...stinknormaler Funkgroove, so wie er unzählige Male vor und nach Marvin Gaye auf irgendwelchen Funk-Sessions gespielt wird.
Dann müsste es ja leicht sein, das anhand entsprechender Aufnahmen, vor 1977, die nicht von Marvin Gaye stammen, zu beweisen. Wir könnten uns dann hier eine Meinung darüber bilden, ob die gefundenen älteren Stücke "Got to Give It Up" ähnlicher sind, als der Song von Thicke/Williams. Sessions, die nicht aufgezeichnet wurden, sind nicht beweisfähig.
Natürlich kann sich die Musik graduell weiterentwickelt haben, also ohne schützenswerte schöpferische Leistung, nur aufgrund einer handwerklichen Weiterentwicklung. Man darf es aber nicht einfach behaupten.
Das Urteil betritt durchaus ein Grenzgebiet und ich denke, nicht jedes Gericht würde unbedingt zum gleichen Schluss kommen. Es dürfte im vorliegenden Fall jedoch auch die Entstehungsgeschichte und die mangelnde Glaubwürdigkeit von Thicke eine Rolle gespielt haben.
Die Komponisten müssen nämlich andererseits gegen eine solche Vorgehensweise, wie nicht nur ich sie vermutete, geschützt werden.
Geklaut wurde da jedenfalls mMn nichts, weil einfach nichts da ist, was man klauen kann.
Für die Schutzwürdigkeit werden in der Musik ja keine sehr hohen Hürden aufgestellt. Audiologos und Jingles können schon schutzwürdig sein, denn es gilt die sog. "
kleine Münze".
Nicht schutzwürdig wären gemeinfreie Akkordmuster, z.B. ein Folge von vier Akkorden, oder von sieben Akkorden (wenn es sich um die lange bekannte Quintschrittssequenz) handelt.
Melodien genießen einen hohen Schutz, wenige Töne sind jedoch frei, wie auch Tonfolgen aus der Pentatonik-Reihe, einfache Rhythmen (Backbeat-Betonung) oder Stile (Hardrock, Blues) sind nicht schutzwürdig.
vgl. http://www.musikgutachter.de/schutzfaehig.html
sowie: LG Hamburg 8. Zivilkammer, Entscheidungsname: Bushido I, Entscheidungsdatum: 23.03.2010, Aktenzeichen: 308 O 175/08
LG München I 21. Zivilkammer, Entscheidungsdatum: 03.12.2008, Aktenzeichen: 21 O 23120/00
Irgendwo im Hinterkopf "lauerte" der Groove, schon 1000 mal gehört.
In diesem Fall war der Groove im "Vorderkopf", denn Thicke/Pharell gingen explizit von "Got to Give It Up." aus und unter Alkohol- Drogeneinfluss wurde dann schnell etwas in den Kasten gespielt, was offenbar zu ähnlich war:
GQ: What's the origin story behind your new single "Blurred Lines"?
Robin Thicke: Pharrell and I were in the studio and I told him that one of my favorite songs of all time was Marvin Gaye's "Got to Give It Up." I was like, "Damn, we should make something like that, something with that groove." Then he started playing a little something and we literally wrote the song in about a half hour and recorded it. The whole thing was done in a couple hours—normally, those are the best ones. Him and I would go back and forth where I'd sing a line and he'd be like, "Hey, hey, hey!"
http://www.gq.com/blogs/the-feed/20...g-with-2-chainz-and-kendrick-lamar-mercy.html
Aber wenn eine Sache bei Gericht ist, gibt's kein Unentschieden, weshalb ich das als 51:49-Entscheidung sehe. Hätte auch 49:51 ausgehen können.
Im vorliegenden Fall entschied eine achtköpfige Jury einstimmig (offenbar ein Muss) - unter Anleitung eines Richters sowie nach Anhören der Statements von Musikologen und Anwälten beider Seiten. Natürlich ist nicht auszuschließen, daß andere Jurys anders geurteilt hätten.
