organisten mit einbezogen hätte.