Bestimmung einer Tonleiter - und ein Blick auf melodisch Moll in der Musiktheorie

  • Ersteller Josha2004
  • Erstellt am
Aber ich habe dich weder als Dilettant noch als Ketzer bezeichnet.
Eher hatte ich dir recht gegeben, als ich es auch kenne, dass "Über-Theoretiker" ihre Theorien mit ihrem Regelwerk wie eine Bibel vor sich hertragen.
In meiner Kritik daran dürfte ich mich dann auch eher als "Ketzer" bezeichnen.

Die Bezeichnung "Dilettant" hatte im Übrigen ursprünglich nicht nur keine negative Konnotation, sondern sogar eine positive [https://de.wikipedia.org/wiki/Dilettant]:

Der Begriff galt ursprünglich dem nicht geschulten Künstler oder Kunstliebhaber. Er ist zusammen mit dem Verb dilettieren seit dem 18. Jahrhundert in der deutschen Sprache belegt und war besonders in der Bezeichnung musikalischer Werke zu finden, die „für Kenner und Liebhaber“ geschrieben wurden. Das Wort war dabei keineswegs abwertend gemeint, sondern diente vielmehr dazu, die Tätigkeiten der Adeligen von denen derjenigen abzugrenzen, die sie zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes ausüben mussten.

Nicht wenige Werke von J.S. Bach heben in der Widmung ausdrücklich den "Dilettanten" als Zielgruppe hervor, waren diese doch die sehr interessierten "Liebhaber" der Musik.

Die negative Bedeutung kam erst später auf, wann, finde ich jetzt nicht heraus, etabliert hat es sich so aber spätestens etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
 
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"Unsinnig ist die Aufteilung der Elementarlehre in drei Arten Moll, in drei Molltonleitern.
So ganz unsinnig finde ich das nicht. Von der eher deskriptiven Seite mag das seine Berechtigung haben, aber wenn man auf der produktiven Seite (Komposition, Improvisation) tätig ist, wird man ja häufig mit Begriffen wie z.B. HM5, MM4 oder MM7 konfrontiert, und da sollte man schon wissen, was HM oder MM bedeutet.

Viele Grüße,
McCoy
 
Von der eher deskriptiven Seite mag das seine Berechtigung haben, ...
Ich persönlich halte es auch für die deskriptive Seite für sinnvoll, wenn man sich darauf beschränken könnte, es auch wirklich nur für jene Abschnitte in der Musik (einzelne Phrasen) zu verwenden, in denen der Unterschied auch wirklich hörbar wird.

Thomas
 
Aber ich habe dich weder als Dilettant noch als Ketzer bezeichnet.
Nein, nein, alles gut - das war augenzwinkernd gemeint und auf eigene Kosten! Sooo weit waren wir ja tatsächlich gar nicht auseinander. Sorry, folks. BTT.
 
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... aber wenn man auf der produktiven Seite (Komposition, Improvisation) tätig ist, wird man ja häufig mit Begriffen wie z.B. HM5, MM4 oder MM7 konfrontiert, und da sollte man schon wissen, was HM oder MM bedeutet.

Ich persönlich halte es auch für die deskriptive Seite für sinnvoll, wenn man sich darauf beschränken könnte, es auch wirklich nur für jene Abschnitte in der Musik (einzelne Phrasen) zu verwenden, in denen der Unterschied auch wirklich hörbar wird.
Beim Verweis auf de la Motte und bei den Zitaten hätte ich darauf hinweisen müssen, dass sich die "Harmonielehre" von ihm ausdrücklich nicht auf die populären Genres (Jazz, Rock, Pop etc.) bezieht. Bei ihr geht die Spanne immerhin von etwa 1600 bis ins 20. Jahrhundert, aber eben beschränkt auf die "Klassik" bzw. bis maximal "klassische Avantgarde".
Da die Ursprünge vieler Verwirrungen in den Theoriebüchern zu eben diesen Genres zu finden sind, passt seine Kritik auch dahin. Ärgerlich und schade, wenn sich diese Verwirrungen bis in die populären Genres bzw. dem darauf bezogenen Lehrmaterial fortspinnen, vor allem, wenn diese sich wie Haunschild zu vereinfachend und pauschal auf historische Beschreibungen beziehen. Dessen "Neue Harmonielehre" wurde ja beim Erscheinen sehr gelobt von vielen Seiten, mittlerweile mag ich seine Bücher aber nicht mehr empfehlen.

