Erstens möchte ich immer wieder für einen weiteren Blickwinkel plädieren, man darf nicht von dem kleinen Ausschnitt den man persönlich von der Welt sieht immer gleich auf das ganze Bild schliessen. Natürlich sind alle Menschen letztlich stark von Digitalisierung und Internet betroffen, aber der Netzbewohner - und ich sehe diese Diskussion hier sehr stark auf dessen Blickwinkel eingeengt - ist gesellschaftlich ein Randphänomen. Das liegt schon alleine in der Altersstruktur der westlichen Welt begründet.
Im Hinblick auf die Musik bedeutet das z.B., dass in Deutschland an der Spitze des Musikgeschäfts Künstler stehen, von denen etwa der 16-jährige Nerd nie was gehört hat und vermutlich nie hören wird. Was war das erfolgreichste deutsche Album im '00er Jahrzehnt? "Andrea Berg: Best of". Tourneen von Wolfgang Petry waren in D besser besucht als die der Rolling Stones. Dagegen sind die deutschen "Stars" der Jugend schlicht nichts und niemand. Man mag es hassen, aber DAS ist die Masse. Die BILD ist "mit einer verkauften Auflage von 2.900.355 Exemplaren
[1] weltweit die auflagenstärkste Zeitung außerhalb Japans" (Wikipedia). Diese Phänomene sind dieser seltsame, versteckte Mainstream, der quantitativ weit überlegen ist, dem aber seltsamerweise aus "unserer" Sicht niemand angehört. Die wenigsten von uns kennen leidenschaftliche Andrea Berg-Fans nehme ich an. Der Schlüssel liegt also in der Individualisierung der Lebenswirklichkeiten, einer Zersplitterung in viele Parallelgesellschaften, die mehr und mehr den Bezug zueinander verlieren. Sehr gut passt hier dieser Artikel, der sich damit beschäftigt, wie das Internet - am Beispiel Facebook - schnell zu einem Medium werden kann, dass nur noch die eigene Weltsicht widerspiegelt und verstärkt, sei sie noch so nischenhaft:
http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,750111,00.html
Die Gefahr ist klar: Man kann in die Falle tappen, dass man schnell den Eindruck gewinnt, die ganze Welt wäre genauso wie man sie sich denkt, obwohl man vielleicht eine verschwindend geringen Minderheit angehört. Ein faszinierendes, aber sicher auch gefährliches Phänomen: Die klassischen Massenmedien bergen die Gefahr der Gleichschaltung und kollektiven Desinformation, das Internet birgt die Gefahr der "autistischen Individualisierung", jeder kann sich durch selektive Wahrnehmung seine eigene Welt basteln, die irgendwann im Extremfall keine Schnittmenge mehr mit denen der anderen hat.
Im Bezug zu unserem Thema:
Ich selbst kenne auch sehr gut aufgestellte, aber in weiten Kreisen wenig bekannte Nischen-Labels, wo man auch ohne großen Namen regelmäßig gut 500 Einheiten (physikalische CDs wohlgemerkt) pro Album und Quartal über mehrere Jahre hinweg absetzen kann, wobei man da sogar halbjährlich eine oder sogar mehrere neue VÖs machen kann. Das gibt es. Wenn ich dann wiederum von den "coolen" und "trendigen" Nerd-Labels wie Audiolith oder Tapete lese, dass es für sie schon ein riesiger Erfolg ist, wenn sie mit einem ihrer Newcomer 1000 Einheiten absetzen, erstaunt es mich echt, dass es offensichtlich viele widersprüchliche Wirklichkeiten innerhalb der Musikbranche gibt.
Die Wahrnehmung, dass die Branche in der totalen Krise ist, ist also nur ein möglicher Blickwinkel und nicht zwingend allein gültige Wahrheit. Dass der Trend generell im Bereich der Tonträgerfirmen eher negativ ist, ist klar, aber offensichtlich gibt es innerhalb dieser Tendenz noch erhebliche Unterschiede. Man sollte daher schon auch überlegen, ob das nicht eher ein Phänomen im oben beschriebenen Sinne ist, dem man vielleicht auf den Leim geht: Für jede Branche gehört jammern immer zum Propaganda-Handwerk und die Gegner dieser Branche nutzen natürlich auch jede Gelegenheit um deren angeblichen Niedergang zu belegen und zu Feiern.
Bis jetzt beschränken sich die Betrachtungen auch rein auf die Plattenfirmen und es ist Teil des Problems dieser Diskussion, dass man immer viel zu vereinfachend von DER Musikbranche spricht. Betrachtet man die GEMA-Umsätze, kann man sogar eher einen positiven Trend beobachten, jedenfalls keinen erheblichen negativen. Das heißt also das heute mehr Musik denn je legal und bezahlt genutzt wird.
