Werden Musikinstrumente von Synthesizern ersetzt?

Radios gibt's schon seit etwa 100 Jahren. Schallplatten schon weit länger. Da wurde niemand verdrängt, sondern es wurden Anwendungsbereiche erweitert. Selbst die totgesagte Schallplatte gibt's immer noch und legt vom Absatz her sogar wieder zu.

Ich wage sogar zu behaupten, dass es allein aufgrund des Bevölkerungswachstums heute mehr Musiker gibt als je zuvor.
 
Frage ist halt, gibt es mehr gute Musiker als zuvor oder hat die wesentlich leichtere Verfügbarkeit von Werkzeugen zum Musikmachen nicht auch eine Menge Schrott hochgespült? (analog zu den Menschen, die sich nach 100GB von Youtube gerippten MP3s und nem Traktor-Crack für einen DJ halten).
Wenn ihr mich fragt, ja, es ist mittlerweile einfach geworden, mit Schrott auf sich aufmerksam zu machen. Das gilt aber auch umgekehrt, denn die heutigen Möglichkeiten erleichtern es einem ungemein, auf die Suche zwischen Schrott und Rohdiamant zu gehen. Das war vor 20 Jahren noch wesentlich anstrengender bis unmöglich.

Was feststellbar ist, ist das der Popmainstream mittlerweile völlig auf den Rechner angewiesen zu sein scheint und niemand mehr Toto von Session zu Session quer durch LA jagt. Das Problem da sehe ich eher im Zeitgeist, dass programmierte Plastikmusik das neue Mass aller Dinge darstellt.

Auf der Bühne hingegen scheint das plötzlich egal zu sein, da fahren die Weltstars plötzlich mindestens ein Quintett übelster Profis auf, weil echte Musiker halt eben immer noch mehr Leben haben als das Rechnerwerk backstage, selbst wenn sie nahezu nur noch vollelektronische Sounds triggern. Synthies kann man dabei noch am leichtesten zuspielen, aber versuch das mal bei temporelevanten Sachen wie einer Gitarre oder den Drums. Die ganzen Rapper mit Liveband und die Tatsache, dass es jährlich mehr davon werden, unterstreichen das Argument nur noch. Es macht eben DOCH einen Unterschied, und sei es nur die Präsenz onstage.
Ausserdem; die Kollegen die ich kenne, die als Drummer elektronische Musik (stilistisch) live auch auf (teil)akustischen Drums spielen können, sind dauernd ausgebucht.


Und die musikalischen Sparten, bei denen man tatsächlich eine Auslöschung durch Digitaltechnik herbeifürchten könnte, sind meistens voller Traditionalisten oder einfach Menschen, die sehr gut dagegenhalten können, dass sie da jemand obsolet machen will - wenngleich das Potential dafür sogar da wäre.


Ein Wort noch zu den Broadway-Kurzweils. Ich war vor zwei Jahren in Hamburg bei Phantom of the Opera. Im Vorfeld wurde ja viel geschrieben darüber von wegen "kleingedampfte" Produktion, was ich zumindest akustisch nicht vernehmen konnte. Nach der ganzen Nummer mal in den Orchestergraben geschaut. Dreimal Kurzweil plus einmal Roland Samplepad für Drums, dazu die einen oder anderen Naturstreicher/-bläser/-woods. Klanglicher unterschied gleich null. Das Budget dankt.
Wenn also diejenigen, die sich anmassen, den Unterschied zu erkennen, regelmässig rein gar keinen Unterschied hören, was hört denn erst das musikalisch weniger "insiderlastige" Publikum, das nur auf die Bühne sieht?

