Da gäbe es ja noch die Rezitationstöne und die Verwandschaften der Tonverhältnisse.
Du bringst hier zwei Sachen durcheinander: Modes und Kirchentonarten. Das bringen bestimmt 95 Pronzent der Leute durcheinandern. Die Kirchentonarten sind anders als die Modi der Durtonleiter. Historisch kommt z.b. Lokrisch nicht vor. Dafür haben diejenigen der Tonleitern die wir heute noch kennen jeweils ein korresponierendes Äquivalent. Dorisch und Hypodorisch, Lydisch und Hypolydisch etc. Das ganze ist aber ein völlig anderes Denksystem. Das Dur-Moll-System gab es damals ja noch nicht, wir sprechen von einem geschichtlich "davor". Daher ist es völlig anachronistisch das auf die heutige Zeit anwenden zu wollen. Das eine frühe Vokalpolyphonie bis Kontrapunkt. Dann entsteht allmählich das, was wir heute das Dur-Moll System nennen. Bach z.b. hat in seinen orignalen Autographen oft noch dorisch vorgezeichnen für Mollstücke und dann halt vor allen Sexten ein b geschrieben. Das zeigt, dass die gedankliche Referenz damals noch eine andere war. Mit den Modes im Sinne der Akkord-Skalen-Theorie hat das aber kaum etwas zu tun. Genauso wie "that kalyan" in der hindustani Raga-Musik zwar gleich von der Intervallstruktur gleich mit unserem Lydisch ist, aber natürlich etwas musikalisch völlig anderes darstellt.
Welchen differenzierteren Blick in Bezug auf Lydisch gäbe es denn dann?
Erstmal dass man sich der Intervallstruktur bewusst ist, und lydisch nicht nur als Durtonleiter von F-bis-F denken kann, sondern als 1 2 3 #4 5 6 7.
Zweitens dass man sich der Schnittmenge mit anderen Modi bewusst ist. Jeder Modus der Durtonleiter hat 6 gemeinsame Töne mit jeweils 2 anderen Modi. Im falle von Lydisch hast du, wenn du nur einen Ton veränderst die Durtonleiter (#4 wir zu 4) bzw lokrisch, aber einen Halbton höher ( 1 wird zu #1 in dem Fall). Von daher ist lydisch grade ein Sonderbeispiel. Deswegen hat einer der begründer der Akkordskalentheorie, George Russell, sein Buch "A lydian chromatic concept of tonal organization" genannt.
Am, einfacheren, Beispiel von Dorisch: Dorisch lässt sich die abänderung jeweils eines Tons zu Moll machen (6 ->b6) oder zu Mixolydisch (b3->3)
Dann, das man zu unterscheiden lernt: Habe ich es mit einem modalen Kontext zu tun, einem Vamp, oder einer modalen Akkordfolge, oder einem diatonischen Kontext. Auch hier ist vll dorisch wieder ein besseres Beispiel (aus gründen....)
Hast du einen dorischen Vamp, kannst du da drüber dorisch spielen. Hast du eine Akkordfolgen wie D-moll, G7, C-Dur ist der Fall nicht so klar. Die töne D,F, A und C bilden den D-Moll7 Akkord, die übrigen Töne aus D-Dorisch, E, G, und H sind aus der Tonart C-Dur entnommen. Zusammen kommt man dann zu dem Ergebnis, dass D-Dorisch die passende Chordscale für diesen Akkord in diesem Umfeld ist. Wenn ich jetzt aber exzessiv auf der Sexte H rumreite, weil ich andernorts gelesen habe, dass das der charakteristische Ton im dorischen Modus ist, nehmen ich damit den Leiton H (für den nachfolgenden G7) vorweg und verscheiere die Charakteristischen Stimmführungslinien. Man kann das ganze also nur gekonnt einsetzen, wenn man über Stimfführung bereits informiert ist.
Die oben erwähnte Herleitung (Akkordtöne+Tonartbezug=Chordscale) muss einem klar sein. Dann ergiebt sich Lydisch zum Beispiel auch als Skala für Dur-Modal-Interchange Akkorde. Die #4 ist dabei fast immer ein Ton, der Stimmführungstechnisch einen Halbtonanschluss zur nachfolgenden Harmonie herstellt. Deswegen funktioniert das ganze dann so schön. Wiederum ist dafür aber die Kenntnis von elementarer Stimmführung imho vorraussetzung und nicht Optional.
Man kann diese Rolle der #4 dann beispielsweise als Transferleistung in Skalen wie Mixolydisch #4 übertragen.
Das wäre für mich ein differenzierter Blick.
Man könnte es auch viel einfacher machen. Ich mache diesen Test in Streitgesprächen die analog stattfinden sehr gerne. Wenn mir also einer ständig erzählt von Modi und so weiter, und man hat den Eindruck es handelt sich um einen Punktmuster-lerner ohne internalisierte Klangvorstellung, dann fordert man denejenigen einfach auf lydisch zu singen. Und dann die Modi nacheinander. Man möchte kaum glauben wie viele Leute da kläglich scheitern. Und dann hat sich im Prinzip auch jede weitere Diskussion erledigt. Umgekehrt kann ich das al Übung empfehlen. Man nimmt sich einen Drone und singt alle Modi morgens einmal durch, auf dem
gleichen Grundton.
grüße B.B