Martman
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Es gibt ja hier so unglaublich viele Gitarristen. Ich schätze, weit mehr als die Hälfte der Mitglieder dieses Boards spielen hauptsächlich Gitarre. Und was man auch immer wieder hier erlebt, ist, daß Musiker, die ein bestimmtes Instrument spielen, Einblick in die Welten anderer Instrumente nehmen, beispielsweise Gitarristen, die sich als Keyboarder versuchen wollen.
Aber wie sieht eigentlich die Welt der Gitarre aus, betrachtet mit den Augen eines Synthesizer-Spielers?
Fangen wir mal an mit dem Instrument selbst, das ja der Kern, das Zentrum dieser Welt ist. Die Gitarre. In den meisten Fällen, zumindest hier, handelt es sich um eine elektrische Gitarre. Was ist eigentlich eine Gitarre?
In den meisten Fällen ist eine Gitarre ein sechsfach polyphoner, nicht multitimbraler Klangerzeuger. Dieser wird direkt am Gerät gespielt, also entfällt die Notwendigkeit einer MIDI-Verbindung. Meist steht pro Stimme ein Oszill-
Ja, hoppla, da wären wir ja fast in die Falle getappt. Natürlich hat eine Gitarre keine Oszillatoren. Sie arbeitet nämlich nicht mit analog-subtraktiver Synthese, und Samples spielt sie auch keine ab. Hier, meine Damen, meine Herren, haben wir es tatsächlich mit Physical Modeling zu tun. Somit hat eine Gitarre im Regelfall pro Stimme einen Resonator, der eine im Raum schwingende Saite als physikalisches Modell verwendet. Als Erreger fungieren Plektren in vielerlei Form oder sogar Finger. Interessanterweise läßt das Erregermodell "Finger" eine völlig andere, schnellere Spielweise zu als das Erregermodell "Plektrum". Dies liegt daran, daß das Erregermodell "Finger" fünffach vorliegt, das Erregermodell "Plektrum" hingegen jeweils nur einmal, so daß ersteres theoretisch die fünffache Menge an Spieldaten in derselben Zeit umsetzen könnte.
Interessant ist auch, daß jede der sechs Stimmen der Gitarre einen anderen Tonumfang hat und ein geringfügig bis stark anderes physikalisches Modell darstellt. Ja, man kann alle Stimmen separat gegeneinander verstimmen. Leider ist ein Unisono-Modus praktisch unmöglich zu erzielen.
Jede Stimme hat außerdem einen individuellen, fest eingestellten Amp Envelope. Diesen charakterisiert seine perkussive Auslegung, es liegt also die AD-Form vor, bei der die Decay-Phase gleichzeitig die Release-Phase darstellt. Der Release einer Stimme bricht natürlich ab, sobald eine neue Note gespielt wird. Überdies kann die Release-Phase auch unabhängig davon gestoppt werden.
Die Gitarre ist anschlagsdynamisch und hat polyphonen (!) Aftertouch, der allerdings fest auf Pitch Bend für die jeweilige Stimme geroutet ist und überdies die Tonhöhe auch nur nach oben verändern kann. Dafür kann man mittels dieses Aftertouch den ansonsten fehlenden LFO zur Modulation der Tonhöhe (Vibrato) emulieren. A propos Vibrato, einen Pitch-Bend-Hebel gibt es bei manchen Modellen auch, der natürlich nur auf alle Stimmen gleichermaßen wirkt. Mit zusätzlichen Hilfsmitteln kann die Gitarre transponiert werden; auch ist mit einem sogenannten "Bottleneck" eine Spielweise mit stufenloser Tonhöhe möglich, wie man sie vom Trautonium kennt.
Effekte hat die Gitarre nicht, diese können aber wie auch andere klangformende Module, etwa ein resonanzfähiges Tiefpaßfilter mit integriertem LFO, genannt Wah-Wah extern mit geradezu modularer Flexibilität zum Einsatz gebracht werden.
Es gibt Gitarren dieser herkömmlichen Bauart in etlichen verschiedenen Ausstattungsvarianten, von denen einige seit Jahrzehnten (!) praktisch unverändert gebaut werden. Aber es gibt auch speziellere Modelle, zum Beispiel solche mit einem zusätzlichen Resonator, der von den Saiten-Resonatoren erregt wird, und dessen Signal in den Main Mix mit einfließt. Bei diesen Modellen wird üblicherweise eine andere Abnahme der Resonatorsignale angewandt. Einige davon haben pro Stimme zwei Resonatoren, die mit geringer Verzögerung, welche mittels Velocity weiter reduziert werden kann, nacheinander erregt werden. Es gibt sogar multitimbrale Gitarren, vom Hersteller Hamer ist bekannt, daß er auf Anfrage 30stimmige, fünffach multitimbrale Gitarren baut, bei denen einer der jeweils sechsstimmigen Parts pro Stimme wieder zwei Resonatoren hat. Die Kehrseite der Medaille ist außer den gewaltigen Ausmaßen und dem immensen Gewicht des Instruments die Tatsache, daß nur einer der fünf Parts zur Zeit gespielt werden kann. Zur Workstation scheint es also immer noch ein langer Weg.
