Magst Du mir erklären, wie Du zu diesen Aussagen stehst?
Klar kann ich das. Aber mit der Beschränkung, dass das meine Meinung ist und sich die Musikpädagogen auch nicht unbedingt einig sind. (Zumal ich noch mal betonen muss, dass ich am Anfang des Studiums stehe, also noch gar nicht alles weiß, was ein berufserfahrener Musikpädagoge vielleicht weiß.)
Es geht überhaupt nicht darum, jeden Musikschüler zu einem Profimusiker auszubilden. Das wäre auch gar nicht sinnvoll, weil es gar nicht so viele Stellen gibt und viele natürlich tatsächlich in anderen Berufen besser aufgehoben sind.
Es gibt in der Musik einen vermeintlichen Gegensatz zwischen Begabung und Expertise: Die Frage, bin ich musikalisch, weil ich sehr viel geübt habe, oder weil ich begabt bin? Ich bin der festen Überzeugung, dass eine Begabung existiert, aber nur in einem geringen Maße sich durchsetzt. Was sich durchsetzt ist das Üben. Wer viel übt (natürlich auch sinnvoll) wird ein guter Musiker. Beweisen kann ich das aber nicht, also mags glauben, wer will.
Wenn man aber vom Expertisemodell ausgeht (was auch durchaus in der Wissenschaft vertreten ist und auf Hochleistungssport ebenso angewandt wird wie auf Berufsmusik), dann bedeutet das: Kinder so früh wie möglich fürs Musik machen begeistern, ihnen Unterricht zur Verfügung stellen und sie fürs Üben zu motivieren (das das nicht sehr einfach ist, sowohl finanziell als auch pädagogisch weiß jeder, aber das wäre die Konsequenz.)
Die Grundlage, dass jeder musikalisch ist, kann ich nicht begründen. Es ist für mich ein Axiom. Ich stelle es als richtig hin und baue darauf meine gesamte Argumentation auf. Allerdings muss ich sagen, dass ich bis jetzt noch niemanden total unmusikalischen getroffen habe.
Das wichtige ist eben, die Musikalität zu fördern. Dazu braucht es einen Lehrer, der dem Kind gerecht wird. Denn allein von der Persönlichkeit, passt nicht jedes Kind zu jedem Lehrer und nicht jeder Lehrer zu jedem Kind. Auch wenn es natürlich Aufgabe des Lehrers ist, sich dem Kind anzunähern. Außerdem ist wichtig, zu klären, welches Ziel man verfolgt: Ist Musikalität erst dann da, wenn ein Schüler auf der Bühne einen sehr guten Musikvortrag abliefert? Oder schon, wenn er einen einfachen Rhythmus nachklopft?
Es gibt Musikalitätstests, bei denen man aus kurzen Tonfolgen sagen muss, welcher Ton bei der Wiederholung anders gespielt wurde, bei Rhythmen hören muss, ob der zweite Durchgang anders war und so weiter. Wir haben so einen Test mal ein einem Seminar gemacht und sind einheitlich der Meinung gewesen, dass das über Musikalität nichts aussagt. Die Rhythmen wurden in einem so komischen Abstand wiederholt, dass man keinen durchgängigen Puls hatte, die Tonfolgen waren unmelodiös, usw. Aber das scheint für manche Menschen Musikalität zu sein.
Für mich ist Musikalität die Fähigkeit, Musik wahrzunehmen und zu machen. Demnach ist auch jemand musikalisch, der zu einem einfachen Lied den Puls mitklopfen kann. Wir machen im Studium auch Improvisationen ohne Puls. Einfach jeder macht, was er will und wir lassen uns quasi von dem Klang berauschen. Dabei muss man wahrnehmen, wie laut man im Verhältnis zu den anderen ist, was die anderen überhaupt machen, wie man da reinpasst etc. Das kann jeder und es ist schon musikalisch. Ich habe einmal eine solche Impro mit Kindern gemacht und ein Junge hat sich mit Absicht rausgespielt, um Aufmerksamkeit zu gewinnen. Er hat nicht darauf gehört, ob er zu laut ist oder was ganz anderes macht als die anderen (Statt Klängen und Geräuschen hat er einen einfach dämlichen Satz immer wieder gesagt, damit die anderen Kinder über ihn lachen). Er hat sich also hier nicht musikalisch verhalten. Aber aus ganz anderen Gründen, er wollte einfach Aufmerksamkeit. Trotzdem ist er musikalisch und singt auch ganz normal.
