Das Ohr (eher Gehirn) gewöhnt sich daran und lernt so was zu akzeptieren, [...]
Jop, und das ist zu jeder Zeit der entscheidende Punkt, und zwar auch dann, wenn wir nur hören und nicht selbst spielen. Was Kinder schön finden, kann man nicht an den Hörerfahrungen von Erwachsenen festmachen. Die landläufige Einteilung Dur=fröhlich/moll=traurig ist ja ebenfalls sehr willkürlich und wird von so manchen Stücken schwer Lügen gestraft.
(P.S. Übrigens nicht nur zu
akzeptieren, sondern auch zu
schätzen!)
Man muss sich außerdem klarmachen, dass unser besonders auf dem Klavier herrschendes 12stufiges Tonsystem (das seinerseits mit seinen gleichen Halbtonabständen einen Kompromiss darstellt) weltweit betrachtet nur eine von unzähligen Möglichkeiten ist. Die Melodien aus Indien, der arabischen Welt, dem Kaukasus, dem Altaigebirge oder von der Insel Bali funktionieren in völlig anderen Intervallsystemen, und mir ist nicht bekannt, dass sich die dortigen Kinder darüber beschweren.
Was für Melodien Kinder mögen und was für Klangwelten sie als »korrekt« erachten, bildet sich erst mit ihren Hörerfahrungen heraus. Dazu gehören die unterschiedlichsten Einflüsse, vom Wiegenlied der Eltern über das Spiellied im Kindergarten und die Melodien aus dem Radio bis zu den ersten Versuchen am Orff-Instrumentarium oder anderen Instrumenten. Deshalb ist auch die These, dass die Rufterz (eine kleine Terz abwärts) die Keimzelle kindlicher Melodik sei, wissenschaftlich absolut nicht haltbar. (Zumal derjenige, der diese These einst aufstellte, selbst den Kindern vorher solche Melodien vorgesungen hatte...)
Wir können also nie sicher sagen, welchen musikalischen Background unsere Schüler haben. Natürlich kann es sein, dass ein Kind bislang nur Durmelodien gehört hat und Mollmelodien zunächst als befremdlich wahrnimmt. Genauso gut könnte es aber sein, dass das Kind schon zu Brahms'
Ungarischen Tänzen durch die Wohnung geturnt ist, und die lebensbejahende Energie dieser zum großen Teil in Moll geschriebenen Melodien in sich aufgesogen hat. Oder es kommt (hierzulande weniger wahrscheinlich, aber dennoch nicht auszuschließen) aus dem indischen Kulturkreis und hat schon zahlreiche Ragas gehört - einem solchen Kind muss unser Intervallsystem und unsere Rhythmik geradezu primitiv bis steril vorkommen.
[...] akzeptieren, aber für Kinder dürfte so was nicht besonders motivierend sein.
Was wie bereits dargelegt einzig und allein von den bis dahin gemachten Hörerfahrungen der Kinder abhängt, und die sind so unterschiedlich wie die Kinder selbst, weshalb man das so absolut nicht sicher sagen kann.
Ein empathischer und aufmerksamer Schüler begreift mehr als das er versteht, wie sich eine Synkope anfühlt und anhört. Indem er dem Lehrer zuhört und ihn imitiert. Würde man eine Synkope vom Blatt lesen, müsste man zuerst verstehen, zählen und analysieren, spielen und dann erst - wenn überhaupt - begreifen.
Ein enorm wichtiger Punkt, der leider von nicht wenigen Kollegen massiv unterschätzt wird. Leider wird in unserer Klavierunterrichtspraxis viel zu häufig gleich mit dem Notenlesen begonnen, bevor die Kinder überhaupt selbst Musik gemacht haben. Und das Wesen der Musik sind
niemals die Noten, denn diese sind nur eine Codierung, die außerdem nur unsere abendländische Musik zufriedenstellend festzuhalten vermag. Das Wesen der Musik ist zuvorderst der Klang und die von ihm ausgelösten Emotionen.
Musik ist in dieser Hinsicht der Sprache sehr nah. Das Wesen der Letzteren ist die Kommunikation mit den Mitmenschen, und genau auf diesem Wege lernen Kinder sie auch. Wir sprechen schon mit Babys, bevor sie auch nur ein Wort verstehen können, aber bevor sie die ersten Worte lernen, begreifen sie schon die Sprachmelodie, den Tonfall, den Rhythmus und die Dynamik unseres Sprechens und die dadurch vermittelten Emotionen und Bedürfnisse - und damit einen elementaren Teil dessen, was das Kommunikationsmedium Sprache ausmacht.