Bei allen Überschneidungen, die es in groben Zügen zwischen den klassisch-historischen Genres und den modernen populären Genres gibt - folgen doch alle mehr oder weniger dem Weg der Dur-Moll-Tonalität -, so sind sie doch jeweils speziell und erfordern eine je eigene Vertiefung in ihre Details. Das sollte sich auch in den verwendeten Begriffen ausdrücken, die sich besser nicht unglücklich überschneiden sollten. So finde ich z.B. den Rückgriff der Akkord-Skalen-Theorie auf die Bezeichnungen der mittelalterlichen Modi (dorisch, phrygisch, usw.) zwar sprachlich durchaus reizvoll, inhaltlich hat beides aber nichts miteinander zu tun, so dass die Verwendung dieser Benennungen fachlich mindestens ungeschickt ist.
Schon in den mittelalterlichen Lehren zur modalen Musik der Zeit waren die Begriffe eigentlich insofern unkorrekt, als man sich auf die Bezeichnungen der Skalen im antiken Griechenland bezog. Aber wie spätere Forschungen ergaben, meinten man damit in der Antike einen anderen Skalenaufbau, schon alleine, weil die Skalen als abwärts gerichtete Linien betrachtetet wurden, und nicht aufwärts gerichtete, wie wir es seit dem frühen Mittelalter handhaben.
Aber die Altvorderen waren in der Forschung noch nicht so weit, dass sie die alten Quellen korrekt interpretieren konnten, da war der Fehler wohl unvermeidbar.

Ich hoffe, hier nicht selber als "Über-Theoretiker" zu erscheinen, wenn ich immer mal wieder so ins Detail gehe. Ich ´nutze´ das Forum und Themen wie diese gerne, um meine eigenen Gedanken zu schärfen, wozu auch das Niederschreiben sehr hilfreich ist. Und so ziehe ich immer wieder selber gute Gedanken und Ideen heraus für die Gestaltung meines eigenen Theorieunterrichts - wofür ich im Übrigen allen Diskurs- und Thread-Teilnehmern überaus dankbar bin. Ich will es hier ganz ausdrücklich sagen: Es gibt keine dummen Fragen!
Die "Theorie" soll das Musik-Machen unterstützen. Wenn sie beginnt, sich um sich selber zu drehen, wird sie nutzlos.
 
Ich verstehe, was die Gute damit sagen will, habe aber regelrecht Mitleid mit ihr, weil sie vermutlich ohne es zu ahnen in die Falle von übertrieben differenzieren wollenden (Über-)Theoretikern getappt ist.
Denn auch in der klassischen Musik unterscheidet sich melodisch Moll aufwärts von melodisch Moll abwärts - genau nicht!
Danke für den wichtigen Hinweis.

Die Falle scheint mir schon durch - vor allem, aber nicht nur - ältere Lehrbücher zur Harmonielehre aufgestellt. Nicht jedes ist offenbar auf dem Stand von de la Motte. Auch Emily Remler erfuhr bis zu ihrem Abschluss am Berklee College um Mitte der '70er Jahre nichts anderes.

Im meinem Notenregal gehen mehrere klassische Harmonielehren nicht auf auf unser Thema ein, weil es von den Autoren zur elementaren Musiklehre gerechnet wird (Grabner, Krämer, Wolf).
Dachs/Söhner, Harmonielehre (Kösel-Verlag 1978, 9. Aufl. S. 141) leitet melodisch Moll aus Notwendigkeiten der Melodieführung in harmonisch Moll ab. Zitat der für uns wesentlichen Stelle: "Bei der melodischen Abwärtsbewegung ist der Leitton der VII. Stufe, der zwingend zur Tonika führt, nicht mehr notwendig; denn die Melodie verlässt die Tonika. Damit ist auch die Erhöhung der VI. Stufe gegenstandslos und fällt weg."
Ergänzend folgt weiteren Auführungen dazu diese Grafik:
dachs-söhner.jpg

Anderslautende Stellen in Kompositionen werden im Buch nicht erwähnt.

