Ganz allgemein gesprochen, es ist ja nicht so, dass jenes, was (in dem Fall vornehmlich in der westlichen Kultur) die meisten Menschen verwenden, das einzig wahre oder das einzig brauchbare ist. Im Gegenteil, es ist nur eine von unendlich vielen Möglichkeiten. Eine Möglichkeit, welche es im Laufe der Entwicklung zu einer extremen Verbreitung geschafft hat. Ich persönlich denke, dass diese heutige extreme Verbreitung des 12tet maßgeblich folgende Gründe hat:
1. Die Entwicklungen im Instrumentenbau in den letzten 300 Jahren hat zu einer starken Verbreitung von Instrumenten mit Hauptstimmung im 12tet geführt, so dass es schwierig ist, Alternativen zu finden oder überhaupt zu wissen, dass es Alternativen gibt.
2. Das 12tet passt gut zu vielen historischen Volksmusiken in Europa... welche dann in Amerika weitergelebt und verändert wurden. Früher, als es noch kein TV oder Internet gab, geschweige denn Tonträger, haben die Menschen viel mehr im Alltag in ganzen Gruppen gesungen und musiziert. Die Volksmusiken hatten so einen sehr hohen Stellenwert, und das 12tet ermöglichte weiterhin diese Musiken.
3. In der Gesellschaft in Europa und Amerika wurden Schulen aufgebaut, in großem und in kleinem Rahmen, in denen Musik gelehrt wurde. Die von vielen Leuten als angenehm empfundene tonale Musik, seit ca. 200 Jahren auf Basis des 12tet, wurde dabei bevorzugt, und dies ist heute noch an sehr vielen Orten des Lehrens so.
4. Intendanten, Direktoren und Verbände bevorzugen heute noch tonale Musik, da die meisten Menschen so konditioniert sind (durch Medien wie TV, Tonträger, Zeitschriften... aber auch durch Events), dass sie tonale Musik auf Basis des 12tet, oder auch auf an die "reine Stimmung" angelehnten Systemen, bevorzugen, und somit die Wahl von solcher Musik auf einfachere Art und Weise mehr Geld in die Kassen bringen kann.
5. Die Kirche hat Musik dahingehend entwickelt, sie einschläfernd und betörend klingen zu lassen. Diese Entwicklungen liegen allerdings schon weiter zurück als die Erfindung des 12tet. Hier liegt jedoch die Wurzel allen Übels begraben. Die Kirche hatte in Europa einen gewaltigen Einfluss auf die Gesellschaft, und das ist bis heute immer noch so. Damals fing sie an, die Menschen zu konditionieren mit tonaler Musik, und die Kirche beeinflusste dabei maßgeblich den Instrumentenbau.
6. Erst später, als die Bestrebungen der Kirche schon Früchte trugen, entstanden fortschrittliche Streich- und Blasinstrumente, Orchester und Opern. Die Komponisten und der Adel (damalige Intendanten und Direktoren stammten meist aus dem Adel) in der Zeit der Entstehung der klassischen Musik wie wir sie heute noch kennen waren letztendlich durch Kirche und Volksmusiken weitestgehend konditioniert, und so arbeiteten sie im Rahmen tonaler Musik. Im Barock und in der Klassik entwickelte man recht komplexe und intelligente Musik mit System, die jedoch durch Kirche und Volksmusiken sowie den daraus resultierenden Instrumentenbau ihren Rahmen bereits vorgegeben hatte: tonale Musik, die später dann im 12tet fortgesetzt wurde. Irgendwann wurden diese Barrieren, die langsam aber gewaltig entstanden waren, in Europa und Amerika wieder aufgebrochen (Romantik, dann zweite Wiener Schule, parallel zu letzterer Entdeckung des Jazz, Serialismus, Wiederentdeckung der "Mikrotonalität"), und dieser Prozess ist heute noch im Gange.
Ich erhebe hiermit natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es ist eine grobe Darstellung meiner Ansichten auf den musikalischen Kontext, in dem wir heute in der westlichen Kultur leben. Einige diese Ansichten beschreibt Thomas Levenson in seinem Buch Measure for Measure: A Musical History of Science.
http://www.amazon.co.uk/Measure-Musical-History-Science/dp/0684804344