In einer Seniorengruppe, in der die Senioren singen (auch mehrstimmig und zwar ziemlich schön) und mit Percussion arbeiten, hat mir eine ältere Dame mal voller Überzeugung erzählt, sie habe früher mal Klavier gespielt, aber sie sei nicht musikalisch genug. Aber singen und Percussion ging ohne Probleme und machten ihr viel Spaß. Wieder ein musikalischer Mensch, der denkt, er sei nicht musikalisch.
Ich habe mal mit einer Klavierschülerin eine Probestunde gemacht, die bereits Unterricht hatte, aber bei ihrer alten Lehrerin sehr mechanisch gespielt hat (so zumindest mein Klangeindruck). Ich habe ihr den Auftrag gegeben, ein paar Takte noch einmal zu spielen und auf sich selbst zu hören und darauf zu achten, welche Atmosphäre sie schaffen will und es gab sofort einen viel schöneren Klang und eine viel schönere Phrasengestaltung. Aber diese Art der Musikalität wurde bisher noch nicht aus ihr rausgekitzelt.
Übrigens gibt es auch geistig Behinderte, die aufgrund ihrer Behinderung nicht in der Lage sind, einen Takt zu halten (also tatsächlich durch "Krankheit" "unmusikalisch" sind), aber irre Spaß an den Klängen von Percussioninstrumenten haben. Die werden auch niemals gute Musiker. Aber dürfen sie deshalb keine Musik machen? Ist es Verschwendung der Arbeit einer Lehrkraft, wenn sie mit diesen Menschen Percussion macht? Weil da sowieso nie was draus wird? Ich denke eher nicht. Solange es Menschen glücklich macht, ist doch alles gut.
Ich kann gerade gar nicht sagen, wer es war, aber in einem Radiobeitrag habe ich einmal gehört, dass eine heute berühmte Sängerin bei der Aufnahmeprüfung an einer Musikhochschule durchgefallen ist, weil ihre damalige Prüferin sie für unmusikalisch hielt. Ich glaube, die Prüferin hat da sogar selbst gesprochen und gesagt, dass das ihr grüßter Fehler war, aber dass Musikalität eben nicht so leicht zu erkennen ist.
Oft geht es doch gar nicht mehr um das Erlernen eines Instrumentes, sondern um musikalische "Früh"erziehung anhand eines Instrumentes, manche Schüler möchte ich fast eher zum Musiktherapeuten empfehlen.
Das bezieht sich wohl weniger auf Erwachsene Schüler als auf Kinder und Jugendliche? Da stimme ich dir schon zu. Viele Eltern sehen den Musikunterricht als Vermittlung von Kultur und dem richtigen Sozialverhalten. Ganz nach dem Motto: "Wir haben einen hohen Lebensstandard, da gehört doch Musik- und Reitunterricht dazu, und nebenbei lernt mein Kind ja auch noch Disziplin beim Üben und im Orchester, sich in eine Gruppe einzuordnen und mit anderen Zusammenzuarbeiten."
Das ist aber ein Problem der Elternarbeit (die auch zum Musiklehrerdasein gehört) und darf nicht auf die Kinder abgewälzt werden. Ob ein Kind Spaß daran hat, muss es selbst wissen und nicht die Eltern. Manchmal will es gar keinen Musikunterricht, weil die Eltern Druck aufbauen, aber wenn man es schafft, diesen Durck zu nehmen und dem Kind sagt: Hey, du musst jetzt nicht mehr jeden Tag üben, sondern du übst, wann du willst; Dann legt es plötzlich los, weil es freiwillig ja viel mehr Spaß macht. Kinder kann man nicht so simpel in Kategorien stecken: Übt viel, übt wenig, ist motiviert, ist nicht motiviert, wird von den Eltern gezwungen, ist freiwillig da... Jede Altersstufe hat seine ganz eigenen Tücken (was ein Pubertierender sagt ist noch lange nicht das, was er meint) und jedes Kind kommt aus einem individuellen Umfeld und hat einen individuellen Charakter.