Als ich vor Jahrzehnten meine Grundkenntnsise erwarb hatte ich zunächst Quellen mit eindeutigen Aussagen zur Hand, die ich mir (zu) gut gemerkt habe.
Willy Schneider, Was man über Musik wissen muss (Schott 1954, S.17), Zitat: "Wir unterscheiden zweierlei Molltonleitern: harmonisch-Moll, bei welcher der 7. Ton erhöht wird, und melodisch-Moll, bei welcher aufwärts der 6. und 7. Ton erhöht wird, abwärts beide jedoch wieder aufgelöst werden... Die harmonische und die melodische Moll-Leiter entwickelten sich aus der äolischen (reines Moll)."

Lisl Hammaleser, Übungsprogramm Musiklehre compact (Schott 1882, S. 70) schreibt bei den Molltonarten nach Einführung von harmonsich und melodisch Moll geradezu monolithisch, Zitat: "In der abwärts gerichteten Tonleiter werden beide Erhöhungen wieder aufgehoben."

... und natürlich noch ein Blick in die Abteilung für Popularmusik:
Mike Schoenmehl, Jazz und Pop Musiklehre (Schott 2008, 3. Auflage, S. 80), Zitat: "In der klassischen Harmonielehre wird die melodische Molltonleiter abwärts anders geführt, nämlich so wie die natürlich Molltonleiter, das klingt geschmeidiger."

Fritsch/Kellert/Lonardoni, Harmonielehre und Songwriting (Leu-Verlag 1995) beschreiben melodisch Moll mit Auflösungen der VIII. und VI. Stufe abwärts. Der Text kommentiert eine Grafik, Zitat:
"Die Erhöhung der 6. und 7. Stufe wurde allerdings nur in der Aufwärtsbewegung gemacht. Bei der Abwärtsbewergung werden diese Töne wieder aufgelöst. In der heutigen populären Musik wird diese Regel allerdigns nicht mehr beachtet."

Graf/Nettles, Die Akkord-Skalen-Theorie (Advance Music 1997, S. 85f) liest sich recht erhellend. Zunächst ist bei Einführung in Moll die Rede von "verschiedenen Ausformungen" durch Unterschiede im zweiten Tetrachord, die anschließend erläutert werden, Zitat:
"Die klassische Harmonielehre zieht nur drei Moll-Tonarten in Betracht: Natürlich, harmonisch und melodisch Moll. Die Tonleiter dorisch Moll darf aber nicht unberücksichtigt bleiben, da sie eine wichtige Quelle für Ausweichungen und Modulationen ist.
Bezüglich der traditionellen Behandlung des melodisch Moll muss gesagt werden: Es gibt nur eine Richtlinie und kein Gesetz, dass große Sext und große Sept hintereinander nur in aufsteigenden und kleine Sext, kleine Sept nur in absteigenden Linien (melodisch Moll) auftreten. Im zeitgemäßen Gebrauch gibt es eine große Sext und Sept auf- und absteigend. Diese Erscheinung kann bereits in früher Musik nachgewiesen werden."
Als Beispiele für den letzten Abschnitt dienen Stellen aus dem Wohltemperierten Klavier I, Fuge in a Moll und Fuge in f-Moll.

Mulholland/Hojnacki, The Berklee Book of Jazz Harmony (Berklee Press 2013, S.83ff) stellt folgende Molltonleitern (minor scales) vor: natürlich Moll, harmonisch Moll, melodisch Moll, dorisch Moll, phrygisch Moll.
Es wird darauf verwiesen, dass Stücke aus dem Jazz in Moll selten nur eine der Skalen benutzen. Dem Titel des Lehrbuchs entsprechend werden vor allem die harmonischen Bezüge und Funktionen (tonikal, subdominant. dominant) der sich aus diesen "Molltonleitern" ergebenden Akkorde untersucht, vermutlich aus Gründen des Copyright allerdings nur mit 2 Kompoitionen der Autoren am Kapitelende und ansonsten nur mit recht allgemeinen Verweisen auf bekanntere Titel aus dem Jazzrepertoire.