Ein für mich in allen Belangen (hinterfrag)würdiges Urteil mit vielen offenen Fragen, das fast alles Gängige, was wir bislang aus solchen Streitigkeiten kennen, auf den Kopf zu stellen scheint.
Da würde ich insofern zustimmen, als daß man die zentrale Rolle der Melodie zunehmend relativiert, wie ja auch schon aus dem deutschen Urteil hervorgeht. Es bleibt bei der heutigen Musik jedoch kaum etwas anderes übrig, da teilweise gar keine schützenswerte Melodie mehr existiert, es aber trotzdem möglich ist, etwas zu schaffen, was über das Handwerkliche hinausgeht.
Ab wann ist eine musikalisches Arrangement trotz notenmäßig erheblicher Unterschiede trotzdem so, dass es als Plagiat verurteilt werden kann?
Da gibt es keine festen Regeln, es zählt auch der Gesamteindruck, schon im deutschen Urteil:
Schutzfähig sind regelmäßig die Art und Weise der Instrumentierung und Orchestrierung, da sie den klanglichen Charakter des Musikstückes entscheidend beeinflussen und in Anbetracht der unzähligen verschiedenen Wahlmöglichkeiten regelmäßig eine künstlerische Entscheidung des Komponisten darstellen.
„Still got the blues“ oder auch nicht; Gitarrensolo verletzt Urheberrecht - LG München I, Urteil vom 03.12.2008, Az.: 21 O 23120/00
Meiner Meinung nach geht es bei der ganzen Diskussion gar nicht um die Musik und ob sie schützenswert ist oder nicht, sondern um die 7 Millionen Dollar. Vermutlich hat die Firma Gaye einfach die teureren Anwälte oder die höheren Bestechungsgelder bezahlen können.
Ohne Beweise würde ich mich einer solchen Verschwörungstheorie (Bestechungsgelder) nicht anschließen. Natürlich werden Gerichte i.d.R. erst bemüht, wenn es um große Summen geht.
Aber wenn es um solche Summen geht, erstellen eben auch die Sachverständigen die Gutachten, bei denen sie selbst am meisten mitverdienen.
Es gilt gleiches für beide Seiten und beide konnten sicherlich die Gutachten der Musikologen bezahlen.
Die Studio-Musiker, die in der Regel dann auch den Sound prägen, wurden meines Wissens nie an den Tantiemen beteiligt, sondern bekamen ein Gehalt oder eine Gage.
Das ist oft der eigentliche Skandal: Es werden nicht immer diejenigen als Komponisten angegeben, die tatsächlich komponiert haben, auch z.B. andere Bandmitglieder. Da gibt es sicher viele Ungerechtigkeiten. Solchen Innenverhältnissen, die auch von Abhängigkeiten bestimmt sind, kann man von außen kaum beikommen.
Popmusik ist längst an die Grenze ihrer Innovationsmöglichkeiten gekommen.
Subjektiv würde ich dem in weiten Teilen zustimmen. Man sollte aber berücksichtigen, daß man in seinen eigenen Vorlieben quasi gefangen ist. Extreme Beispiele: Gamelan-Musik kann sich für manchen Europäer ziemlich gleich anhören, ähnliches trifft vielleicht auf sehr verzierte arabische Melodien zu. Für Kenner sind die Unterschiede zwischen den Stücken immens. Beim eigenen Lieblingsgenre reagiert man man aber u.U. für kleine Veränderungen schon sehr sensibel und erkennt das bereits als individuellen Charakter an.
Falls Musik nicht individuell genug: Wo kein Kläger, da kein Richter. Wird aber geklagt und die Musik weist nicht die für einen Schutz notwendige Individualität auf, so wird das zurückgewiesen. Im Fall "Bushido" kann man im Urteil über verschiedene Songs bzw. Passagen folgendes lesen:
...nur eine sehr einfache Struktur (Quint-Pendelbewegung h-e, Harmonisierung durch die Gegenklänge C-Dur/e-moll). Auch die Oberstimme verfügt angesichts des gleichförmigen Viertelnotenrhythmus, in dem die Töne h und e im Wechsel erklingen, nicht über einen Wiedererkennungseffekt. Schließlich ist die Instrumentierung (Klavier und Streicher) ebenfalls nicht hinreichend individuell ...
