Ja, und das ist halt genau meine Frage: Wieso sind so wenige Titel konsensfähig; warum mag das gemeine Publikum die ganzen anderen Veröffentlichungen nicht auch hören?
"Die ganzen anderen Veröffentlichungen" ist ein extrem großes Feld.
Das, was du als konsensfähig bezeichnest zeichnet sich unter Musikalischen Aspekten zumeist durch folgendes aus: Einfach & Eingängig, oder vielleicht besser: Auch ohne musikalischen Background leicht zu erfassen.
Um ein Extrembeispiel zu bringen: Warum man keinen Free-Jazz im Radio hört wird vermutlich recht gut nachvollziehbar sein. Das soll jetzt nicht heißen, alles was komplexer ist, ist für den "dummen 0815- Hörer" zu kompliziert und natürlich auch nicht, dass alles was im Radio gespielt wird uninspirierte, stupide Hintergrundberieselung ist, aber der (natürlich nicht dumme) 0815- Hörer hat z.B. meistens auch eine 0815 Anlage. Ich brauch wohl nicht erklären, dass Vivaldis Jahreszeiten extrem viel verlieren, wenn man sie durch Ohrstöpsel oder unter Motorenhintergrundbeschallung durch einfache Autoboxen hört.
Der Standard Radiohörer fachsimpelt beim Kauf der neuen Kopfhörer nicht in erster Linie, ob man da die Tiefen gut hört, da diese und jene Stimme klar unterscheiden kann, da "dieser Sound" auch genauso auf mich wirkt, wie ich ihn kenne - der schaut in erster Linie mal auf "halten sie beim laufen?", "gefällt mir die Optik", "Hmm Bluetooth... kann man damit auch telefonieren?" usw.
Joe Satriani, Gitarrengott, Soundfetischist, reiner Instrumentalist- diese ganze spezifische Klangwolke, die er erzeugt und von seinen Fans geliebt wird, hört man so nur durch einen recht groben Filter.
Musikfans, die in irgendeiner Form einen instrumentalen und/ oder theoretischen Background haben, kennen und erkennen von ihren Lieblingsstücken alle Spuren von der tiefsten Pauke bis zum höchsten Sopranton mit allem dazwischen. Der (wesentlich größere) Rest der Welt hört in erster Linie eine Leadmelodie (also das, was man als Ohrwurm summt), einen Grundbeat und wenn an einer speziellen Stelle ein Snarelauf auf der Drum kommt oder dgl. sowas natürlich auch.
Worauf ich hinauswill: Es geht nicht darum, dass die breite Masse "die ganzen anderen Veröffentlichungen nicht hören will", die breite Masse dreht das Radio auf und erwartet angenehme, aufputschende bis beruhigende Hintergrundberieselung. Und genau das spielt es ja auch größtenteils im Radio - und auch wenn jemand zum ersten mal über ein unendlich geiles Lied von Queen stolpert, er wird wahrscheinlich maximal am Lenkrad mitklopfen, sich beim fahren angenehm cool finden und es wieder vergessen.
Es ist einfach nicht die Plattform für extrapolierte Instrumentalisten, lange Songthemen mit 3minütigem Intro, aggressiven Metal usw.. Und selbst wenn sie mal Take Five oder so spielen, der 0815- Konsument merkt nicht, dass das ein rhythmisch genial verarbeiteter 5/4 Takt ist, mit lauter chromatischen Läufen, in denen sich trotzdem kein einziger Ton falsch anhört- für ihn bleibt es gemütliche Hintergrundberieselung.
Da unterscheidet sich Musik nicht wesentlich von anderen Bereichen des Lebens- z.B. Sport.
Die breite Masse macht prinzipiell in irgendeiner Form Sport- genauso wie so ziemlich jeder in irgendeiner Form Musik hört. Ein paar extrem selten bis gar nicht, die meisten ein bisschen wenn es eben passt, viele sehr regelmäßig.
Dann gibt es das, was man gemeinhin als "Sportler" bezeichnet. Der ist im Fußballverein wie unsereins Gitarre übt oder in der Blaskapelle spielt, ist im Bezug auf "wie arbeite ich mit meinem Körper" sicherlich um einiges versierter als die breite Masse, genauso wie Musiker um einiges versierter sind, das was aus einem Lautsprecher kommt zu kategorisieren und zu interpretieren.
