Die kunst der improvisation

  • Ersteller Günter Sch.
  • Erstellt am
Wie im leben, sind beim musizieren fortwährend entscheidungen zu treffen, ob bewusst oder durch tradition und übung mehr oder weniger automatisiert. Für manche instrumente ist "vordenken" unerlässlich, von der blockflöte bis zum alphorn ist der bläser gut beraten, den ton zu hören, bevor er ihn realisiert, beim klavier sind die töne vorgefertigt, aber je nach anschlag klingen sie sehr verschieden, und schon der erste will vorbereitet sein. Spiele ich Chopins A-Dur polonaise, müssen die hände schon vorher die nötige spannung haben, um den festlich/pompösen charakter wiederzugeben, bei einem seiner nocturnes sieht es ganz anders aus. Ob ich vom blatt spiele, auswendig oder improvisiere, immer eilen die gedanken dem aktuellen voraus. Wichtig ist auch die temponahme, bei der man sich bei der natürlichen hochspannung vor einem auftritt leicht vergreifen kann, der pulsschlag ist höher, die gefahr dem nachzugeben, groß. Ich habe mir angewöhnt, zunächst eine atemtechnik anzuwenden, die sänger "stütze" nennen. Dazu ein kleiner exkurs, der ein geschenk fürs leben sein kann:
Sagt einem chor "Nun atmet mal tief ein!", was geschieht? Alle ziehen die schultern hoch, saugen hörbar die luft ein und stehen da mit herausquellenden augen, sinnbilder der verspannung. "Nun wissen wir, wie es nicht gemacht wird", Es gibt einen reflex des freudigen erstaunens "Ah, der onkel zieht das scheckbuch!" , die luft strömt ungehindert durch nase und den leicht geöffnten mund, das zwerchfell senkt sich, macht raum für die lungenspitzen, der herzschlag normalisiert sich, ich habe das gefühl der sicherheit, fundament für klangvolles sprechen und singen, besonders wenn ich den lippenbreitzug vermeide und die hoch-rund-stellung einnehme. Das bewährt sich auch bei prüfungen, überwindet lampenfieber und hilft in schwierigen situationen, klaren kopf zu bewahren.
Dann ist es nicht schwer, das jeweils richtige tempo vorzudenken, es einzuschlagen, so, dass ich auch schwierige stellen meistere und möglichst alle details zum klingen bringen.
Ein pianist fragte Schostakowitsch. wie er sein spiel farbiger und interessanter machen könne, "kümmere dich um die verborgenen nebenstimmen, die haupstimme hört jeder!" Ich würde hinzufügen "phrasiere deutlich und traue dich, auch gegen den takt zu spielen!", das mache ich nämlich gern, wenn es auch beim zusammenspiel andere zunächst verwirrt.

'A propos tempo, da bin ich mir beim hören von improvisationen nicht immer im klaren über den grundschlag , das kann bewusst so gemeint sein oder auch nicht, wie bei jeder entscheidung gibt es mindestens eine alternative: man kann etwas tun oder es lassen.

Dass ich das alles selbst mal falsch gemacht habe, -es hat mir ja niemand beigebracht, ich musste es, wenn auch spät, selber finden-, sei am rande vermerkt. Darum konnte ich es als gelegentlich lehrender auch vermitteln, ob mit erfolg ? ? ? ? ? ?
Das weiß ich nit.
 
Günter Sch.;6182356 schrieb:
'A propos tempo, da bin ich mir beim hören von improvisationen nicht immer im klaren über den grundschlag , das kann bewusst so gemeint sein oder auch nicht, wie bei jeder entscheidung gibt es mindestens eine alternative: man kann etwas tun oder es lassen.
Ich verstehe nicht was Du mit diesem Absatz gemeint hast. Kannst Du mir das bitte erklären?


Ganz abgesehen davon finde ich den rhythmischen Aspekt beim Aufbau einer Improvisation sehr bedeutungsvoll.
Der Rhythmus, als elementarstes Teil der Musik, spielt doch eine entscheidende Rolle wenn es darum geht Fuss zu fassen in der Welt der Improvisation.
 
