Bei aller faktischen Willkür bei der Bestimmung einer (jeder) Stimmtonfrequenz, wie eben auch bei der Festlegung 1939 für a1=440 Hz, kann eben diese Festlegung als folgerichtiges, sinnvolles und notwendiges Ergebnis eines mehrere Jahrhunderte währenden Prozesses begriffen werden, bei dem es viele Irrungen und Wirrungen gab. Die Irrungen gab es, eben weil es
keinen Bezug auf eine "natürliche" Zentral-, Basis- oder was-auch-immer-Frequenz gibt.
A propos Frequenz. Wie
@OckhamsRazor schreibt, waren die maßgeblichen Leute bei der Konferenz 1939 Akustiker und Rundfunktechniker, genau aus dem Grund, weil sie Töne und Frequenzen präzise
messen konnten.
In den ganzen Quellen zum Thema, auch allen hier verlinkten, und selbstredend im Ausgangspost ist stets von Frequenzen und Frequenzangaben in "Hz" die Rede.
Ich habe mich irgendwann gefragt, seit wann es wohl möglich war, Schallfrequenzen quantitativ genauer zu erfassen, sie also zu
messen.
Bei meiner Suche habe ich zwar etliche weitere interessante Quellen gefunden, aber leider keine wirkliche Antwort auf diese Frage.
Wirklich genaue Messungen hat es wohl erst gegeben, als man diese mit elektronischen Mitteln durchführen konnte, mindestens mit elektromechanischen Mitteln.
Als SI-Einheit existiert Frequenz erst seit 1930, sie erhielt auch damals erst damals die Einheiten-Bezeichnung Hertz (Hz) zu Ehren des Physikers Heinrich Hertz.
Der Wellencharakter des Schalls und dass es sich dabei um Schwingungen handelt, war allerdings in der Antike schon bekannt. Was nicht verwundert, da es sich beim Ton, den z.B. eine Saite abgibt um ein sinnlich und haptisch gut erfassbares Phänomen handelt. Das Monochord, das u.a. von Pytagoras für seine "Messungen" verwendet wurde, darf man sicher auch als ein für die menschlichen Sinne gut zugängliches Gerät bezeichnen.
Aber um Musik ging es dabei seinerzeit und bis weit in die Neuzeit erst mal nicht. Es ging um - Mathematik!
Pytagoras und seinen Kollegen ging es in erster Linie um Proportionen, um mathematische Verhältnisse, die Intervalle waren mehr oder weniger angewandte Mathematik. Diese Proportionen in ein Verhältnis zu kosmischen Proportionen, also z.B. Planeten-Umlaufbahnen, zu setzen entsprach den gängigen philosophischen Denk-Kategorien jener Zeit.
Das Ausmessen und Ausrechnen von Intervallen (=Proportionen) war mit dem Monochord gut zu machen, die Bestimmung, also die Messung konkreter Frequenzen war aber noch sehr lange unmöglich.
Zum einen, weil es dazu sehr präziser Zeitgeber bedurfte (die Bezugseinheit ist ja die Sekunde), die erst im 18. Jahrhundert aufkamen, und zum anderen, weil es ab einer bestimmten Frequenz schlicht unmöglich ist, die Schwingungen ohne weitere Hilfstechnik zu zählen. Zählbar, also mit dem bloßen Auge beim Schwingen einer Saite erkennbar, sind nur ganz niedrige Frequenzen (die Grenze würde ich mal pauschal bei maximal 16 Hz vermuten, das wären als Vergleich 16 64-tel bei MM=60). Diese sind aber nicht hörbar, so dass eine gehörsmäßige Kontrolle der Intervalle bei derart tiefen Frequenzen auszuschließen ist.
Ich beziehe das mal auf die mehrfach schon erwähnte Berechnung eines C mit 256 Hz aus der Grundfrequenz 1 Hz. Erst ab der 6. Oktave, also ab 32 Hz wird der Saitenton hörbar - unter günstigen Voraussetzungen eines entsprechend sonor klingenden Monochords. Von da ab erst kann das Gehör bei der Kontrolle exakter Oktaven helfen um schließlich auf ein 256 Hz-C zu kommen.
Die reine gemessene Längenteilung der Saite sollte zwar theoretisch ausreichen, die Oktaven genau festzulegen, aber schon geringe Inharmonizitäten der Saite und kleinste Messfehler würden schon zu Abweichungen beim Erreichen der Hörschwellen-Frequenz von 32 Hz führen, z.B. 31,9 oder 32,1 Hz. Das könnte vom Gehör nicht kontrolliert werden. Ein geschultes Gehör kann zwar Intervalle, Skalen usw. sehr gut bestimmen (was in einem Musiker-Board nicht näher erläutert werden muss), aber niemals eine
absolute Frequenz - das Ohr/Gehör hat schier phänomenale Fähigkeiten, ist aber kein Frequenzzähler.