Was Modelle angeht, die auf freiwilliger Bezahlung durch die Nutzer basieren, so sehe ich da mittelfristig nicht die geringste Chance. Vielleicht findet da langfristig ein Umdenken statt, aber derzeit das brachial-ökonomische Gedankengut noch viel zu tief in den Köpfen verankert: Was ich umsonst haben kann, nehme ich mir umsonst. Diese enttäuschende Erfahrung durfte auch unser frischgebackener Oscar-Gewinner Trent Reznor schon machen:
http://www.spex.de/2008/01/04/trent-reznor-katerstimmung-nach-saul-williamsvertrieb/
Strom kommt aus der Steckdose, Fleisch aus dem Kühlregal und Musik eben aus dem Internet. Dass das nicht selbstverständlich ist weiß natürlich jeder, es fehlt aber, wie so oft, ein Bewusstsein, das stark genug ist, um wirklich das Handeln des Konsumenten auch nur ansatzweise zu beeinflussen.
Ich denke eher das die bestehenden Strukturen und Modelle angepasst werden:
YouTube und Streaming-Dienste sind z.B. letztlich nicht weit weg von privaten Rundfunk. Für den User kostenlos, das Geschäftsmodell der Anbieter basiert auf Werbung, die Rechteinhaber werden angemessen entlohnt.
YouTube schaffte es ja nicht einmal mit größtenteils unlizenziertem und unbezahltem Content wirklich Geld zu verdienen. Ich kann mir aber durchaus vorstellen, dass da ein funktionierendes Geschäftsmodell entwickelt wird. Wenn man sich dann mit den Rechteinhabern bzw. deren Vertretern (GEMA, etc.) einig wird - und zwar dergestalt, dass wirklich auch kleinste Urheber fair partizipieren können - dann sind wir doch schon einen großen Schritt an einer Idealsituation: Ein Plattform die jedem Anbieter "demokratisch" offen steht, egal ob Kellerkind oder Konzern-Multi und die den User nichts kostet. MTV 2.0, nur das hier jeder Künstler die - sicher nicht faire, aber immerhin eben EINE - Chance hat "mitzuspielen". Selbst wenn ein Modell wie YT weiterhin Minus machen würde, könnte ich mir vorstellen, das die Rechteinhaber irgendwann sogar noch anfangen würden es mitzufinanzieren.
Viele werden es vielleicht nicht wissen, aber im Hintergrund haben wir längst Strukturen und Geldströme, die dem Modell Kulturflatrate nahekommen: Jeder der einen PC, eine Festplatte, einen Rohling, einen MP3-Player, ein Handy, etc. kauft ZAHLT dafür HEUTE SCHON Abgaben - genau gesagt als Vergütung für die legale Privatkopie -, die über die ZPÜ an die GEMA, GVL etc. weitergeleitet werden und dort dann an die Künstler, Plattenfirmen, Verlage, etc. verteilt werden.
Es wurde ja schon oft kritisch festgestellt, dass "die Kiddies" ja lieber ein paar hundert EUR für Handies, etc. ausgeben, aber nicht für Musik. Dabei wird vergessen, dass eben ein Teil dieses Geldes über Umwege doch "bei der Musik" ankommt! Wenn immer weniger direkt für Musik ausgegeben wird, kann ich mir vorstellen, dass diese Art der Abgaben eben steigen werden bzw. der Kreis der Abgabepflichtigen erweitert wird. Wie ich mal an anderer Stelle gesagt habe: Es ist letztlich völlig wurscht WER mit dem Musikkonsum ein Geschäft macht. Irgendwer wird es ZWANGSLÄUFIG IMMER sein. One-Klick-Hoster, Gerätehersteller, Serverbetreiber, Internet-Provider, etc., egal, letztlich kann die "Musikindustrie" immer mit denen verhandeln, die davon profitieren und für diese Leute ist es ja auch wirtschaftlich klug, wenn sie sich auf entsprechende Deals einlassen, da sie genau wissen, dass ihre Angebote nur mit den Inhalten der Rechteinhaber attraktiv sind.
Wie gesagt hier ist Vieles schon LÄNGST Realität, nur bekommt der Nutzer das gar nicht mit. Insofern kann ich mir gut vorstellen, dass das letztlich in dieser Richtung ausgebaut wird und bestehende halb- oder illegale Angebote in legalen Formen aufgehen. Dann werden vielleicht die Geräte, DSL-Anschlüsse, Premium-Accounts, etc. ein paar Prozent teurer, das merkt der Nutzer vielleicht gar nicht und das warum ist ihm eh' egal. Diese ganzen Abgaben gehen dann - wie heute eben auch schon - in einen Topf und werden - hoffentlich fair auf Basis exakter Nutzungsdaten - an die Künstler, Urheber, Plattenfirmen, Verlage, etc. verteilt.
So eine Entwicklung könnte passieren, ohne dass das die Öffentlichkeit überhaupt großartig mitbekommt. Das ist eben wie gesagt im Hintergrund strukturell schon alles da, das wäre nichts Revolutionäres, eigentlich nur ein relativ kleiner Schritt. Der einzige Unterschied, den Otto-Normal mitbekommen würde, wäre z.B. dass es plötzlich heisst, dass alles was auf YT und Rapidshare passiert jetzt völllig legal ist, wenn man als Uploader den Content einfach nur korrekt deklariert.
Das wäre also quasi eine Kulturflatrate durch die Hintertür in Kombination mit werbefinanzierten Angeboten.