Da ist einerseite die wirklich völlig freie Improvisation, nicht nur in der Musik ... . Frei von Regeln, frei von Strukturen. Diese mag sinnvoll sein, und ist für den/die Ausführenden ganz sicherlich sogar spannend.
Aber für die Zuschauer/-hörer kann das schon eine Qual werden. Denn kennt man die Regeln nicht, um die herum die Improvisation gebaut wird, oder gibt es womöglich gar keine, dann ist das nur schwer erträglich.

Das zielt in die richtung, so ist es für den hörer kaum möglich, das tempo einer improvisation zu erkennen, um nur ein parameter zu nennen. Ist es ein "Adagio", das mit 1/64ln flott daherkommen kann. ist es ein "Prestissimo alla breve", spielt es überhaupt ein rolle? .
Der spieler weiß, was er tut, der hörer nicht, und das macht ihm unbehagen. Vielleicht klärt sich das im lauf weiterer ausführungen.
Bei "jazzigen" improvisationen , die du im sinn hast, und die heutzutage noch die fast einzigen, öffentlichen, sind (für andere gibt es keinen markt), steht freilich der "beat", auch wenn er synkopisch unterdrückt wird, im vordergrund. Aber je freier, umso undurchsichtiger.
Gelegenheit, die doppeldeutigkeit des begriffes rhythmus zu erwähnen.Ein ländlicher kulturverein hatte ein streichquartett eingeladen, nach höflichem applaus sammelte man, damit die band sich ein schlagzeug zulegen könne, denn am "rhythmus" habe es hörbar gefehlt. Ob die jungs Haydn, Dvorak oder Bartok gespielt haben, gewiss gab es da viele verschiedene rhythmen, nur nicht den durchgehenden, immer präsenten beat, der im populären unerlässlich ist und auch als rhythmus bezeichnet wird.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich meine, das liegt ganz in der Hand desjenigen, der spielt ...

Ein guter Improvisator wird es immer schaffen, die (wenn auch nur gedanklich) zugrundeliegenden rhythmischen Strukturen hörbar zu machen ... vorausgesesetzt, ER betrachtet sie als zugrundeliegend ...
 
Das jahr 1895 bedeutet einen wenig beachteten wendepunkt: mit der entdeckung der röntgenstrahlen wurde deutlich, dass die welt ganz anders ist, dass wir nur einen bescheidenen teil der verschiedenen frequenz-spektren mit unseren sinnesorganen wahrnehmen. Warum müssen bäume grün, der himmel blau sein, fragten sich die maler, die musiker, warum mit sinustönen und ihren "harmonischen" teilfrequnzen arbeiten, wenn es eine fülle von schwebungen, geräuschen, bis dahin als "unsauber" geltenden tönen gibt. Eine welle der "verfremdung" in allen kunstformen setzte ein, sprache wurde zum transportmittel für einen unaufhörlichen "stream of conscience", maler suchten konstruktive lösungen, musiker griffen nach einer folklore, die das gesuchte anbot, nämlich die praxis von afro-amerikanern.
Ich bin weit davon entfernt anzunehmem, dass dieser prozess bewusst stattfand, es brauchte in den verschiedenen sparten auch verschiedene zeitabläufe, manche preschten avantgardistisch vor, woanders gab es verzögerungen, aber über allem waltete ein "zeitgeist". In der musik wurde traditionelles weiterhin gepflegt, doch besonders im "populären" (das ist nicht abwertend gemeint) fand eine revolution statt. Mit begeisterung wurde aufgenommen, was sich in den USA nach dem bürgerkrieg entwickelt hatte: die ehemaligen sklaven griffen nach den auf den schrotthaufen gelandeten instrumenten der aufgelösten militärkapellen und machten damit musik auf ihre weise. Da strömte manches zusammen: westafrikanische folklore, miltärmusik, kirchengesang und europäisches, vom zickigen ragtime bis "sophisticated jazz".
In Europa wurden "smears", "hot" und "dirty tones", ein nicht auf "schön-gesang" getrimmter gesangsstil, andere tonreihen, rhythmen und durchgehender beat als verfremdung wahr- und aufgenommen.
Das klavier mit seinen fest-gestimmten tönen setzte dem grenzen, mit absichtlicher verstimmung wurde Fritz Schulz-Reichel als "schräger Otto" bekannt, John Cage klemmte schrauben, filze und gummi zwischen die saiten und erweiterte somit das klangspektrum, reißzwecken auf den filzen nannte man "wanzenklavier", Nicht zur nachahnung empfohlen, es sei denn, man habe ein klavier zuviel.
Dennoch erfüllte das klavier eine funktion, Scott Joplin bis Oscar Peterson, um nur zwei namen zu nennen, schufen unverwechselbare stile des klavierspiels, "Boogie" ist eine klaviergemäße ausformung des Blues. Louis Armstrong und andere improvisierten vokal mit silben, dem sogenannten scat-gesang, musiker neigen mitunter zu selbstironie und understatement (nicht typisch deutsch, daher unübersetzbar).
 
