Alter Schwede, was für eine rege und kontroverse Diskussion! Es geht auch ohne den TE, wäre ja nicht das erste mal im Forum ... (vielleicht kommt er auch wieder zurück).
Würde gerne mehr schreiben, aber es ist schon so spät. Deshalb hier für´s erste nur ein Kommentar zur kurzen Leseprobe aus Post #1, respektive dem ersten Absatz daraus:
Dieses selbstständige Entdecken, oder im ersten Schritt vielleicht nur vorsichtige Variieren, kommt im handels-üblichen Instrumentalunterricht normalerweise nicht vor. Oder hat dich dein Lehrer schon einmal animiert, ohne Vorgaben einfach loszulegen? Dabei ist das bewusste Ausprobieren meiner Erfahrung nach die wohl effektivste (und vielleicht sogar einzige) Methode, etwas wirklich zu Lernen und vollständig zu verinnerlichen.
Es wird deutlich, dass der TE das selbständige Entdecken in dem ihm widerfahrenen Unterricht vermisst hat. Hat er es den Lehrern gegenüber angesprochen? In dem kurzen Script erfahren wir es nicht. Aber er schreibt von seinen eigenen Entdeckungs-Erfahrungen und dass sie ihm geholfen haben. Das kann man nicht kritisieren, es ist ihm im Gegenteil zu gönnen. So weit, so gut, aber nun kommen die Schlussfolgerungen und kategorisch-verallgemeinernden und pauschalen Empfehlungen, ja fast Lehrsätze wie im zitierten Abschnitt. Und diese Aussage stimmt in dieser pauschalen Form vorne und hinten nicht.
Tatsächlich stimmt im Allgemeinen, dass etwas, dass man vollständig verinnerlicht hat auch am besten beherrscht wird. Auch dass eigenes, bewusstes Ausprobieren und die eigene Erfahrung sehr tiefe Quellen des Wissens und des eignen Könnens sein können, ist unbestritten.
Aber dies als die effektivste - und vielleicht einzige - Methode des "wirklichen"
Lernens zu postulieren ist schlicht Unsinn.
Es kommt auf die Materie und die Gegenstände des Lernens an, auf die Kontexte und ganz zuvorderst auch auf die individuellen Auffassungsmöglichkeiten und Fähigkeiten des Lernenden selber an. Nicht zu vergessen die Vorerfahrungen und das Vorwissen, wie insbesondere die Gehirnforschung es berichtet - neu zu lernendes muss nämlich an vorherig erfahrenes und gelerntes anknüpfen um gut gespeichert zu werden. Ein individueller Mix also, mit dem der Lehrende rechnen und mit dem er umgehen muss, was von ihm eine gute Beobachtungsgabe und einen sensiblen Umgang mit den Schülern fordert. Daran mag es den Lehrern des TE möglicherweise gemangelt haben. Um das wiederum fair beurteilen zu können, müsste aber auch die andere Seite zur Sprache kommen. In der Leseprobe wird dazu nichts erwähnt.
Um die Absurdität dieses Postulats zu verdeutlichen seien mir zwei zugegebenermaßen sehr überspitze Beispiele erlaubt - aber in der Überzeichnung wird oft der Kern der Sache besonders deutlich.
Wenn eine Fahrschule damit werben würde, dass man "ohne Vorgaben einfach loslegen", "den Fahrschüler gerne selbständig entdecken lassen" möchte, da nur "das Ausprobieren effektiv" sei - hätte man zu so einer Fahrschule vertrauen? Wahrscheinlich würde man ihr sehr schnell die Zulassung entziehen, es würde sich auch bald kein Versicherer mehr für deren Fahrzeuge finden.
Oder, noch etwas extremer: Würde man bei einer Firma für Starkstrom-Elektrik vorbehaltlos eine Lehre anfangen wollen, wenn sie mit solchen Aussagen für ihre Lehre werben würde?
Nun ist die Musik ohne Zweifel ein viel, viel besseres Spielfeld für Experimente jeder Art, auch ein viel, viel ungefährlicheres als der Straßenverkehr oder ein Hochspannungstrafo. Aber die vielen Berichte von Autodidakten, die sich üble Spielfehler angeeignet haben und dann am Instrument traurig und frustriert fest gelaufen sind, sind auch alles andere als lustig.
In diese Kategorie gehört im übrigen auch das unselige Konzept des "Schreiben Lernens wie man spricht", das ein gutes Jahrzehnt bundesweit durch viele Grundschulen geisterte und von dem man sich gottseidank so allmählich wieder verabschiedet. Das war - leider - im Ergebnis alles andere als harmlos wie die unzähligen Beschwerden und Alarmberichte der weiterführenden Schulen bezeugen, die mit halben quasi-Legasthenikern zurecht kommen und sie aufwändig nachschulen mussten (bzw. die Eltern qua Nachhilfe), die nach der vierten Klasse nicht ansatzweise korrekte Rechtschreibung gelernt hatten.
Seinen Ursprung hatte dieses Konzept in einer ultra-naiv verklärt-überhöhenden Ideologie, die den Kindern die "Kompetenz" zuschrieb,
alleine durch das Ausprobieren (das Korrigieren war in dieser "Methode" bis in die dritte Klasse hinein laut Lehrplan verboten, mindestens verpönt!) zur korrekten Rechtschreibung zu gelangen.
Eine Katastrophe und vom Ansatz her grundfalsch. Denn die Schriftsprache ist im Gegensatz zur gesprochenen Sprache ein reines
Artefakt, dass nur nach Regeln und wenn man so will, nach Schablone gelernt werden kann. (Wer möchte kann das gerne selber mit einer Fremdsprache seiner Wahl, die er nicht beherrscht ausprobieren und sie rein nach dem Hören versuchen korrekt aufzuschreiben.)
In dem Sinn finde ich auch den Ausblick, sogar bis zur Komposition durch Ausprobieren ohne Vorgaben gelangen zu können, mehr als gewagt.
Ganz abgesehen davon, dass gute, verständliche und sorgfältig strukturierte Vorgaben enorm viel Zeit sparen helfen.
Auch (genau genommen gerade) Vorgaben erfordern einen guten Dialog mit dem Schüler, schon alleine, um heraus finden zu können, ob diese Vorgaben in dieser Form für den Schüler verständlich und hilfreich waren - und sie ggf. besser anpassen zu können.
Der TE bat um Kritik und er möge sich nicht wundern, dass er bisweilen nass wird, wenn er seinen Kopf aus dem Fenster hält, denn es kann auch schon mal regnen.