Bei 31,9 Hz läge das C bei 255,2 Hz, bei 32,1 bei 256,8 Hz.
Auch wenn diese Abweichungen kaum von Bedeutung sind, machen diese Rechnungen aber beispielhaft deutlich, dass es für die Musikausübung bis zur Entwicklung einer genauen Frequenz-Messtechnik
praktisch unmöglich war, sich auch nur halbwegs exakt auf irgendwelche angenommen "kosmischen" oder sonstige Bezugsfrequenzen zu beziehen zur Festlegung konkreter Töne.
Umgekehrt ist es für die rein mathematische Betrachtung und Berechnung von Intervallen/Proportionen nicht nötig, zu wissen, von welcher Ausgangsfrequenz man jeweils ausgeht. Die kann einfach und willkürlich gesetzt werden (z.B. 100 Schwingungen), und dazu kann nach Belieben auch jede noch so esoterisch anmutende "kosmische Schwingung" hergenommen werden.
Die Mathematik (und die Philosophie) der Intervalle und des Schalls war daher bis fast in die Neuzeit hinein strikt von der Musikausübung,also von der konkret erklingenden Musik getrennt.
Aus der schlichten Unmöglichkeit, Schallfrequenzen
messen zu können, erschließt sich für mich folgerichtig, dass die Tonhöhen der praktizierten Musik über so lange Zeiträume nicht anders als mehr oder weniger frei und willkürlich und daher auch immer wieder so stark unterschiedlich festgelegt wurden.
Orgelpfeifen-Längen wurden und werden in Fuß angegeben (8´/ 4´ / 2´ etc.), wobei sich diese Bezugs-Angabe immer auf die akustisch wirksame Länge der (offenen) Pfeife des tiefsten Tones der Klaviatur bzw. des Pedals bezieht, der üblicherweise immer ein C ist. Alleine schon aus der Tatsache, dass das "Fuß"-Maß seinerseits nicht genormt war und dass es dabei auch Unterschiede zwischen eng benachbarten Gebieten gab, könnte schon eine hinreichende Ursache dafür sein, dass Orgeln so viele und so deutliche Unterschiede in ihrer Stimmung aufwiesen (neben der weiter oben schon erwähnten Musizier-praktischen Unterscheidung zwischen "Cammer-" und "Chor-/Cornett"-Ton).
Wenn in den Quellen Hz-Angaben zu den Orgel-a1-Tönen, aber auch zu den früheren Stimmgabeln auftauchen, stammen diese offensichtlich aus Messungen aus neuerer Zeit, wo man z.B. historisch im Original erhaltene Orgelpfeifen, Blasinstrumente, Stimmgabeln, Mensuren von Tasten- und Streichinstrumenten untersucht hat (wobei bei letzteren durch die leichte Umstimmbarkeit von Saiten ein größerer Spielraum gegeben sein dürfte), und aus Frequenzberechnungen nach den bemaßten Aufzeichungen/Bauplänen damaliger Orgel- und anderer Instrumentenbauern, aber auch beispielsweise aus bemaßten Illustrationen in theoretischen Schriften wie dem "Syntagma Musicum" von Praetorius.
Die einzige Betrachtungsweise der verschiedenen Stimmungen und Stimmsysteme kann daher nur eine, pragmatische und empirisch-historische sein, und keine verabsolutierende mit Bezug zu "natürlichen" Frequenzen. Und schon gar keine esoterische.
Guten Rutsch!
Gruß, Jürgen
Nachtrag - einige interessante Links, auf die ich bei der Suche gestoßen bin.
Nochmal zum Durcheinander früherer Stimmungen:
https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-663-10762-0_11
Interessante und ausführliche Arbeit über Stimmungen und Temperaturen:
https://iem.kug.ac.at/fileadmin/media/iem/altdaten/projekte/publications/bem/bem10/bem10.pdf
Sehr umfangreiche Publikation über Klangfarbe mit einem Schwerpunkt zur den historischen mathematisch-philosophischen Arbeiten:
https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/163129/1/20040052.pdf
Dazu passende historische Tabelle wichtiger Persönlichkeiten, die über Schall, Akustik und deren Mathematik gearbeitet, geforscht und publiziert haben (leider nicht chronologisch, sondern alphabetisch sortiert)
http://mu-sig.de/Theorie/Akustik/Akustik09.htm
Hier noch ein weiterer Nachtrag, es geht um den "Phonautographen", der das allererste Gerät zur Aufzeichnung von Schall war, aber nur zur quantitativen Bestimmung, wiedergeben konnte es die aufgezeichneten Schallspuren nicht:
https://de.wikipedia.org/wiki/Phonautograph