Mathias Löffler, Rock & Jazz Harmony (AMA Verlag 2018, S. 101) verweist nach der Einführung in "Die Welt in Moll" darauf, dass natürlich Moll die "grundlegende Bezugsskala" ist und neben Kompositionen in ausschließlich natürlich Moll auch der Wechsel mit harmonisch Moll häufig, das Auftreten im Verbund mit melodisch Moll oder aller drei Molltonleitern in einem Stück dagegen seltener ist. Eine Zitatstelle zur Auflösung der Erhöhungen bei Abwärtsführung der Melodie in melodisch Moll konnte ich nicht finden.

Frank Sikora, Die Neue Jazz Harmonielehre (Schott Music 2003, S. 53) gibt keine Hinweise zur musiktheoretischen Einbettung und führt MM sowie HM nach Vorstellung der Dur-Modi ein als "zwei weitere Tonleitertypen".

Dariusz Terefenko, Jazz Theory (Rutledge 2014, S. 7) schreibt: "In addition to the so-called "natural" [Fettdruck im Original] minor, there are two additional "shades" of minor: harmonic and melodic [jeweils Fettdruck im Original]. Die Grafik zeigt eine Auflösung der Erhöhungen bei melodisch Moll abwärts geführt an.
terefenko.jpg



Gruß Claus
 
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... aber wenn man auf der produktiven Seite (Komposition, Improvisation) tätig ist, wird man ja häufig mit Begriffen wie z.B. HM5, MM4 oder MM7 konfrontiert, und da sollte man schon wissen, was HM oder MM bedeutet.
Ich persönlich halte es auch für die deskriptive Seite für sinnvoll, wenn man sich darauf beschränken könnte, es auch wirklich nur für jene Abschnitte in der Musik (einzelne Phrasen) zu verwenden, in denen der Unterschied auch wirklich hörbar wird.
Und genau das macht die Schönheit einer Molltonart aus. Nämlich, dass sie durch den Akkord-Pool dieser 3 Molltonleitern wesentlich facettenreicher als eine Durtonart, die nur auf einer Tonleiter aufbaut, ist.
Wichtig bei der Wahl der Chordscale ist natürlich die Funktion der aktuellen Harmonie.
Hier gibt es einige Faustregeln, die die Grundzüge des harmonischen Ablaufes bei Kadenzen unterstützen.
Dazu hier meine Tabelle, die das Ganze etwas überschaubarer machen soll.

1672853741002.png


Beispiel "Cheese Cake" von Dexter Gordon in C Moll:

1672855488407.png
 
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@Claus, tolle Zitat-Zusammenstellung!

Nicht jedes ist offenbar auf dem Stand von de la Motte.
Die Erstauflage seiner Harmonielehre kam schon 1976 heraus.
Beitrag automatisch zusammengefügt:

Und genau das macht die Schönheit einer Molltonart aus. Nämlich, dass sie durch den Akkord-Pool dieser 3 Molltonleitern wesentlich facettenreicher als eine Durtonart, die nur auf einer Tonleiter aufbaut, ist.
Und das offensichtlich seit alters her, denn wie die musikalische Praxis in historischer Zeit beweist, pflegten die Komponisten schon früh nach der Etablierung der Dur-Moll-Tonalität sich aus dem Vorrat der 9-Tönigen Moll-Skala vollständig zu bedienen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Cheese and rice! Das ist doch sofort wieder eine Bestätigung meines "Rants" von neulich. Es wird doch TATSÄCHLICH vielfach so gelehrt, dass MM aufwärts ANDERS verläuft, als abwärts. Bei Wikipedia findet sich die schöne Abkürzung MMA: Melodisch Moll Aufwärts. Wenn ich euch da oben richtig verstehe, dann ist das Quark, bzw. unnötig, gell?

WEIL es AUSSCHLIEßLICH auf die Intervalle ankommt? Das hieße hier, "Melodisch" besteht aus exakt denselben Intervallen, egal, ob auf- oder abwärts..? Und "Nimm' abwärts Natürlich Moll!" ist eine Regel, die genau deswegen nötig und ansonsten autark ist? Melodisch ist aufwärts Melodisch wegen der Intervallfolge - und "wäre" abwärts dasselbe "rückwärts" (gleiche Intervalle in umgekehrter Reihenfolge)?