Eine besondere Form der Gitarre ist die Baßgitarre. Diese ist meist nur vierstimmig, auch wenn Modelle mit fünf oder sechs Stimmen ebenso erhältlich sind. Für einen Baß-Klangerzeuger sind sie sehr old school, das heißt, einen Sequencer, wie man ihn spätestens seit der TB-303 erwartet, sucht man hier vergebens. Dafür bietet gerade die Baßgitarre dem erfahrenen Anwender eine besondere Form des Velocity-Switching, die aber nur mit speziellen Spielweisen erzielt werden kann.
Generell gibt es einiges, das an der Gitarre zu bemängeln wäre. Es gibt grundsätzlich keine Alternative zum einzigen Saiten-Resonatormodell, die sechs Stimmen klingen nicht gleich, ein resonanzfähiges Multimodefilter sucht man auch vergeblich. Ob Presets sinnvoll wären, darüber läßt sich streiten, insbesondere da die klanglichen Möglichkeiten einer Gitarre ohne Outboardeffekte relativ eingeschränkt sind. Außerdem ist es für ein Instrument, speziell eins, das sogar schon Physical Modeling beherrscht, nicht mehr zeitgemäß, daß es regelmäßig gestimmt werden muß, wobei dies auch als Feature zugunsten der Authentizität durchgehen könnte, wenn man es abstellen könnte. Zu guter Letzt besitzt die Gitarre weder MIDI- noch CV-Anschlüsse und läßt sich mit diesen nur sehr bedingt nachrüsten. Dafür ist sie sehr portabel und kann sich klanglich gut durchsetzen. Modelle mit zusätzlichem Resonator lassen sich sogar unabhängig vom Stromnetz betreiben, und generell gibt es bei Gitarren keine externen Wandwarzen und Netzteilanschlüsse ohne Zugentlastung, die dem Musiker Kopfschmerzen bereiten könnten. Denn selbst elektrische Gitarren werden interessanterweise über die Main-Out-Klinkenbuchse mit Strom versorgt. Leider gibt es auch nur einen Mono-Ausgang, und die 6,35-mm-Klinkenbuchse ist nicht symmetrisch.
Mittlerweile sind auf dem Markt die ersten Gitarren mit USB-Anschluß erhältlich. Dieser scheint aber noch nicht ausgereift zu sein, denn immer noch läßt sich die Gitarre nicht über USB von einer Hostsoftware aus steuern.
Martman
Aber wie sieht eigentlich die Welt der Gitarre aus, betrachtet mit den Augen eines Synthesizer-Spielers?
Fangen wir mal an mit dem Instrument selbst, das ja der Kern, das Zentrum dieser Welt ist. Die Gitarre. In den meisten Fällen, zumindest hier, handelt es sich um eine elektrische Gitarre. Was ist eigentlich eine Gitarre?
In den meisten Fällen ist eine Gitarre ein sechsfach polyphoner, nicht multitimbraler Klangerzeuger. Dieser wird direkt am Gerät gespielt, also entfällt die Notwendigkeit einer MIDI-Verbindung. Meist steht pro Stimme ein Oszill-
Ja, hoppla, da wären wir ja fast in die Falle getappt. Natürlich hat eine Gitarre keine Oszillatoren. Sie arbeitet nämlich nicht mit analog-subtraktiver Synthese, und Samples spielt sie auch keine ab. Hier, meine Damen, meine Herren, haben wir es tatsächlich mit Physical Modeling zu tun. Somit hat eine Gitarre im Regelfall pro Stimme einen Resonator, der eine im Raum schwingende Saite als physikalisches Modell verwendet. Als Erreger fungieren Plektren in vielerlei Form oder sogar Finger. Interessanterweise läßt das Erregermodell "Finger" eine völlig andere, schnellere Spielweise zu als das Erregermodell "Plektrum". Dies liegt daran, daß das Erregermodell "Finger" fünffach vorliegt, das Erregermodell "Plektrum" hingegen jeweils nur einmal, so daß ersteres theoretisch die fünffache Menge an Spieldaten in derselben Zeit umsetzen könnte.
Interessant ist auch, daß jede der sechs Stimmen der Gitarre einen anderen Tonumfang hat und ein geringfügig bis stark anderes physikalisches Modell darstellt. Ja, man kann alle Stimmen separat gegeneinander verstimmen. Leider ist ein Unisono-Modus praktisch unmöglich zu erzielen.
Jede Stimme hat außerdem einen individuellen, fest eingestellten Amp Envelope. Diesen charakterisiert seine perkussive Auslegung, es liegt also die AD-Form vor, bei der die Decay-Phase gleichzeitig die Release-Phase darstellt. Der Release einer Stimme bricht natürlich ab, sobald eine neue Note gespielt wird. Überdies kann die Release-Phase auch unabhängig davon gestoppt werden.
