Es gibt viele verschiedene Herangehensweisen. Wenn Du Dir die Großen aufmerksam anhörst und insbesondere ihre Live-Aufnahmen mit den Soli vergleichst, die sie im Studio aufgenommen haben, wirst Du schnell sehen, dass auch sie meistens verschiedene "Schubladen" haben, in die sich ihre Soli einordnen lassen. Solche "Schubladen" sind z. B.:
- Melodiöse Soli. Diese sind meistens zumindest in Grundzügen ausgearbeitet und haben sehr einprägsame Melodien. Ihre Aufgabe ist es, den Song zu ergänzen und sich möglichst nahtlos in diesen einzufügen. Als Beispiel fallen mit auf Anhieb die ersten Soli von Sweet Child of Mine oder viele Soli vom Bon Jovi-Album Slippery when Wet ein. Aber auch die meisten Soli auf Pop-Scheiben sind dieser Kategorie zuzuordnen. Wenn Du also einen einprägsameren Song - besonders eine Ballade - schreiben willst, solltest Du Dir eine Melodie vorstellen, die gut zur Stimmung des Songs passt, diese dann auf der Gitarre spielen und dann mit gitarrentypischen Techniken (Bending, Vibrato, Slides, etc.) bearbeiten, um die einfache und vielleicht etwas sterile Melodie etwas "schmutziger" zu machen.
- Hard Rock-Soli. Bei diesen ist es in erster Linie das Ziel, dem Publikum Deine Fähigkeiten als Gitarrist zu präsentieren. Als Beispiel fallen mir z. B. die Soli von Randy Rhoads bei Mr. Crowley, die meisten Soli von Yngwie Malmsteen, One und Creeping Death von Metallica oder das berüchtigte "Get the Funk Out" von Nuno Bettencourt ein. Diese Soli sind entweder voll ausgearbeitet oder haben zumindest ausgearbeitete Parts (meist eben die schwierigsten Teile). Die schnellen Licks am Anfang vom ersten Mr. Crowley-Solo oder die Tapping-Passage von Get the Funk Out spielen nicht einmal Gitarristen wie Randy oder Nuno einfach so und ohne Vorbereitung. Für diese Soli gilt also: tief in Deine Trickkiste greifen und die Mörder-Licks irgendwie in das Solo einbauen.
- Geplante Improvisation. Diese Herangehensweise war z. B. sehr typisch für Stevie Ray Vaughan. Wenn Du seine Blues-Improvisationen miteinander Vergleichst, wirst Du schnell feststellen, dass Stevie für die meisten seiner Songs - besonders für die Live-Improvisationen - ein "Gerüst" hatte, dass es nach Belieben variierte. Die Live-Versionen von Texas Flood fingen z. B. meistens mit ganz leisen, sehr sanft gespielten T Bone Walker-mäßigen Doublestop-Licks an, und im zweiten Imtro-Chorus kamen dann die großen Albert-Bendings auf der hohen E-Saite. Diese klangen immer wieder anders, aber wenn Du die Improvisationen vergleichst, siehst Du schnell, dass Stevie immer ähnliche Licks an immer den gleichen Stellen der Blues-Progression gespielt hat. Neben Stevie verwendet z. B. auch Warren Haynes oft diese Herangehensweise.
- Freie Improvisation. Hierzu gibt es nicht viel zu sagen - diese Herangehensweise ist typisch für lange, ausgedehnte Jam-Sessions. Jimi Hendrix hat z. B. bei Songs wie Voodoo Child oder Red House gerne mal völlig frei Improvisiert, und ich habe auch den Eindruck, dass auch das berühmte Fillmore East-Album der Allman Brothers viele Passagen enthält, die sehr frei improvisiert sind. Problem hierbei ist natürlich, dass Du extremes Können brauchst, wenn Du mit dieser Herangehensweise Musik machen willst, die nicht nur Dir, sondern auch Deinen Zuhörern Freude bereitet.
Welche Herangehensweise Du auch immer für Deine eigenen Soli wählst: Du solltest Dir bewusst darüber sein, was Du willst. Wenn Du nämlich für jeden Deiner Songs die freie Improvisation wählst, läufst Du Gefahr, Dich zu verzetteln und schlecht zu spielen. Auch besteht die Gefahr, dass Du immer und immer wieder die Licks spielen wirst, die Du schon sicher beherrschst, da Du Dich so durch sämtliche Passagen "durchmogeln" willst.
Sehr wichtig ist m. E. noch, dass Du immer bewusst über die Architektur eines Solos nachdenkst: stell Dir einfach vor, Du müsstest eine Geschichte erzählen, ohne dafür Notizen oder ein Manuskript zu haben. Hier würdest Du wahrscheinlich auch erst einmal einen Moment nachdenken und die die Grundstruktur der Geschichte vergegenwärtigen: Einleitung - 1. Kapitel - 2. Kapitel - Hauptteil - Höhepunkt - Ausklang, etc. Genau so solltest Du es machen, bevor Du an eine Improvisation herangehst: es macht z. B. von einigen Ausnahmefällen (sehr extreme Heavy-Soli) wenig Sinn, gleich im ersten Takt mit 180 über das Griffbrett zu rasen und Deine neuesten Tapping-Licks zu präsentieren. Dies ist so, als ob Du das Ende der Geschichte erzählen würdest, bevor Du den Zuhörern überhaupt den Titel nennst und ihnen erzählst, worum es geht. Eric Clapton und Dickey Betts sind z. B. ganz große Meister in dieser Hinsicht: sie verstehen es, durch den Einsatz von Dynamik und Pausen gleich am Anfang des Solos Spannung zu schaffen, dann den Höhepunkt auszuarbeiten und es an Ende so ausklingen zu lassen, dass man sich völlig befriedigt fühlt.