Ich hab eher so das Gefühl, das Auge hört mit. Vor einiger Zeit hab ich bei einer Schüleraufführung von The Lion King mitgeholfen. Vier Leute als Orchester, einmal Schlagzeug, einmal Bass/Git, zwei Keyboards, davon einmal Kurzweil PC3X und einmal meine Wenigkeit mit KorgX5D/NordWave-Doppeldecker und aufgeklapptem Macbook mit Mainstage daneben.
Nun ist ja das Stück doch recht orchesterlastig, auch wenn die original dreieinhalb Keyboarder (der Basser hat noch n Voyager) der Produktion bekanntlich primär tatsächlich Synthies spielen, Samples abfeuern und nur selten das Orchester andicken. Aber das hatten wir ja nicht und so schickten sich zwei Keyboarder an, Mallets, Woodwinds, Strings, Brass und den synthetischen Krempel aus ihren Kisten zu ziehen. Das Ergebnis war jetzt nicht broadwaywürdig, aber für die Verhältnisse der Aufführung laut Rückmeldungen ziemlich way above.

Am Ende einer Aufführung begab sich ein Mensch nach vorne, der, so schien es zumindest, wusste wovon er redete. Mit grossen Gesten lobte er die Arrangements und wünschte, ich möge ihm doch kurz die Orchesterlibrarys zeigen die ich dafür verwendete. "VSL, oder? Und die African Mallets von Kontakt, stimmts? Wie schafft man die so präzise zu spielen? Sequenzer? Habt ihr Clicktrack?".
Nun ja. Nachdem ich ihm das Mainstage-Projekt gezeigt hatte, das lediglich aus ca. hundert Midi-Routings, zwei One-Shot-Knall-Samples und einer einsamen Instanz Omnisphere (die Fläche in Endless Night) bestand und ihm darauf alles aus dem Gesicht fiel, versuchte er verzweifelt, den zweiten Rechner zu finden (den es natürlich nicht gab). Es war ein Spass für sich, demonstrativ das Book runterzufahren und mit den Bläsern vom Nord und den Streichern ausm Korg rumzutröten wie bereits vorher ("das sind doch billige Masterkeyboards! Niemand in grossen Produktionen spielt sowas!"). Der arme Mann durfte dasselbe Spielchen dann auch noch beim Kollegen ertragen, der ihm mitleidig zu Protokoll geben musste, dass seine Wall of Sound ebenfalls ausm Keyboard kam und rein gar nix zugespielt wurde ("na ja, immerhin Kurzweil. Sie spielen das Klavier damit, oder? Ihr Kollege lügt ja nur").

Ich hab nicht mehr viel von dem Mann gesehen, aber anscheinend hat er sich noch mit der Musiklehrerin versucht anzulegen, was es denn für eine Frechheit sei, ein Fake-Orchester aufzufahren, das nur so tut als ob und das Orchester dabei von CD zu spielen. :nix: :ugly:
 
Nicht alle Synthesizer sind, um andere Instrument zu ersetzen oder imitieren. Also, akustische Instrumente sind immer noch etwas Besonderes.
 
Ich kann mir allerdings vorstellen, dass zumindest die auftragslage bestimmter studiomusiker schlechter wird - irgendwer muss das zwar musikalisch alles können, aber für anwendungen, wo "so ungefähr der klang von instrument x" bestens ausreicht, ist man eben mit einem typen in nem kellerstudio, der das alles mit nem MIDI keyboard und ner SW library einspielt, gut bedient, und muss sich nicht mehr die speziellen musiker für alles ranholen.

Selbst zerrige e-gitarre klingt ja inzwischen synthetisiert recht passabel, vor paar jahren wäre ich da noch skeptisch gewesen.
 
Studiomusiker werden ja nicht nur wegen des Klangs gebucht, sondern wegen ihres musikalischen Könnens.
 
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Von nem Moog IIc würde ich Albträume bekommen. Klaus Schulze meinte mal in nem Interview bei ihm wären die Hälfte der Oszillatoren ständig verstimmt bzw. anderweitig unbrauchbar gewesen.
Ich hatte einen späteren Moog 35 und da waren die VCOs eigentlich schon recht stimmstabil.
 
Das waren ja schon die späteren Oszis von ab '71 oder '72, deren Technik '72 auch in den Minimoog kam.

Bei den ollen Point-to-Point-Oszis in Moog I, II und III kam man aus dem Stimmen nicht mehr raus. Und Pearlman, Friend & Co. haben gefrotzelt.