Die Gitarre ist anschlagsdynamisch und hat polyphonen (!) Aftertouch, der allerdings fest auf Pitch Bend für die jeweilige Stimme geroutet ist und überdies die Tonhöhe auch nur nach oben verändern kann. Dafür kann man mittels dieses Aftertouch den ansonsten fehlenden LFO zur Modulation der Tonhöhe (Vibrato) emulieren. A propos Vibrato, einen Pitch-Bend-Hebel gibt es bei manchen Modellen auch, der natürlich nur auf alle Stimmen gleichermaßen wirkt. Mit zusätzlichen Hilfsmitteln kann die Gitarre transponiert werden; auch ist mit einem sogenannten "Bottleneck" eine Spielweise mit stufenloser Tonhöhe möglich, wie man sie vom Trautonium kennt.
Effekte hat die Gitarre nicht, diese können aber wie auch andere klangformende Module, etwa ein resonanzfähiges Tiefpaßfilter mit integriertem LFO, genannt Wah-Wah extern mit geradezu modularer Flexibilität zum Einsatz gebracht werden.
Es gibt Gitarren dieser herkömmlichen Bauart in etlichen verschiedenen Ausstattungsvarianten, von denen einige seit Jahrzehnten (!) praktisch unverändert gebaut werden. Aber es gibt auch speziellere Modelle, zum Beispiel solche mit einem zusätzlichen Resonator, der von den Saiten-Resonatoren erregt wird, und dessen Signal in den Main Mix mit einfließt. Bei diesen Modellen wird üblicherweise eine andere Abnahme der Resonatorsignale angewandt. Einige davon haben pro Stimme zwei Resonatoren, die mit geringer Verzögerung, welche mittels Velocity weiter reduziert werden kann, nacheinander erregt werden. Es gibt sogar multitimbrale Gitarren, vom Hersteller Hamer ist bekannt, daß er auf Anfrage 30stimmige, fünffach multitimbrale Gitarren baut, bei denen einer der jeweils sechsstimmigen Parts pro Stimme wieder zwei Resonatoren hat. Die Kehrseite der Medaille ist außer den gewaltigen Ausmaßen und dem immensen Gewicht des Instruments die Tatsache, daß nur einer der fünf Parts zur Zeit gespielt werden kann. Zur Workstation scheint es also immer noch ein langer Weg.
Eine besondere Form der Gitarre ist die Baßgitarre. Diese ist meist nur vierstimmig, auch wenn Modelle mit fünf oder sechs Stimmen ebenso erhältlich sind. Für einen Baß-Klangerzeuger sind sie sehr old school, das heißt, einen Sequencer, wie man ihn spätestens seit der TB-303 erwartet, sucht man hier vergebens. Dafür bietet gerade die Baßgitarre dem erfahrenen Anwender eine besondere Form des Velocity-Switching, die aber nur mit speziellen Spielweisen erzielt werden kann.
Generell gibt es einiges, das an der Gitarre zu bemängeln wäre. Es gibt grundsätzlich keine Alternative zum einzigen Saiten-Resonatormodell, die sechs Stimmen klingen nicht gleich, ein resonanzfähiges Multimodefilter sucht man auch vergeblich. Ob Presets sinnvoll wären, darüber läßt sich streiten, insbesondere da die klanglichen Möglichkeiten einer Gitarre ohne Outboardeffekte relativ eingeschränkt sind. Außerdem ist es für ein Instrument, speziell eins, das sogar schon Physical Modeling beherrscht, nicht mehr zeitgemäß, daß es regelmäßig gestimmt werden muß, wobei dies auch als Feature zugunsten der Authentizität durchgehen könnte, wenn man es abstellen könnte. Zu guter Letzt besitzt die Gitarre weder MIDI- noch CV-Anschlüsse und läßt sich mit diesen nur sehr bedingt nachrüsten. Dafür ist sie sehr portabel und kann sich klanglich gut durchsetzen. Modelle mit zusätzlichem Resonator lassen sich sogar unabhängig vom Stromnetz betreiben, und generell gibt es bei Gitarren keine externen Wandwarzen und Netzteilanschlüsse ohne Zugentlastung, die dem Musiker Kopfschmerzen bereiten könnten. Denn selbst elektrische Gitarren werden interessanterweise über die Main-Out-Klinkenbuchse mit Strom versorgt. Leider gibt es auch nur einen Mono-Ausgang, und die 6,35-mm-Klinkenbuchse ist nicht symmetrisch.
Mittlerweile sind auf dem Markt die ersten Gitarren mit USB-Anschluß erhältlich. Dieser scheint aber noch nicht ausgereift zu sein, denn immer noch läßt sich die Gitarre nicht über USB von einer Hostsoftware aus steuern.
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