Mit anderen Worten: Aufgrund der o. a. Regel wird Melodisch abwärts einfach nur "nicht verwendet"?
 
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Ich will mir keine Auszählung anmaßen, mein Eindruck entspricht jedoch keinem gleichen Verhältnis der Beispiele für Abwärtsführung in melodisch Moll mit Erhöhungen gegenüber der "Lehrbuchmeinung".

Aber Totgesagte leben länger, dazu noch ein Zitat aus Bonedo Harmonielehre-Workshop #5 (2012):
"In der Klassik wird melodisch Moll aufwärts und abwärts unterschiedlich gespielt. Das heißt, abwärts erklingt eine natürliche Molltonleiter."

Eine weniger starre Formulierung würde dem musikalischen Nachwuchs den im Thread diskutierten Irrglauben ersparen, z.B.:
"In der klassischen Musik wird melodisch Moll aufwärts und abwärts häufig unterschiedlich gespielt. Wenn in der Abwärtsbewegung die Erhöhungen der VII. und VI. Stufe aufgelöst werden, entsprechen die Töne dem natürlichen Moll."

Es reicht für unsere Zwecke aber auch, eine Regel als Hilfe zur Orientierung anstatt als Vorschrift aufzufassen. :)
Noch einmal Zitat Bonedo: "Das soll uns im Rock/Pop/Jazzbereich allerdings nicht weiter interessieren – dort ist diese Unterscheidung eher unüblich."
Für beide Zitate Quelle: https://www.bonedo.de/artikel/harmonielehre-workshop-5-harmonisch-vs-melodisch-moll/

Gruß Claus
 
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Wenn ich euch da oben richtig verstehe, dann ist das Quark, bzw. unnötig, gell?
Ich glaube, Du tust Dir leicher, wenn Du die Tonleitern nicht als lineare Fingerübung ansiehst, sondern als Tonvorrat, mit dem
sich arbeiten läßt.
Und bei abwärts gerichteten Melodien ist aufgrund mehrerer Faktoren, von denen einige hier schon angerissen wurden, der Tonvorrat von NM eher geeignet als der Tonvorrat von MM. Das ändert aber nichts daran, daß ein in bestimmter Weise zusammengesetzter Tonvorrat (z. B. MM) auch immer gleich heißt.
Und schon gar nicht heißt es, es wäre verboten, abwärts MM zu benützen.

LG
Thomas
 
Eben weil ich das nicht tue, bin ich ja in die "Falle" getappt: Mein (Miss-!)Verständnis war, eine "Tonleiter" kann aufwärts einen anderen "Tonvorrat" haben, als abwärts. Das stimmt aber NICHT, wenn man MM als "eigene" Tonleiter betrachtet. Dieser Idee folgend sind NM, HM und MM drei EIGENSTÄNDIGE Tonleitern, mit EINeindeutigem Tonvorrat und ich WECHSLE die Ton - ähem - "leiter"..? Gar "-art"..?, wenn ich abwärts NM spiele.

ODER (so habe ich CUDO weiter oben verstanden) man betrachtet die "Variationen" NM, HM und MM als Teil EINER übergeordneten Struktur ("Molltonleiter") mit dann eben entsprechend erweitertem Tonvorrat. Was mir dann aber theoretisch "erlaubte", auf- wie abwärts alles zu benutzen, was in NM ODER HM ODER MM drin ist.
Genial! Das "A" gilt sowohl für auf- als auch für abwärts.
Exakt. Reiht sich damit sehr schön ein in "übliche" Erklärungsversuche...
 
Selbst Arnold Schönberg schreibt in seiner Harmonielehre [Reprint der Auflage 1922, S. 113]:

"Somit gibt es zwei Formen der Mol-Skala, die unter dem Namen der melodischen Mollskala bekannt sind. Die s t e i g e n d e, welche die unerhöhten Töne der siebenten und sechsten gegen erhöhte vertauscht hat, und die f a l l e n d e, welche die blanke Reihe der unerhöhten Töne verwendet. Die beiden Reihen werden nicht miteinander gemischt; aufwärts sind die erhöhten, abwärts lediglich die unerhöhten zu verwenden." [Hervorhebungen wie im Original]

Eine Moll-Skala mit 9 Tönen wie bei de la Motte taucht bei ihm nicht auf, interessanterweise listet er aber 13(!) Stufenklänge des Moll (S. 114), die neben den Varianten mit unerhöhten Stufentönen 6 und 7 zusätzliche alle Varianten mit den Erhöhten bringen. Das hätte folgerichtig zur Skala "komplett-Moll" oder "vollständig-Moll" (ich nenne sie jetzt mal so) mit 9 Tönen führen müssen. Auf den Gedanken kommt Schönberg aber nicht.