Sag ich zum Fußballer "Du bist Sportler, was heißt das?" denkt er an seine Ausrüstung, an 50 verschiedene Übungen, die er regelmäßig macht, an Laufen für die Kondition, an seinen Ernährungsplan, ob er gerade von Winter- auf Sommertraining umstellen sollte,.....
Sag ich zu einem Musiker "Du bist Musiker, was heißt das?" denkt er an sein Instrument, Spieltechniken, das Theorieverständnis, das er sich aufgebaut hat, seine Übungen, die er täglich macht, seinen Übungsplan,.....
Frage ich einem Musterexemplar aus der breiten Masse, was er sich unter einem Sportler bzw. einem Musiker vorstellt wird die häufigste Antwort vermutlich ein "Naja, einer der viel Sport macht" bzw. "Naja, einer der ein Instrument spielt" sein.
Wenn man sich aus irgendeinem Grund weiter damit beschäftigt, dann lernt man langsam das gesamte vielschichtige Spektrum kennen, und der 0815 Radio Hörer, der bis dato nur Chartmusik gehört hat wird sicherlich seinen musikalischen Horizont erweitern, wenn er wegen seiner neuen Flamme so tut, als würde ihn Beethoven & Co total interessieren und er dann auf einmal merkt, wie ihm der Puls steigt wenn es in der Halle des Bergkönigs rundgeht. Vermutlich wird er sich dann mal durch das Werk von Grieg durchhören und so zum nächsten kommen usw.
Und wenn ein anderer 0815 Charthörer sich in einwöchiger harter Arbeit Am und G draufschafft, um aus welchem Grund auch immer Lady in Black spielen zu können und am Gitarrenspiel hängen bleibt, wird er vermutlich auch irgendwann Musik kennen und lieben lernen, die ihm besser gefällt und diese auch hören wollen und den Radio nur noch für den Verkehrsfunk aufdrehen.
Spezifische Musik ist nun mal persönliche Liebhaberei und die findet man nicht über die Plattformen, die ganze Länder mit Hintergrundbeschallung versorgen. Die muss man selbst finden oder davon gefunden werden- ob über Eltern, Freunde, nervige Musiklehrer, pubertäre Selbstfindungstriebe,....egal.
Der langen Rede kurzer Sinn:
Genauso gut könnte man in einem Kochforum fragen, warum so viele zu 95% als Essensbeilage entweder Reis, Nudeln oder Kartoffeln wahlweise in Kombination mit Gemüse verwenden, obwohl es so viele andere gute Sachen gibt. Wer sich aus welchem Grund auch immer damit beschäftigt, kennt vermutlich drölfzig-hundert andere Möglichkeiten, die in der breiten Masse "gefloppt" haben. Es kann völlig reichen, einmal ins richtige Restaurant zu stolpern, um den Anstoß zu geben seinen Horizont zu erweitern, genauso wie es völlig reichen kann, einmal einen "Hey XY ist krank und ich hätte noch eine Karte für Konzert von [...], willst mitkommen?"- Anruf zu bekommen.
"Fans", egal von was auch immer neigen ja dazu, ihre bejubelte Kategorie über alles andere zu erheben (man denke an Klassikfans, Fußballfans, Anhänger div. Politiker und das allerbeste Beispiel: Christen, Muslime, Hindus und Co
) und blenden total aus, dass es für die anderen 95% der Menschheit einfach nur etwas ist, was eben da ist und einen nicht wirklich weiter interessiert.
Würde es ein "Radio" für Religion geben, dann würden auch viele sagen "Ich kanns nicht mehr hören, alle 2 Stunden ein Gebet und Bibelzitate, danach das selbe in dunkelgrün mit Allah statt Gott und Mohammed statt Jesus und dreimal am Tag die jüdische halbe Stunde...... es gibt ja so viele andere interessante religiöse Sichten auf die Welt, warum floppen die alle?".
Im Sport ist's ja auch ähnlich - Fußball-Fußball-Fußball-Formel1-Eishockey-Schifahren-Berichte über Tennisgötter-Einzelmeldungen, wenn irgendwer in irgendwas irgendwo gewonnen hat. Ende. Wie viele andere Sportarten es gibt, die alle paar Jahre medial erwähnt werden, weil irgendein Landsmann Gold/Silber/Bronze gemacht hat- unzählige.