Man kann vieles tun oder lassen:
1.sich frei und ungebunden seinen phantasien hingeben
2.sich an die erwartung von hörern anpassen
3.sich innerhalb eines bestimmten stiles bewegen
4.sich selbst mit vorbedacht grenzen setzen
5.vorher grob planen, die ausführung aber der eingebung des zufalls überlassen
6.sich partnern anpassen

1. Geht nur als solo, am besten im stillen kämmerlein oder unter geduldig/toleranten freunden
2. Eine frage des ambiente; barmusik darf nicht stören, eine schülerf'ète ist anderes als eine unter senioren
3. Tonal klassisch oder jazzig - frei tonal - da ich vom klavier ausgehe, ist die bandbreite beschränkt und richtet sich nach vorbildern, sei es zickig, swing, blues, boogie, rockig oder "balladig" à la Clayderman und Cie.
4. Ich habe die wahl:
ungegliedert formlos-deutlich gegliedert in takten, perioden, sequenzen, reprisen, alles, was hörern leicht macht, dem verlauf zu folgen (wiedererkennungseffekt)
diatonisch tonal oder modal-chromatisch-ganztönig- 5-tönig oder anderweitig exotisch
5. Einem vorher festgelegten charakter oder formschema folgen, etwa einer bogenstruktur (ABA) oder rondoform, monothematisch fortspinnen oder kontraste setzen -
Scherzhaft könnte man von 3 musikalischen archetypen sprechen: geradtaktiges von marsch bis jazz und rock. tänzerisch/gedrehtes im dreiertakt und das arios/lyrische "klagelied", meist das der verlassenen frau (Ariadne). In vielen ethnien sind melancholie und überschäumende lebensfreude dicht beieinander.
6.Das wohl heute am häufigsten zu findende, aber lokal begrenzte "jammen", etwa im trio von Klavier, bass und schlagzeug, wobei einer auf den andern hört, man aufeinander eingespielt ist, und keiner dem andern in seiner funktion in die quere kommt. Wie weit man dabei "patterns" folgt oder freier eingebung, hängt von der phantasie der ausführenden ab, ohne die geht es in keiner form des improvisierens.
 
"Man sieht nur, was man weiß", mit hören und gestalten ist es nicht anders. Wer nicht weiß, wo in Florenz die kunstschätze in museen, galerien, kirchen und palästen verstreut sind, wird sie nicht finden, und auch dann ist fraglich, ob er sie einzuordnen und zu würdigen weiß. Es war in einer toscanischen kleinstadt, als ein ehepaar sich sichtlich bemühte, dem gedruckten reiseführer zu folgen, nichts schien zu stimmen, bis ich lächelnd darauf hinwies, dass sie auf der falschen seite der straße stünden. Über musilkalische praktiken, einschätzungen und wertungen will ich mich hier nicht auslassen., von jedem standpunkt aus hat man eine andere perspektive.