Schätze, Ralf Hütter hat sich damals am Anfang von Kraftwerk auch einen Moog III geschossen. Das erklärt, warum Kraftwerk eine Zeitlang bei ihren Konzerten Pausen einlegen mußten, um die Oszillatoren zu stimmen.


Martman
 
Danke für den informativen Artikel, da konnte ich was lernen.
Interessant wäre es ob ich den Unterschied zwischen einem gesampelten und einem richtigen Orchester bemerken würde.
Aber da ich Musik von Symphonieorchestern eh nicht sehr mag wäre mir ziemlich egal ob da echte Musiker spielen.
Bei meinen geliebten E Gitarren wollte ich aber keine Computer, selbst wenn die irgendwann sogut wären, dass ich keinen Unterschied merke,
Sicher hört man den Unterschied, wenn man sich damit etwas auseinandersetzt.
Aber oftmals spielt das auch keine Rolle, denn in vielen Fällen reichen Streicher aus Synthies und Samplern gut aus, da sind einfach die Ansprüche anders gelagert. Manchmal ist es sogar gewollt, das es nicht ganz natürlich klingt, so nimmt man beispielsweise manchmal lieber eine alte Solina oder ein Mellotron, statt hochwertiger und viel näher am Original liegenden Streichersamples.

Bei klassischer Musik wäre das natürlich ein absolutes NoGo, da geht ja auch kein Pianist mit einem E-Piano oder der Workstation auf die Bühne, egal wie gut das klingen mag.
 
...hab den ganzen Thread nicht gelesen sondern mal nur die einzelne Frage im Threadtitel auf
mich wirken lassen....

Antwort:

Synthesizer SIND Musikintrumente! Und zwar ganz eigenständige....
 
Schätze, Ralf Hütter hat sich damals am Anfang von Kraftwerk auch einen Moog III geschossen. Das erklärt, warum Kraftwerk eine Zeitlang bei ihren Konzerten Pausen einlegen mußten, um die Oszillatoren zu stimmen.

Meines Wissens nach haben Kraftwerk in ihren Anfangsjahren ausschließlich auf konventionellen Instrumenten (inkl. E-Gitarre und elektronischer Orgel) gespielt, mit dabei war auch noch selbstgebautes Equipment, größtenteils elektronische Effekte.

Den ersten Synthesizer - einen Minimoog - hört man auf dem Album "Ralf & Florian" von 1973. Später (auch bei Liveauftritten) kam noch ein ARP Oddysey dazu.
 
Laut dem Buch Electri-City – Elektronische Musik aus Düsseldorfhatte Ralf Hütter schon sehr früh, also wohl schon zu Kraftwerk 1-Zeiten, einen mit der schweren Kohle seiner Eltern bezahlten Moog-Modularsynthesizer. (Um einen Minimoog hätte man nämlich nicht diesen Wirbel von wegen "riesengroß" und vor allem "schweineteuer" gemacht.) Weil er damit aber nicht umgehen konnte, ist das Ding dann wohl auf den Alben kaum bis gar nicht eingesetzt worden und wird deswegen auf Kraftwerk-Fansites auch nicht erwähnt. Ich weiß nicht, ob Ralf das Ding bei den Konzerten im Ratinger Hof tatsächlich versucht hat zu spielen oder nur hingestellt hat, weil es cool aussah.


Martman
 
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Laut dem Buch Electri-City – Elektronische Musik aus Düsseldorfhatte Ralf Hütter schon sehr früh, also wohl schon zu Kraftwerk 1-Zeiten, einen mit der schweren Kohle seiner Eltern bezahlten Moog-Modularsynthesizer...

Cool, wieder was dazugelernt. :)

Übrigens haben sich wohl auch die Rolling Stones seinerzeit ein Moog Modularsystem angeschafft, weil sie (wie manch andere) dachten, das wäre das Nonplusultra.