Hier bleibt er dem Regel-basiertem Denken vor allem der Epoche des 19. Jahrhunderts verhaftet. Insgesamt atmet seine Harmonielehre sehr viel 19. Jahrhundert, nicht nur in der sprachlichen Weitschweifigkeit, sondern in den vielen mehr musikphilosophisch angehauchten Passagen, in denen er z.B. über die "Natürlichkeit" von Klängen und Skalen fabuliert.

Das ist die Krux einer zu stark auf Regeln abzielenden Musiktheorie schlechthin: Über die Epochen und Genres hinweg entwickeln sich in der realen Musik stets neue Wendungen, Formen, Klänge, usw. Da können sich Regelwerke allenfalls nur auf konkret abgegrenzte und umrissene stilistisch zusammenhängende Genres beziehen. Aber selbst dann klemmt es immer wieder schnell an allen Ecken und Enden, denn kreativer Geist lässt sich nicht einengen.

Gerade Harmonielehre müsste eigentlich immer wieder die Statistik zu Rate ziehen und mit Wahrscheinlichkeiten arbeiten. Dann käme es wahrscheinlich eher zu Formulierungen wie der Folgenden:
Es fällt auf, dass in der Epoche von Bach und Händel aufsteigende melodische Linien in Moll-Arien/Moll-Stücken meistens die erhöhte 6. und 7. Stufe bringen. Da es melodische Wendungen sind, erlaubt es, die daraus abgeleitete Skala "melodisch-Moll" zu nennen. Folgt darauf eine absteigende Linie, werden diese Erhöhungen wieder aufgehoben, überhaupt finden sich diese Erhöhungen bei absteigenden Linien seltener. Für absteigende Melodielinien dieser Epoche lässt sich daher sagen, dass sie vorwiegend die Skala natürlich-Moll nutzen. In der Summe nutzen Stücke in Moll in dieser Epoche (aber auch darüber hinaus) praktisch immer eine Moll-Skala mit 9 Tönen: "vollständig-Moll".

Eine mehr statistisch-analytische Betrachtung wäre überhaupt aufschlussreicher.
So wird man einen Dominantseptnonenakkord bis in die Klassik hinein kaum bis gar nicht finden. Bilden hätte man diesen Akkord schon können, aber er entsprach absolut gar nicht den Hörgewohnheiten dieser Epochen. Im 19. Jahrhundert wird man ihn dagegen immer öfter finden, er ist in dieser Epoche ein sehr beliebter Akkord. Denn er passt sehr gut zu den Hörgewohnheiten dieser Zeit.
Major-7-Akkordstrukturen (eigentlich eher Klangstrukturen) finden sich zwar schon bei Bach und Zeitgenossen, aber in einem gänzlich anderen Kontext und einem komplett anderen Status als später im Jazz. Bei Bach sind es stets Vorhalts- und Durchgangsklänge, im Jazz ganz eigenständige und zentrale Akkorde.
Hier muss die strukturelle Analyse weiter helfen, da würde ein rein statistische Erfassung einen falschen Eindruck liefern.

Ohne eine Einbettung in den historischen und stilistischen Kontext der betreffenden Musik und der Einbeziehung von statistischen Häufigkeiten und Wahrscheinlichkeiten von Strukturen und Wendungen in den Genres wird Harmonielehre schnell zu einer abgehobenen, nur um sich selbst kreisenden, quasi Inzucht-artigen Materie. Wenn dann noch Regeln wie eherne Gesetze formuliert werden, kommt schließlich - mindestens stellenweise - fachlicher Unfug heraus.
Wenn der dann auch noch über 100 Jahre so kolportiert wird, glaubt alle Welt, dass wie beim Thema hier harmonisch-Moll immer nur aufwärts zu spielen sei und immer abwärts natürlich-Moll folgen müsse. Daraus wird dann harmonisch-Moll als Set im Doppelpack, und wird irgendwann nur noch so in den Lehrbüchern angeboten.*

Gut, dass es kritische, kreative und fleißige Geister gibt/gab wie de la Motte. Denn der Aufwand, seine Argumentation und seine Analysen mit jeder Menge Literatur-Zitate zu untermauern bedarf eines gewaltigen und detaillierten Überblicks über die Thematik und die Musikgeschichte.