Unser rohmaterial ist die fülle hörbarer frequenzen, klänge und geräusche, Ein klumpen ton, ein haufen ziegelsteine werden in den händen von handwerkern, kunsthandwerkern und künstlern (die übergänge sind beliebig, undefinierbar und fließend) zu einem "werk", einer vase oder skulptur, einer garage oder kathedrale. Man weiß vorher, was man will und führt es aus, ganz nach plan wird es selten gelingen. Leo Tolstoi schildert in seinem großen roman, wie strategen auf beiden seiten sorgfältig planen und detaillierte anweisungen an die truppenteile geben, aber, o weh!, da ist ein sumpf, ein bächlein, ein wäldchen, da sind missverständnisse, unvermögen, verzögerungen, der böse feind, am ende muss taktisch gehandelt werden, und vieles entscheidet der zufall, in krimis zum kommissar ernannt.
Mit material kann ich verschwenderisch oder ökonomisch umgehen, ein einfall nach dem anderen ohne erkennbares bindeglied wirkt chaotisch und verwirrend, gleiche bausteine in mustern gestaltet haben ästhetischen reiz. Die quadern des Freiburger Münsters sind annähernd gleich in der größe, aber um die fassade zu beleben, sind dem vorwiegend roten sandstein gelbliche eingefügt. Wie gebrannte, glasierte lehmziegel zu lebendigen mustern werden, zeigt nicht nur die prozessionsstraße aus Babylon mit ihren vorgefertigten löwen, in Nordfrankreichi und Flandern sind es neben den kirchen die "tuchhäuser" mit ihren "bell-türmen" (bellen= läuten), die das auge erfreuen.
Gut beraten ist, wer sparsam mit seinen einfällen umgeht, ein motiv, geistvoll verarbeitet wiegt schwerer als ein sammelsurium verschiedener elemente, ich erinnere an die berüchtigten potpourris der caféhaus-musik.
Seitdem Mitteleuropa den weg der mehrstimmigkeit beschritten hat, dominiert der 4stimmige satz, oft homophon, speziell in der gebrauchsmusik (auch das ist nicht abfällig gemeint, zu bestimmten anlässen braucht man eben bestimmte musik) in melodie und begleitung unterteilt, wobei die begleitung wiederum aus bass und akkordischem nachschlag besteht.
Ich plädiere für mehr "melos", mehr aufmerksamkeit und phantasie im melodischen verlauf, weg von der 8taktigen periode mit ihren regelmäßigen harmoniewechseln; wenn wir dem schon dauernd ausgesetzt sind, sollten wir uns wenigstens beim improvisieren davon befreien. Warum nicht einstimmige einschübe, auszierungen, fiorituren, zweistimmige durchsichtigkeit, warum muss die linke hand immer "pauken" statt teilzuhaben am melodischen geschehen? Und wenns schon akkordisch sein soll, gibt es viele möglichkeiten, sie spielerisch aufzulösen, was dem klavierklang zugute kommt.
Vor langer zeit sagte mir jemand "deine linke hand ist tot", die "wiederbelebung" gelang.
Es kommt mir manchmal vor, als bestünde die welt der musik nur aus griffe kloppen und akkorde pauken, eine entwicklung, die sich durch die vorherrschaft der gitarre verstärkt hat. Beliebte patterns werden immer wieder abgespult, und seitdem wir durch tonträger immer wieder dasselbe hören können oder müssen, wäre freie, wenn auch flüchtige gestaltung ein wirksames und notwendiges gegengewicht.

Das meer austrinken konnte nur Thor, er hielt es allerdings für met, das thema ist unerschöpflich, und es muss bei anregungen bleiben. In diesem sinne!
 
Ich sehe gerade, dass die "hits" die 1 000 überschritten haben. Vielleicht ist mancher enttäuscht, der auf rezepte hoffte. Spezielles kann aber jederzeit erörtert werden, auch auf McCoy, der erfolgreich praktiziert, hier an board das "klavier" moderiert und mich zu den betrachtungen anregte, ist verlass.
 
Ich bin jetzt mal ganz frech und frag' einfach:

Wieso improvisieren fast alle "Klassiker" nicht?

1.) Weil sie nicht wollen?
2.) oder weil sie nicht können?
 
Weil alles in ihrer Ausbildung nicht darauf angelegt ist, EIGENE Musik zu MACHEN, sondern die Musik ANDERER möglichst perfekt nachzuspielen ... das prägt ....
 
Ja, das ist wahr. Aber warum wollen sie eine derartige Ausbildung?
 
Zitat v. turko: Weil alles in ihrer Ausbildung nicht darauf angelegt ist, EIGENE Musik zu MACHEN, sondern die Musik ANDERER möglichst perfekt nachzuspielen ... das prägt ....

So sehe ich es auch.
Man muss die Sache mal aus der Praxis betrachten (nur mal aus meiner Erfahrung, denn damals war es vielleicht etwas strenger...)