Die konnten aber auch nicht damit umgehen und haben es wohl schnell wieder verkauft...:D:evil:
 
Seit Ende 80er werden übrigens Schlagzeuger bzw. Schlagzeuge durch MPCs ersetzt. :tongue:
Sample-basierte Synthesizer können so manche Instrumente – insb. Tasteninstrumente und Schlagzeug / Percussion – ziemlich gut ersetzen. Viele Instrumente sind aber in der Spieltechnik zu speziell, um durch Synthesizer ersetzt zu werden. Synthesizer bringen aber auch neue Klangfarben mit, die herkömmliche Instrumente nicht liefern.
Es gibt Musikstile bzw. Musiker, die gezielt ausschließlich synthetische Klänge einsetzen. Die Grenzen sind aber fließend, weil man durch geschickte Programmierung einem Synthesizer auch ohne Sampling beibringen kann wie ein herkömmliches Instrument zu klingen. Es kommt natürlich auf den Synthesizer an wie gut das gelingen kann usw.
Jedenfalls, seit Erfindung des Synthesizers werden Synthesizer-Klänge in der Musik eingesetzt. Manche herkömmliche Instrumente können im Synthesizer gut nachgebildet werden, andere weniger gut. Am besten ist es, man macht mit einem Synthesizer das, was er gut kann, und was er weniger gut kann, macht man entweder gar nicht oder herkömmlich.
 
Der Reiz liegt ja eigentlich darin, einen Synthie als eigenständiges Instrument zu spielen, der sich eben nicht zu nahe an einem Original anlehnt. Daher mag ich auch das Haken Continuum so sehr, da es so ein ausdrucksstarkes Spielen ermöglicht.
 
Studiomusiker werden ja nicht nur wegen des Klangs gebucht, sondern wegen ihres musikalischen Könnens.

Ja, eben. Hör die ein paar musictrackjp videos an. Er ist ein gar nicht so schlechter "gitarrist" - aber eben auf dem keyboard. Wie er auch alles mögliche andere typisch für ein instrument spielen kann - auf dem keyboard. So jemand muss also nicht mehr gitarre und andere instrumente spiellen können, um trotzdem überzeugend mehrere instrumententracks für manche produktionen zu machen.
Wieviele es von seiner sorte gibt, weiß ich nicht, aber ich schätze es gibt weniger leute, die etliche der echten instrumente so gut beherrschen, dass sie studiomusiker für jedes der instrumente sein könnten.
Und da es weniger overhead mit sich bringt, 1 person vs. mehrere personen zu bezahlen, dürfte es bei gleiche gersamtzeit günstiger sein, 1 person zu bezahlen, die n jobs macht.
 
Hui, auch wenn der Threaderöffner schwer nach Hausaufgabe klingt und sich wohl nie wieder meldet bin ich sehr dankbar für die bisherigen Beiträge und Links :) Als ich meinen ersten Synthi in den 90ern gekauft habe war gerade keiner mehr an Analogen interessiert, es ging nur um Sampling und wieviel Speicher es gibt. Man dachte wohl auch oft, alle noch offenen Probleme werden mit mehr Speicher und Leistung gelöst. Und es gibt zwar mittlerweile Sample-Libraries für Klaviere, die selbst die Mitresonanzen der anderen Saiten aufnehmen oder modellieren, aber trotzdem haben wir den Analog-Boom.

Ich fasse das für mich mal so zusammen: alles was klingt ist ein Musikinstrument. Alles was anders klingt als bisher Existierendes ist ein neues Musikinstrument und wird vermutlich benutzt werden (manches halt nur sehr selten und in Nischen).

Und im Fall der Synthesizer hat man ja eben irgendwann festgestellt, dass die Klänge, die schlechte Imitationen waren, hervorragende eigene neue Klänge sind :)
 
Und es gibt zwar mittlerweile Sample-Libraries für Klaviere, die selbst die Mitresonanzen der anderen Saiten aufnehmen oder modellieren, aber trotzdem haben wir den Analog-Boom.
Das betrifft dann aber unterschiedliche Zielgruppen. Die einen wollen einen Steinway D, aber keine Klavierspedition. Die anderen wollen eine Roland TB-303, aber für so eine kleine Quietschkiste nicht zweieinhalb große Zettel hinlegen.


Martman
 

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