*) Nachtrag:
Das erinnert mich an den über Jahrzehnte, teilweise bis heute, kolportieren fabelhaft hohen Eisengehalt von Spinat. In einer Veröffentlichung dazu aus den 1930-er Jahren war das Komma um eine Dezimalstelle verrutscht und dadurch der Eisengehalt erheblich zu hoch angegeben worden. Erst 1981 wurde dieser Fehler in einem Beitrag des "British Medical Journal" aufgeklärt. Die falschen Werte geistern aber immer noch herum.
 
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... sind NM, HM und MM drei EIGENSTÄNDIGE Tonleitern, mit EINeindeutigem Tonvorrat und ich WECHSLE die Ton - ähem - "leiter"..? Gar "-art"..?, wenn ich abwärts NM spiele.
Ich sehe es wie @CUDO II :
Das große Klanggebäude "moll" hat beinahe unendlich viele verschiedene klangliche Ausformungen und Möglichkeiten, und diese werden in aller Regel auch schön durcheinandergemischt und miteinander kombiniert. Deswegen sind (auch) für mich Musikstücke in moll im Durchschnitt viel spannender, ergiebiger, abwechlungsreicher als ihre Dur-Kollegen, weil sich an jeder Ecke eine praktikable Möglichkeit bietet, harmonisch irgendwohin anders abzubiegen. Da kann man vieles anstellen, das gleichermaßen überraschend und dennoch logisch schlüssig ist.
Ist "moll" der große Schreibtischkasten, dann sind die einzelnen Tonleitern (MM, HM, Äol, Do) die einzelnen Schubladen darin, mit denen man arbeitet und derer man sich bedient.
Man muß nicht den ganzen Schreibtisch wechseln, nur weil man einmal eine andere Schublade zur Hand nimmt.

Ob Dir diese Überlegungen tatsächlich weitergeholfen haben, vermag ich nicht zu beurteilen ...

Thomas
 
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Ich finde, jetzt reicht es aber langsam. Ich nehme zur Kenntnis, dass - was ich vor 30 Jahren gelernt habe - irgendwie richtig sein mag, aber nicht die einzig sinnvolle Herangehensweise. Und im Lehrbetrieb durch andere Betrachtungsweisen abgelöst wurde. Da ist Schönberg sicherlich kein Gegenbeispiel, sondern er wird seine Prägung gehabt haben, warum er aus der klassischen Tonalität erstmal ausgebrochen ist. Wenn du, Claus, jetzt in diesem Zusammenhang das branchenfinanzierte Bonedo zitierst, zieh ich dann doch die Augenbrauen hoch.

Was eine Tonleiter (außer bei Fingerübungen) überhaupt in der Musik zu suchen hat, wäre ja nochmal eine ganz andere Frage. Zunächst mal finde ich es passend, in diesem Zusammenhang von vornherein von einem Tonvorrat zu sprechen. Und dass ich meiner gelernten Nomenklatur (Haunschild) innerlich ein wenig verhaftet bleibe, sollte niemanden stören - ich werde in Zukunft beachten, dass im allg. Sprachgebrauch sich die Ansicht durchsetzt, melodisch Moll als alternativen Tonvorrat v.a. für aufsteigende Linien zu betrachten, egal in welche Richtung aber von MM zu sprechen. Von mir aus, denk ich mir als Dilettant auf diesem Gebiet.