In solcher Ausbildung lernt man eine Unmenge; das Instrument wird in hohem Maße beherrscht und der zugehörige Theoriekram auch auf relativ hohem Niveau.
Bei bis zu 3x Doppelstunden / Woche hatte man wenig Zeit, weil das Pensum so hoch war. Die Kontrollen der Hausaufgaben waren fürchterlich streng und man traute sich überhaupt nicht zu experimentieren und diese Experimente jemandem vorzuspielen.

Das hört sich vielleicht bescheuert an, aber die Stücke mussten ja schon nach Vorgabe gespielt werden. Selbst der Ausdruck stand ja fest.
Jedes klassische Konzert enthält Anweisungen zur Spielweise, logisch, und der Dirigent fuchtelt nicht umsonst mal so und mal so rum:) ....

Oder anders gesagt: Die Vorstellungen zur Spielweise, zum Ausdruck, zu den Möglichkeiten des Instrumentes und selbst zum Repertoire wurden ja quasi anerzogen.
Etwas übertrieben gesagt: Sabbath Bloody Sabbath heimlich im Kinderzimmer nachgespielt war ja schon spannend, weil man dachte "au backe, wenn die alten Säcke hören würden wozu ne Geige taugt". Oder weil es nicht auf einer Geige gespielt wird usw.

Kurz gesagt: Eine klassische Ausbildung läuft nach einem festgelegten Schema ab. Man fängt mit dem Instrument an und kann ja zunächst logischerweise kaum spielen und schon gar nicht improvisieren usw.. Und wenn man damit anfangen könnte, ist man soweit im System gefangen, dass man gar nicht mehr auf die Idee kommt, sich abweichend (und viell. kreativ) zu verhalten. Und schon fehlt etwas für später....

Ich habe mit ca. 15 aufgehört (und diesen Schritt nie bereut), aber einige Leutchens kenne ich noch die weitermachten, später Musik studierten und sich dann teilweise mehr schlecht als recht mittels päd. Zusatzstudium als Musiklehrer und Privatlehrer durchwurschtelten, weil gute Stellen an den Hochschulen usw. besetzt waren ....

Frage v. CUDO: Ja, das ist wahr. Aber warum wollen sie eine derartige Ausbildung?
Interessante Frage:
Von dem was ich in meinem Beispiel schrub weißt du ja vorher nichts. :) Das ist ein schleichender Prozess. Das Ergebnis einer klassischen Ausbildung sind Musiker, die ihr Instrument (meist) hervorragend beherrschen. (ich zähle mich da natürlich nicht zu, nach 8, 9 Jahren)

Aber eine Sache fehlt ihnen sehr oft, um irgendwie auf Günters Thread zu kommen:
Günters Thread heißt ja "Kunst des Improvisierens". Die technischen Fähigkeiten wären bei all diesen Leuten im Übermaß erfüllt, sie haben einen unerschöpflichen Pool an Möglichkeiten und es gibt ja auch die tollsten Improvisateure unter ihnen.

Es gibt aber sehr viele, die beim Probieren, Erforschen, Träumen, Experimentieren, überhaupt bei Dingen der Phantasie usw. ein "merkwürdiges" Gefühl bekommen, weil der neue Weg - der u.U. eingeschlagen wird - mit den jahrzehnte alten Erfahrungen kollidiert.

Praktisches Beispiel: Das selbe Gefühl, als wenn du als langjähriger Autofahrer mal mit dem linken Fuß auf die Bremse trittst. Egal wie gefühlvoll du es machst...der Ruck den es gibt, verursacht ein ungutes Gefühl:)
Achtung: Ich sag dir mal als ehem. Fahrlehrer, dass du es bitte nur auf deinem Privatgrundstück probieren solltest...

Es geht also nicht alleine ums Können, sondern um jahrelange Praktiken, die hinderlich sein können.
Und sei es das komische Gefühl, die Ergüsse der eigenen Kreativität stehen in ihrer Qualität hinter dem Gelernten.

Und um das Drumherum, um die Möglichkeiten, die Herangehensweise, die neuen und eingelaufenen Wege usw. geht es inhaltlich ja auch irgendwie in dem Thread hier....
 
Zuletzt bearbeitet:
Es geht also nicht alleine ums Können, sondern um jahrelange Praktiken, die hinderlich sein können.

... und um die ganze Einstellung zum Thema "musizieren", die sich im Laufe einer Ausbildung/Karriere, wie geschildert, ausprägt, einprägt, und die verinnerlicht wird ...
 