Nur weil etwas nicht Mainstream ist, heißt das nicht, dass es floppt. Es heißt nur, dass man es nicht Tag und Nacht voll automatisiert in den Allerwertesten geschoben bekommt.
Dazu kommen ja auch kommerzielle Interessen.
Die erfolgreichsten Radios bringen auch Nachrichten, Wetter, Verkehrsinfos, (nicht musikalische) Unterhaltung - und nicht zuletzt um den Spaß zu finanzieren: Werbung. Man kann da schwer Pink Floyd spielen, wenn der durchschnittliche Titel doppelt so lange dauert, wie vom Plan her zwischen Wetter und dem nächsten Werbeblock liegen. 4min Songdauer absolute Obergrenze.
Und die Chartlisten selbst- das ist wie bei jedem Konsumgut. Willkommen in der freien Marktwirtschaft. Irgendwas wird immer gerade gehyped. Wenn ich einkaufen gehe, kaufe ich sicher auch oft genug etwas, wo ich mir etwas ganz anderes kaufen würde, hätte ich einen tieferen Hintergrund dazu. Genauso, wie ein anderer im Auto vielleicht viel lieber Glenn Miller anstatt Radioberieselung hören würde- wenn er ihn kennen würde. Tut er aber nicht, deswegen dreht er das Radio auf. Und ich kaufe das Salatöl, was schon meine Mutter verwendet hat weil ich eben auch immer das verwendet hab und zufrieden war. Würde ich mich tiefer damit beschäftigen, würde ich vermutlich ein ganzes Spektrum entdecken und mir denken, was ich bei der Zubereitung meiner Salate nicht alles verpasst habe.
Der Vergleich mag lapidar wirken, aber Musik ist für die meisten Leute außerhalb dieses Forums genau das: Ein Konsumgut wie jedes andere. Und da greift man zurück auf Altbewährtes oder "Was halt alle nehmen".
Ich hab mal ein halbes Wirtshaus in Entsetzen versetzt, als ich bei ner Fußball-Liveübertragung gefragt hab "Sind die Bayern die in Rot-Blau oder die Weißen?". Was soll ich sagen, zuzuschauen, wie 20 Leute einem Ball hinterherlaufen interessieren mich nunmal nicht.
Und mein Umfeld kann das ganz gut akzeptieren. Dafür kann ich ganz gut akzeptieren, dass mein Umfeld größtenteils keine Ahnung hat, wie langweilig sich eine im Kreis gespielte I-IV-V-I Kadenz auf Dauer anhört, wenn man sie erkennen kann.
Und es ist ja nicht unbedingt schlecht, nicht auf Chartposition 1-10 im totalen öffentlichen Fokus zu stehen. Ich glaub nicht, dass die lokalen Jazzszenen, Metal- und Hardrockszenen, usw. so aussehen bzw. überhaupt existieren würden, wenn sie die mediale Aufmerksamkeit bekämen, die sich einige vielleicht wünschen.
Das geht ja hin bis zu subkulturellen Hindernissen bez. der Eingangsfrage-
Wenn eine Punk- oder Metalband mehr im Radio gespielt würde, kann es schnell passieren, dass die Fanbasis sich mit dem Argument "zu kommerziell" von der Band abwendet. Dann hat die Bands 2 Optionen: "Back to the Roots" oder weiter in die Richtung, dann wird der Manager irgendwann sagen "Lasst da mal die Doublebase weg, du Sänger lern mal clean singen,....ansonsten kriegen wir Probleme"- weil die alte Fanbasis ist weg und im Kommerzgeschäft gibt es kein Traditionsbewusstsein wie in den Metalsubgenres, wo die Fans die alten Songs hören wollen. Heißt, der nächste Charthit muss her, wie schreiben wir den am besten.... kp, aber vermutlich ohne Growls und einer 48- Taktigen Dissonanzenspielerei.
Da sich die meisten Interpreten aus dieser Richtung diesen Umständen zumindest bewusst sind, bis hin zu tiefster Identifikation damit und sich "ihren" Fans und ihrem Stil verpflichtet fühlen wirst du schon alleine aus diesem Grund kaum etwas davon im Radio hören.
Pfuuuuh, ist ja ganz schön viel geworden.
Passt, aus Schluss, Ende, muss für einen Post reichen.