Das einzige, was ich für mich aktuell zu entscheiden habe, ist, ob ich die Skala lieber 'Jazz Minor' oder 'melodisch Moll' nennen will - denn beide Bezeichnungen haben für mich jetzt nur noch eine begrenzte Plausibilität: Ich verstehe zumindest die Herkunft des Namens immer noch so, dass da eine elegantere Stimmführung für aufsteigende Linien gefunden werden sollte, sofern die dominantisch erhöhte 7. Stufe im Spiel ist. Das sind eben so Wechselwirkungen von Melodie und Harmonik, auf die wir an allen Ecken und Enden stoßen. Meinetwegen nennt man diese Skala auch außerhalb des ersten Anwendungsfalls bei ihrem mal etablierten Namen.

Im vorliegenden Thread habe ich nun außer der philosophischen Frage nach dem Umfang der Anwendung des Begriffs 'melodisch Moll' gelernt, dass es auch noch abgekürzte Stufenbezeichnungen wie MM4, HM5 und solche Späße gibt - merke ich mir mal für später. Werde mich aber zunächst weiter bei meinem eigenen Lernen mit den verrückten (vermutlich, aber nicht sicher) rein pragmatischen Akkordbezeichnungen des Real Book auseinandersetzen (z.B. 7(b5)), bevor ich auf die Skalen und ihre Bezeichnungen zurückkomme.

Dem TE wünsche ich, dass er jetzt nicht einen Schaden fürs Leben abbekommen hat, sondern weiter sein Grundwissen nachbüffelt - denn auch in der Musik gehen die Dinge ja irgendwie Schritt für Schritt, so dass man irgendwie voran kommt, zwischendrin komplett 'neue' Umgebungen entdeckt und irgendwann auch merkt, in welcher Richtung man eigentlich grade unterwegs ist. Und ich glaube nach wie vor, dass es bei uns viele Richtungen gibt, die sich lohnen.
 
Unsere Beiträge haben sich überschnitten. Diesen eine Satz habe ich geschrieben, als die Beiträge #34 und #35 noch nicht da waren. Aber mit einem Bezug noch weiter zurück zu Tremar und Claus. Hatte mit dir, turko, nichts zu tun.

Vielleicht ist deutlich geworden in meinen Ausführungen, dass ich jedenfalls jetzt einen Knopf dran mache...
 
Das einzige, was ich für mich aktuell zu entscheiden habe, ist, ob ich die Skala lieber 'Jazz Minor' oder 'melodisch Moll' nennen will
Ein Tipp: Wenn du mit "Klassikern" zu tun hast, wirst du mit "Jazz Minor" nur fragende Blicke ernten. Jazz-Musiker werden damit eher etwas anfangen können, "melodisch-Moll" werden sie aber meistens auch verstehen. Welche Worte du gebrauchst, ist also auch Kontext-abhängig. Meiner Einschätzung nach dürfte "melodisch-Moll" resp. "MM" universeller sein.

Dem TE wünsche ich, dass er jetzt nicht einen Schaden fürs Leben abbekommen hat, sondern weiter sein Grundwissen nachbüffelt
Dass die Diskussion so umfangreich und komplex werden würde, konnte es ja nicht ahnen. Die (gerade auch von mir) zum Teil heftige Kritik an schon lange gebräuchlichen Lehrbüchern, die oft als Standardwerke galten oder noch gelten, ist ja eine ordentliche Hausnummer, das war so nicht zu erwarten.
Hoffentlich konnte diese Diskussion etwas zur Klärung beitragen. Eine Reform im musiktheoretischen Denken werden wir hier sicher nicht anstoßen können.

Und ich glaube nach wie vor, dass es bei uns viele Richtungen gibt, die sich lohnen.
Auf jeden Fall! Musik ist so herrlich vielfältig, es lohnt auch sehr, über den abendländischen Kulturkreis hinaus zu blicken und zu hören.
Die Töne und Klänge erreichen uns mit offenem Ohr und Herz - und das auch ganz ohne irgendwelche Kenntnisse theoretischer Hintergründe.
 
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Ob Dir diese Überlegungen tatsächlich weitergeholfen haben, vermag ich nicht zu beurteilen ...
Ich auch nicht... 😘 Spaß beiseite. Ein Stück weit fühle ich meinen Eindruck bestätigt, dass es sich hier eben einfach nicht um eine lupenreine Lehre handelt. Ich wünschte mir dann halt nur auch, dass nicht so oft so getan wird. KEIN aktueller Vorwurf an irgendjemand "anwesenden"! 😬
 
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