Wieso improvisieren fast alle "Klassiker" nicht?
1.) Weil sie nicht wollen?
2.) oder weil sie nicht können?

Darauf einige antworten, obwohl ich allzu persönliches heraushalten wolltei :
in meinem langen berufsleben wurde selten von mir gefordert, mich meinen einfällen hinzugeben, eigentlich nur, wenn ich den ballettrepetitor vertreten musste und das tägliche exercice begleitete, sonst spielte ich, was die lehrer, dann die kameraden, die GIs, der tägliche probenbetrieb am theater von mir verlangten. D.h. den üblichen lehrstoff, die tagesschlager, die "beerbarrel-polka", Lili Marleen, "Stardust", klavierauszüge von A-Z, den klavierpart der "Winterrreise", des "Italienischen liederbuches" und aller anderen liederzyklen..
Wenn wir, und das bleibt fast niemandem erspart, tanzmusik machten und in vorgerückter stunde drauflos spielten, nannten wir das "fichteln", was aber keinen hohen stellenwert hatte, und wobei wir nicht stolz auf unsere "kreativität" waren.
Zwei jahre im gewahrsam der US-Army brachte mich in kontakt mit "schwarzer" musik (die weißen GIs durften nicht mit uns "fraternisieren", die schwarzen hielten sich nicht daran oder sie, ebenfalls zweitrangig, durften), die war für uns neu und faszinierend, brachte mir aber die erkenntnis "So kannst du das nie, bleib bei deinem leisten", am wohlsten fühlte ich mich in der Big Band, mit der wir aus dem lager rauskamen und herumtourten.
Die oben erwähnte "schwarze" musik hatte wenig zu tun mit dem, was heute und hier in bars und kellern erklingt, und auch wenn ich die blues-tonleter, 6-taktige perioden und 4-5stimmige akkorde, beat und off-beat kenne, fehlt doch der seelische urgrund, die musik auszufüllen. Ich kann mir auch vorstellen. wie es in den kneipen und bordellen von New Orleans und Chicago zuging und manchmal nur müde lächeln, wenn ich manches höre, was sich als "jazz" ausgibt, ich weiß sogar recht authentisch, was das wort bedeutet.
Ich sehe mein musikerleben noch als relativ vielseitig an, aber militär- und orchestermusiker haben sich einzuordnen, entsprechend ist auch ihre ausbildung, solisten haben so intensiv an ihrem spiel zu feilen, um dem geforderten hohen niveau zu genügen, dass kaum raum bleibt für anderes. Ich kannte aber den konzertmeister einer staatskapelle, der gelegentlich im bahnhofsgebäude sich seiner leidenschaft hingab, "zigeunermusik" zu geigen. das war mit alkoholkonsum verbunden und von der direktion nicht gern gesehen. Mit dem solotrompeter einer anderen staatskapelle hatte ich ähnliche erfahrungen.
Ich fühlte mich immer nur als gelegenheitskomponist, fehlte irgendwo etwas, sei es bühnenmusik im schauspiel, im alljährllichen weihnachtsmärchen, brauchte ein chor etwas für einen wettbewerb, ich machte es , ohne brimborium, meist erfolgreich und ohne honorar.
Ich habe alle akkorde, alle leitern, alle kadenzen, ob Dur ob moll in den fingern, aber ich spiele lieber die ganze literatur vom Fitzwiliam-book" bis Ligeti und Cie. Abends vor dem einschlafen kommen mir alle möglichen verrückten ideen, einige schleppe ich jahrzehntelang mit mir herum, es fehlte an motivation, an zeit, jetzt vielleicht auch an kraft nd lust, sie zu realisieren.
Ob ich und andere "klassiker" sind, außer von organisten wird improvisation von uns nicht verlangt, darum kaum gelehrt und praktiziert. In "Neuer musik" gab und gibt es versuche, zumindest passagen in kompositorisches einzubauen
In größeren klangkörpern, orchestern, chören ist sie auch schwer möglich. ich wollte eigentlich schildern, wie ich in einer ausnahme-situation mit einem chor improvisiert habe, aber wen interessiert das, ebenso wenig, was ich im stillen kämmerlein mache, das ist nicht kommunikationsbedürftig oder -fähig, geht auch keinen etwas an!
Können, wollen, dürfen gehen manchmal durcheinander, und manchmal ist bescheidenheit angesagt: mein freund und kollege aus Rio spielte gekonnt und eindrucksvoll, und da bin ich versucht, von "improvisationskunst" zu sprechen, dann sagte er "das waren 15 minuten "NICHTS!"
 