Es gab (und gibt wahrscheinlich immer noch) im Rahmen von JeKI (Jedem Kind ein Istrument) auch sehr viel begleitende Forschungsarbeit. Da gibt es zB einen Artikel zur kulturellen Teilhabe. Dort wird unterschieden (und das fand ich sehr schön) zwischen Menschen, die Musikunterricht haben und sehr glücklich damit sind, welchen die Musikunterricht haben und das eigentlich nicht wollen, Menschen, die keinen Zugang zu Musikunterricht haben und damit glücklich sind, (weil sie zB Sport viel lieber machen) und Menschen, die keinen Zugang zu Musikunterricht haben, aber gerne welchen hätten und unglücklich sind.
Musikalität oder Eignung taucht da gar nicht auf. Vielmehr geht es darum, Möglichkeiten zu eröffnen, die möglichst alle nutzen können, die das
wollen. Es geht um das Glück der Menschen und nicht um deren Fähigkeiten.
Was aber an deinem Zitat noch ganz wichtig ist: Ja!!!, Musikpädagogik ist keine Musiktherapie und kann keine therapeutischen Maßnahmen ersetzen! Das wird manchmal übersehen, deshalb betone ich das noch mal ; )
Noch mal zurück zu meinem Studiengang: Elementare Musikpädagogik (EMP) ist ein Begriff, den es noch nicht so lange gibt, und der auch nicht unumstritten ist. Umstritten ist er, weil Elementarpädagogik die Pädagogik mit Kindergartenkindern ist, Elementare Musikpädagogik aber alle Altersgruppen umfasst.
Es gibt ein tolles Buch von Ruth Schneidewind, einer Musikpädagogin ("Die Wirklichkeit des Elementaren Musizierens"), in dem sie beschreibt, was EMP ist. Ich habe es selber noch nicht ganz gelesen, aber das wesentliche, was ich bisher daraus gezogen habe: In die Musikstunde der EMP kommen Menschen mit allen ihren Fähigkeiten, die sie haben. Damit machen sie Musik und haben daran Spaß.
Wer also in einen EMP-Kurs kommt und ein gutes Rhythmusgefühl hat, bringt das ein ins gemeinsame Musizieren, der Sänger bringt seine Stimme ein und vielleiht sein schlechtes Rhythmusgefühl, der Pianist bringt seine guten Harmonielehrekenntnisse ein und kann so schnell eine Zweitstimme erfinden. Gibt es keinen Pianisten, kommt in der Musikstunde halt andere Musik raus. Aber keine schlechtere. Ist jemand "Unmusikalisches" dabei, bringt der vielleicht total abstrakte Ideen rein, welche Klänge man einem Instrument entlocken kann, dass er vorher vielleicht noch nie gesehen hat. Ist ein Tänzer dabei, bringt er Bewegung mit rein und ein gutes Gefühl für Positionen im Raum. Und so weiter und so fort...
Was ich also aussagen will:
1. Man kann Musikalität gar nicht so einfach definieren, schon gar nicht anhand weniger Parameter oder Testergebnisse
2. Das Ziel des Musikunterrichts ist für mich nicht, zukünftige Musiker auszubilden, sondern Freude zu vermitteln (Außer, ein Schüler hat das Ziel und die Fähigkeit professioneller Musiker zu werden, aber auch dann darf die Freude nicht fehlen.)
3. Jeder Musikschüler ist so individuell, dass es kaum möglich ist, von außen die "wahre" Motivation zum Musikunterricht zu erkennen. Deshalb kann man nicht so einfach sagen, ob die Eltern das Kind "zwingen".
4. Musik zu bewerten, in gut oder schlecht einzuteilen, ist nicht so leicht, wenn man erst mal angefangen hat, sich auf alle Klänge und Menschen auf die man beim musizieren trifft, einzulassen. Bewerten kann man nur nach Parametern, die zB für Wettbewerbe festgelegt werden.
Gut, das ist nun also mein gesammeltes Unwissen. Klar kann man anderer Meinung sein, damit habe ich kein Problem. Meine Meinung ändert und erweitert sich auch regelmäßig durch das Studium, so dass ich vielleicht in einem Jahr schon das Gegenteil behaupte. Zumal ich für die meisten meiner Aussagen Belege erst mal suchen müsste...
Herzliche Grüße,
Annino