Nachdem ich mich ein Weilchen unter ABBA-Fans begeben und einige Tribute-Gigs besucht hab (nächste Woche steht der nächste und bislang größte an), kann ich sagen: Es gibt tatsächlich keine einheitliche Verteilung von Hörertypen (Gelegenheitshörer, moderater Fan, Hardcore-Fan) bei allen Arten von Tribute-Veranstaltungen. Und gerade ABBA sind ein Extrembeispiel dafür, daß es sie nicht gibt. Wenn es eine Skala gäbe, würden ABBA am entgegengesetzten Ende von Rush liegen.
ABBA-Tributebands haben herzlich wenige ABBA-Fans unter ihren Hörern. Das mag zunächst mal erstaunlich klingen, ist aber nachvollziehbar. Auf der einen Seite haben ABBA selbst seit Jahrzehnten sehr viel Airplay im Radio, heute zumeist auf Oldie- oder Schlager/Softoldie-Sendern, also dem Dudelfunk für die, die sich für Popradio zu alt fühlen. Die allermeisten Menschen kennen ABBA auch aus dem Radio. Radio hört man eher nebenher, also hört man auch ABBAs Musik häufig eher nebenher.
Auf der anderen Seite sind da die ABBA-Fans. Und unter denen lehnt eine überwältigende Mehrheit Tributebands schlichtweg ab! Diese Fans lassen neben dem Original keine Kopien zu, so gut sie auch sein mögen – weil es eben nicht ABBA selbst sind, sondern nur Imitatoren. Das, und seien wir mal ehrlich: So wirklich nah an ABBA kommt keine Tributeband. Somit kehren gerade die Fans den Tributebands den Rücken zu.
Das macht die Setlist-Gestaltung für Tributebands übrigens nicht einfacher. Sehen wir uns doch mal die drei Hörertypen an.
- Der Gelegenheitshörer: Hat ABBA immer nur über Funk und Fernsehen wahrgenommen, hört sie heute auch noch nur im Radio, besitzt aber kein einziges Album. Nimmt ABBA-Specials im TV höchstens beim Zappen wahr, wenn sonst nichts besseres läuft. ABBA-Kenntnisse beschränken sich also auf die Studioversionen der großen Hits. Spiel ihm als Tributeband "I Am The Tiger" vor, und er wird nicht mal wissen, daß das von ABBA ist.
- Der moderate Fan: Wertet ABBA auf jeden Fall schon mal deutlich höher als andere zeitgenössische Acts. Besitzt die meisten oder alle ABBA-Studioalben, sieht sich abseits der CD-Regale aber nicht nach ABBA-Material um, kennt also auch nur offiziell releasetes Studiomaterial (das aber nahezu lückenlos, seit die Alben derart mit Bonustracks angedickt sind, sofern er die komplette Studio-Diskographie besitzt). Kennt folglich kein inoffizielles Material, kein Livematerial und ganz besonders kein inoffizielles Livematerial. Nur wenige dürften von einem ABBA: The Movie wissen und auch das nur aus dem Fernsehen, wenn der zufällig mal kam und sie ihn aufgenommen haben. Spiel dem Rest als Tributeband "I Am The Tiger" vor, und sie werden sagen: "Hey, mal was anderes als immer nur die Radiohits!"
- Der Hardcore-Fan: Sammelt alles, was mit ABBA zusammenhängt, was er in die Finger kriegen kann. Kennt alles an offiziellem Material und auch einiges an inoffiziellem, somit also alle ABBA-Studioproduktionen und alle je offiziell veröffentlichten Live-Auftritte. Hat aufgehört zu zählen, wie oft er ABBA: The Movie und ABBA In Concert gesehen hat. Spiel ihm als Tributeband "I Am The Tiger" vor, und er wird sagen: "Geil, die spielen den Opener der '77er Australientour!"