Günter Sch.;6199651 schrieb:
"das waren 15 minuten "NICHTS!"
Der wusste, was der Kern des Improvisierens ist.

Man kann das natürlich anders verstehen; vielleicht ist aber genau dieses Missverständnis die Crux dessen, worum es beim Improvisieren geht.
Der Musiker tritt in den Hintergrund und lässt etwas tieferes, der Musik innewohnendes hervortreten, Leben gewinnen.
Der Drang, sein eigenes Können zu zeigen, sein Ego aufzupolieren, intelligente und vielschichtige Plaudereien zu produzieren, wird unwichtig und weicht der Versuchung, es mit dem Nichts zu versuchen.
 
Günter Sch.;6199651 schrieb:
Die oben erwähnte "schwarze" musik hatte wenig zu tun mit dem, was heute und hier in bars und kellern erklingt, und auch wenn ich die blues-tonleter, 6-taktige perioden und 4-5stimmige akkorde, beat und off-beat kenne, fehlt doch der seelische urgrund, die musik auszufüllen. Ich kann mir auch vorstellen. wie es in den kneipen und bordellen von New Orleans und Chicago zuging und manchmal nur müde lächeln, wenn ich manches höre, was sich als "jazz" ausgibt, ich weiß sogar recht authentisch, was das wort bedeutet.
Warum hängen wir Weiße eigentlich so an schwarzen Musikidealen aus früherer Zeit? Die Frage ist eher rhetorisch, denn der Zusammenhang ist mir schon mehr als einmal begegnet. Jazz war(!) in Chicago und New Orleans in den 20ern und 30ern die Musik der Afroamerikaner, aber Jazz ist(!) heute auf der ganzen Welt. Und damit die Improvisation. Warum nehmen nur wenige diese neu zur Verfügung stehenden Einflüsse und orientieren sich ausschließlich an der Vergangenheit?

Jazz und Improvisation bedeutet auch immer Neues und Weiterentwicklung. Soll nicht bedeuten, dass man nicht von der Vergangenheit lernen kann. Aber interessant wirds doch erst, wenn man seinen eigenen Einfluss mit einarbeitet.
 
Warum hängen wir Weiße eigentlich so an schwarzen Musikidealen aus früherer Zeit.
Das hängt mit der sehnsucht nach rausch zusammen, der europäischen musik war dieser reiz abhanden gekommen, die neue afro-amerikanische konstellation fand einen eben so bereiten nährboden wie später die rockmusik. Es war nicht allein der klang verzerrter gitarren, schamanenhaftes gebaren u.a.m., was der britischen polizei anlass gab, den frühen rockkonzerten nachzuspüren, das wann und wo wurde aus eben den guten gründen geheimgehalten. Heute hat sich das alles "normalisiert". Wir finden synköpchen und stimmverzerrung auch in der bravsten "volksmusik-szene".
Ich wollte schon lange mal Kreneks "Johnnie spielt auf!" kennenlernen, wonach man sich drängelte, wie heute zu manchen musicals, weil da "jazz" drin vorkommen sollte. Die leute wurden enttäuscht, das werk hat sich nicht auf den spielplänen gehalten, und ich weiß, warum. Ich habe "moderne operette" gemacht, da wurden walzer, mazurka, polka, galopp der "klassischen" durch die neuen modetänze ersetzt. Es gab ein "Charleston-fieber", dann kam der tango, der swing, lateinamerikanisches, musik+tanz+mode+entertainment bis zum lebensstil der eben aus dem knast entlassenen schwarzen jugendlichen der Bronx, dem Hiphop, und so geht das weiter mit parties und disco, alkohol und Co, und nie ohne musik.
Ob all diese musik, wie auch immer gemacht und dargeboten, immer aus tiefster seele quillt, ob vieles nach dem gerade erfolgreichen schema abläuft, möchte ich mit einem fragezeichen versehen, das betrifft alle sparten, denn oft ging die kunst nach brot, woran auch nichts auszusetzen ist.
 