...
Töne und Akkorde müssen im Interesse der Allgemeinheit frei bleiben, andernfalls würde es zu einer inakzeptablen Behinderung schöpferischen Schaffens kommen. Das erste Segment beschränkt sich hier auf eine Abfolge von vier Akkorden über dem gehaltenen Ton A im Bass und ist somit nach eben genannten Maßstäben nicht hinreichend individuell. Das zweite Segment wird gegenüber dem ersten Segment zwar noch um Überleitungsfiguren ergänzt. Ein über die erste Passage hinausgehender individueller Gesamteindruck entsteht jedoch deshalb nicht, weil die Überleitungsfiguren kein in sich kohärentes Melodiegepräge und keinen Spannungsbogen aufweisen, sondern lediglich die in den Akkorden enthaltenen Töne verdoppeln.
...
Die Passage umfasst lediglich zwei Takte, die jeweils aus einer ganzen Note in der Bassstimme und zwei halben Noten in der Oberstimme bestehen, wobei die Noten der Oberstimme den beiden auf dem Bass errichteten Akkorden e-Moll und C-Dur angehören. Allein das Hinzufügen des zusätzlichen Tons fis‘ als „akkordfremde Durchgangsnote“ genügt hier nicht, um die Passage aus dem Bereich des musikalischen Allgemeinguts herauszuheben. ... Auch die Instrumentierung vermag der bezeichneten Passage keine hinreichende Eigentümlichkeit zu verleihen. Das einmalige Erklingen eines Glockenschlags ist insofern nicht ausreichend.
...
Wenn der Gutachter Herr W. hierzu erklärt, dass die Formulierung der Oberstimme auf Überleitungsfiguren, die zum „musikalischen Basiswortschatz“ gehören, basiert, ist das ohne Darlegung einer vergleichbaren vorbekannten Figur nicht nachvollziehbar.
http://www.die-abmahnung.info/urtei...tung-urheberrechtlich-geschuetzter-werke.html
Dennoch ist es eine Tatsache, daß es auch in der Popmusik immer wieder Komponisten gibt, die etwas schaffen, was über das alltägliche hinausragt, das einen Wiedererkennungswert hat und eine schützenswerte Leistung darstellt. Wie gesagt, es gilt die sog. "Kleine Münze".
Ich würde nicht darauf wetten, daß das Urteil in der nächsten Instanz keinen Bestand hat.
Es war ja nicht so, daß sich ein Richter die Songs angehört hat und urteilte: "Ich denke, das ist ein Plagiat." Vielmehr wurden durch Musikologen ganz detailliert die einzelnen Bestandteile und der Gesamteindruck bewertet. Damit müssen alle künftigen Songwriter rechnen, sobald der Song eine Menge Geld einspielt und geklagt wird.
Sollte das Urteil in weiteren Instanzen wirklich Bestand haben, dann hat das jetzige Urteil signifikante Auswirkungen auf die Musikschaffenden, Songwriter, Produzenten usw. usw.
Das Urteil kann folgende Wirkung haben:
- Songwriter werden es sich künftig zwei Mal überlegen, wie nah sie sich von ihren Vorbildern inspiriern lassen.
- Sie werden dazu ermutigt, sich um wirklich eigene Songs zu bemühen.
- Sobald die Beteiligten merken, daß der Song ein Hit werden könnte, werden sie früher als bisher mit den Rechteinhabern ähnlicher Songs Verhandlungen aufnehmen, um einem negativen Urteil vorzubeugen. (Ich halte auch im konkreten Fall eine außergerichtliche Verhandlungslösung immer noch für gut möglich, um die nächste Instanz zu vermeiden.)
Viele Grüße
Klaus