Aber, wie gesagt, moderate und Hardcore-Fans lehnen zu großen Teilen Tributebands ab. Das führt zu einer Publikumsverteilung bei Tributekonzerten von geschätzten
- 97% Gelegenheitshörern
- 2% moderaten Fans
- 1% Hardcore-Fans
Damit sind ABBA-Tributebands, wenn sie wirklich auf ihr Publikum hören, gebunden an Studioversionen der großen Hits, also
ABBA Gold und
More ABBA Gold rauf und runter. Albumsongs und B-Seiten (Ausnahme: "Thank You For The Music", B-Seite von "Eagle") werden von 97% des Publikums kaum honoriert, Live-Versionen wiederum können von 99% des Publikums nicht als solche (und somit authentisch ABBA und keine Eigenerfindung der Tributeband) identifiziert werden. Die meisten, die sich an relativ obskuren, aber schönen Albumnummern oder an nachgestellten Live-Versionen wirklich erfreuen können, boykottieren ja Tributebands konsequent.
Die Geschlechterverteilung ist noch interessant zu sehen. Der überwiegende Teil der ABBA-Fans dürfte weiblich sein, entsprechend sieht es dann auch bei Tributeshows aus. Der männliche Anteil des Publikums ist nicht verschwindend gering, aber auch mitnichten in der Mehrheit. Das ist jetzt auch nicht unbedingt Musik, wo Männer zugeben, daß sie die hören. Und der typische Grund für Männer, auf ABBA zu stehen – nämlich, daß sie Agnetha oder Frida anhimmeln –, ist keiner, zu einer Tributeband zu gehen, bei der ja die beiden Damen durch jemand anders ersetzt werden.
Am entgegengesetzten Ende der Skala stehen Rush. Bei denen funktioniert alles komplett anders als bei ABBA. Zunächst mal kennt kaum jemand Rush aus dem Radio. Warum nicht? Weil Rush nicht im Radio laufen. Okay, der eine oder andere Internetsender mit Classic Rock oder Prog Rock als Konzept wirft ab und an was von Rush ein, aber auf UKW-Sendern kann man lange und vergeblich auf sie warten – erst recht auf Sendern mit wirklich viel Quote. Popsender spielen sie nicht, Oldiesender spielen sie nicht, Schlager/Softoldie-Sender spielen sie erst recht nicht, auch die wenigsten Rocksender spielen sie, wenn überhaupt, und Rocksender haben herzlich wenige Zuhörer im Vergleich zu den vorgenannten Senderarten.
Rush war immer eine Insider-Kiste, die von Hörensagen und gestreuten Referenzen lebte. Zielgruppe? Geeks. Schon deshalb, weil Rush anfangs sehr spacige Themen hatten. Die Kunde von Rush verbreitet sich im Grunde direkt von Geek zu Geek, ohne daß irgendein Massenmedium wie ein Fernsehsender oder eine wenig spezialisierte Zeitschrift aktiv daran Anteil hätte. Darin werden sie höchsten noch von Devo getoppt. Folglich sehen die Hörertypen wie folgt aus:
- Der Gelegenheitshörer:[/b] Existiert praktisch nicht. Wie auch. Rush hört man nicht zufällig irgendwo mal. Die paar Gelegenheitshörer, die es gibt, sind zum größten Teil Freundinnen oder Ehefrauen von Rush-Fans, die sich der musikalischen Leidenschaft ihres Partners nicht entziehen können (wenn er zu Hause über die HiFi-Anlage Rush hört, während sie anwesend ist) oder nicht entziehen wollen (weil sie an ihm klammert, wenn er zum Rush- oder Tribute-Konzert geht, dafür muß er aber nächsten Monat mit zu Adel Tawil oder Helene Fischer – "wir machen ja alles immer gemeinsam"). Aber den Zuschauertyp "Och, ich guck mir das mal an" gibt's bei Rush nicht, erst recht nicht den Typ "Kenn ich aus dem Radio". Und weil Rush-Tributebands nie auf Stadtfesten spielen, gibt's auch nicht den Zuhörer, der zufällig vorbeikommt und einfach mal guckt.
- Der moderate Fan: Ist nicht nur, aber gerade bei Rush häufig die Larve des Hardcore-Fan. Das ist die Stufe, wo man gerade bei Rush "reinschnuppert". Entweder man bleibt dabei, dann wird man sehr leicht zum Hardcore-Fan – ziemlich wahrscheinlich, zumal man bald merkt, daß man als Rush-Fan ein Geek unter Geeks, also unter Gleichgesinnten ist –, oder das ist "nicht so meins", und man läßt das Rush-Fandom wieder links liegen. Stellt in Folge dessen einen eher geringen Anteil.