Zuletzt bearbeitet:
Günter, eigentlich hast Du meine Frage falsch verstanden, denn sie war eher rethorischer Natur. :)


Wenn sich heutzutage jemand für die Konservenfabrik - äh ... für das Konservatorium - entscheidet, sind die Würfel doch bereits schon längst gefallen. "Wenn schon Musik, dann doch eher Klassik. Da weiß man was man hat," würden die Eltern sagen wenn sie ihren Zögling zur Ausbildung schicken.

Im Spanischen sagt man "tocar con malicia" und die Schwarzen können und konnten das eben schon immer besonders gut. Sich selbst zu vergessen, sich aufzugeben, um jeden Preis, allein der Musik willen, ist nicht jedermanns Sache. Da gehört Courage dazu. Und da gibt es keine Rückversicherung wie mit einem Chopin in der Tasche. Da kann man auch mal ganz schön auf die Schnauze fliegen.

Die Kunst der Improvisation fängt doch schon bei der Lebenseinstellung an. Man muss eben 100% dahinter stehen wenn man was zu sagen hat. Halbherzigkeit geht gar nicht beim Improvisieren und! - man muß jederzeit empfänglich sein zu reagieren - auf sich selbst, oder auf die mitspielenden Musiker.

Das passt doch alles so gar nicht in unser europäisches Denken das immer auf Vernunft und Logik basiert.
 
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Außer in engem bereich gibt es keine bezahlten jobs für improvisatoren, und wenn ich plakatierte "Günter Sch. spielt 90 minuten "nichts", bliebe ich wohl allein im saal. Jazz, ob modern, free oder sophisticated, erfreut sich auch keiner breiten beliebtheit.
Im weiteren sinne hast du recht, improvisieren findet im täglichen leben statt, der eine kanns besser, der andere weniger. Ich sage nicht zuviel, wenn ich mein überleben in schwierigen situationen mehrmals plötzlichen einfällen verdanke, die kamen instinktiv und ohne vorbedacht, allerdings auf vorbereitetem terrain, sie basierten immer auf der grundneigung zum ungehorsam und unkonventionellen.
Auf der anderen seite hat der, der es kann, ein fülle schöner musik zur verfügung. Wer könnte aus dem stegreif solche konstruktionen über einen schlichten bass ausführen wie Bach in den Goldberg-Variationen, wer Mozarts melancholie, Beethovens dramatik und humor, Chopins und Schumanns poesie, Bartoks rhythmik so eben erfinden? Aber wer kennts und kanns? Da geht man auch nicht halbherzig zu werke, nach Schuberts letzten adagio-sätzen muss ich erst mal pause machen, so greift mich diese "winterreise-stimmung" an.
Waren die Commedia dell'arte, die stegreif-hanswurstiaden, das kaspertheater dem klassischen drama überlegen, gehört nicht auch viel kreativität dazu, geschriebenes über die rampe zu bringen?
Das eine tun, das andere nicht lassen und schon gar nicht das eine gegen das andere ausspielen! Europa hat einiges auf den weg gebracht, wenn auch vieles zu wünschen übrig bleibt, vielleicht gehört Afrikanern, wenn auch nicht in Afrika, die zukunft.
 
Nicht zu vergessen das, was man den Afrikanern, ob zu recht oder zu unrecht, nachsagt:
der Rythmus, der intuitiv statt zähltechnisch und timingsteril direkt ins Becken geht statt den Umweg über's Hirn zu nehmen.
Das ist die ganz große exotische Attraktivität, die wir beneiden. Die Traute, statt kühl-intellektueller ganz einfach mitreissend erotische Musik zu machen.
Lässt sich aber sicherlich nicht generalisieren, weil es ein Vorurteil mit gewissem Wahrheitsgehalt ist.
Das Nichts, das kennt er auch besser als wir, er lässt sich vorbehaltlos fallen in die Trance, in der wir fürchten, unser Ich zu verlieren, unseren bleiernen Pferdefuß.

Was soll's; niemand kann nirgens seinen Kulturkreis verlassen. Muss man halt sehen, was unserer so hergibt.
Es lebe der Krautrock, die erste populäre hiesige Improvisation im angloamerikanischen Swimmingpool.
 

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