Vor diesem Hintergrund halte ich persönlich es sogar für absolut abwegig, schon von Beginn an das Notenlesen trainieren zu wollen. Schließlich haben wir in der Regel schon 5 bis 7 Jahre sprechen gelernt, bevor wir die dazugehörige schriftliche Fixierung kennenlernen. Hat der zwischenzeitliche Mangel an Schrift uns in unserer Kommunikationskompetenz gehindert? Hindert uns unsere Fähigkeit, mit Sprache zu kommunizieren, dann etwa am Erlernen der Schrift?
Ich selbst unterrichte am Anfang grundsätzlich nach Gehör und nehme mir auch wirklich Zeit dafür. Nicht wenige Schulen weisen tatsächlich auch auf die enorme Wichtigkeit dieses Lernschritts im Vorwort hin und widmen ihm (wie die Russische) auch das erste Kapitel - das im Fall der RK wirklich so gedacht ist, dass der Lehrer dem Schüler die Melodien vorsingen und -spielen soll, und dieser sie dementsprechend nachsingt und -spielt, und zwar gleich in verschiedenen Tonarten, damit von Beginn klar ist, dass die schwarzen Tasten mit dazugehören und die Wiedererkennbarkeit einer Melodie nicht von absoluten Tönen abhängt, sondern von den Beziehungen der Töne untereinander.
Die Russische Klavierschule ist, wenn sie richtig gebraucht wird, um
Längen besser als 80% der Schulen, die derzeit auf dem Markt sind. Nicht wenige Klavierschulen arbeiten nämlich sehr intensiv mit der sogenannten Zentraltonmethode (engl.
middle c approach), bei der beide Daumen auf das c' gelegt werden und die ersten Melodien (häufig für sogar relativ lange Zeit) nur mit den Stammtönen gespielt werden, die von dort aus in Fünffingerlage erreichbar sind, nämlich diejenigen zwischen f und g'. Mal abgesehen davon, dass diese Fingerhaltung die Kinder in eine physiologisch absolut fragwürdige Zwangsjackenhaltung zwängt, das Repertoire an Melodien, die so spielbar sind, massiv einschränkt und die Melodien obendrein in eine für die meisten Kinderstimmen absolut besch****** Singlage versetzt, führt diese Methode in zahlreichen Fällen dazu, dass sich die Kinder hauptsächlich bis ausschließlich die Finger merken, die sie zu spielen haben, und weder auf den Klang, die Töne an sich noch auf die Logik der Anordnung der Töne auf dem Klavier achten. Man kann zwar theoretisch mit dieser Methode sofort mit Notenlesen beginnen, aber die Kinder lernen häufig die Noten als Codierung der Finger, und nicht als Codierung der Musik zu lesen. Später werden sie dadurch massiv behindert, ich habe in meiner noch jungen Klavierlehrerlaufbahn schon zahlreiche bedauernswerte Schüler übernommen, denen es sehr schwer fiel, aus dieser Denke wieder herauszukommen und ihre Ohren zu benutzen. Deshalb lehne ich die Zentraltonmethode rundweg ab, da sie für Kinder, die nicht durch ihren familiären Background musikalisch »geimpft« sind, eine massive Gehörsabotage darstellt.
Und müssen wir am Anfang auch unbedingt schon Notenlesen lernen? Sollten wir, um das Beispiel Sprache nochmal anzuführen, nicht erst einmal sprechen lernen, bevor wir uns an das Lesen machen?
Das von klangraumer genannte Beispiel der Synkope ist ein sehr gutes dafür, dass manche musikalischen Phänomene nach Gehör oft sogar viel leichter zu begreifen sind als durch Noten. Noch viel deutlicher wird das, wenn man Transkriptionen von Popsongs aus dem Radio liest, als Beispiel ist mir da in den letzten Monaten
I see fire von Ed Sheeran begegnet. Der Rhythmus der Gesangslinie wirkt auf dem Notenblatt unglaublich kompliziert. Aber wenn wir den Song oft genug gehört und emotional in uns aufgenommen haben, können wir ihn trotzdem ohne Probleme mitsingen, wofür wir, wenn wir nicht gerade topfit in rhythmischer Notation sind, von Noten ein Vielfaches an Zeit benötigen würden.