- Der Hardcore-Fan: Die eigentliche Zielgruppe und der größte Anteil der Hörerschaft. Wenn ein Geek was macht, dann macht er es richtig. Und wenn ein Geek sich für etwas begeistert, dann voll und ganz und mit allen Schikanen. Weil das Rush-Fandom aus Geeks besteht, sind die entsprechend verkopft. Sie kennen Rushs kompletten Backkatalog in- und auswendig bis zur kleinsten Note, bis zum kleinsten Beckenschlag. Und genau so, so erwarten sie, hat eine Tributeband zu klingen. Dazu kommt, daß sich gerade unter den Rush-Fans irrsinnig viele Musiker befinden. In Kombination mit dem Detailwissen und der Verkopftheit kommen wir zum einen auf viele Leute, die während eines Rush- oder Tributekonzerts Luftinstrumente spielen (und zwar so, wie sie wissen, daß es korrekt zu klingen hat), sowie auf einen überwältigenden Anteil an Musikerpolizei.
Das Gemeine daran: Natürlich neigt auch der Rush-Fan dazu, Tributebands zu verreißen. Wenn man nun aber das Totschlagargument bringt: "Ja, wenn du so schlau bist, dann mach's doch besser", dann geht der geneigte, musikalisch erfahrene Fan auf die Bühne und macht es besser – peinlich für die Band, die da just aufgetreten ist. Aus dem Publikum von so mancher Rush-Tributeband könnte man mehrere Rush-Tributebands rekrutieren, die besser sind als die, die gerade auf der Bühne steht. Das Schwierigste daran ist höchstens, Leute zu finden, die sowohl Baß spielen als auch Keyboard spielen als auch singen können wie Geddy Lee, derweil es Nachwuchs-Neil Pearts busladungenweise gibt.
Entsprechend fällt auch die Publikumsgewichtung bei Rush-Tributebands aus:
- 93% Hardcore-Fans, die entweder auf Rush selbst nicht warten wollen (besonders bei hochwertigen Tributebands) oder dieselbe Freude empfinden wollen wie Mike Nelson beim Trashfilmegucken (besonders bei No-Name-Tributebands)
- 5% moderate Fans in der "Anfixen"-Phase
- 2% Gelegenheitshörer, samt und sonders Begleitung der Hardcore- oder moderaten Fans
So spielt dann die Rush-Tributeband vor einem Publikum aus fast durchweg männlichen, verkopften, peniblen Musiknerds, die entweder die Albumversionen oder konkrete Live-Versionen genau Note für Note nachgespielt haben wollen. Gut, das dürfte viele Rush-Tributebands nicht jucken, rekrutieren sich deren Mitglieder ja aus ebendiesen Kreisen, spielt die Band also vor ihresgleichen. Und die Musiker in einer guten Rush-Tributeband haben genauso detaillierte Songkenntnisse wie ihre Hörer, von daher sollte das exakte Nachspielen nicht unmöglich sein.
Rush-Fans haben an sich mit Tributebands kein Problem. Warum auch. Wer die Musik jetzt spielt, ist ziemlich egal, Hauptsache, jemand spielt sie gut (und die Meßlatte für "gut" hängt hoch). Um die Rush-Mitglieder gibt es keinen solchen Personenkult wie um andere Künstler. Während in den 70ern ganze Heerscharen von Männern Agnetha Fältskogs Hintern angehimmelt haben, interessiert sich niemand für Geddy Lees Hintern. (Parallele: Beide singen in ungefähr derselben Stimmlage, was Geddy als Mann auch nicht unbedingt sexy macht.) Rush machen auch Musik, die nicht mit dem Herzen, sondern mit dem Kopf gehört wird – männlich und Geek zu sein, führt genau dahin. Unterm Strich sprechen Rush sehr viele Männer an, aber nahezu keine einzige Frau.
Von daher ist es selbst im an sich eingeschränkt erscheinenden Feld der Tributebands nicht möglich zu sagen, daß es immer die gleiche Mischung im Publikum gibt.
Martman