Musikalische stilkunde

  • Ersteller Günter Sch.
  • Erstellt am
1 800

Es gibt künstlerische darstellungen, die historische sachverhalte viel anschaulicher darstellen als wortreiche, sachliche beschreibungen. Stendhal läßt seinen helden Fabrizio über das schlachtfeld von Waterloo irren, und man denkt, so müsse es gewesen sein, ein komplettes chaos. Malapartes "Haut" spielt im befreiten Neapel, nichts davon ist buchstäblich wahr, aber es deckt sich mit meinen erfahrungen, die hinter stacheldraht und (zwangs)arbeitscamp begrenzt, sich erweiterten, als ich in clubs verschiedener art spielte. Die machtvollen frauenvereine in den USA hatten gewiss keinen schimmer, was ihre männer, brüder, söhne, ihre kriegshelden da drüben so ungebunden inmitten einer bitterarmen gesellschaft trieben.
Wenn ich den republikanischen geist atmen will, der von Frankreich ausging, und den die verbündeten fürsten in ihrer erfolglosen "campagne" auslöschen wollten, höre ich Beethovens 7.sinfonie.
Es gibt seltene augenblicke, wo die zeit stehenzubleiben scheint, ein zeitfenster sich öffnet, möglichkeiten sich auftun mit hoffnungen auf eine bessere zukunft, die dann schmählich enttäuscht werden. So war es nach dem letzten krieg, so bei der wiedervereinigung, geschichte erweist sich als folge versäumter gelegenheiten.
Beethoven erlebte die enttäuschung, dass der von ihm als heros verehrte Napoleon sich zum kaiser krönte, unter der restauration hatte er wohl nicht zu leiden wie Franz Schubert, über den ein polizeispitzel berichtet, er habe "räsonniert". Eigentlich heißt das, seine vernunft zu gebrauchen, aber das ist nicht immer erwünscht, sein freund, der literat Senn büßte das 1820 mit einem jahr haft, und KuK-gefängnisse waren nicht so gemütlich wie in der "Fledermaus".
Beethoven wünschte sich, dass seine musik "feuer aus einem manne schlüge", und sie stimmt andere töne an als der elegant/verbindlich/kunstreich/humorvolle Haydn. Ich höre in der 7. nicht die "apothose des tanzes" wie Richard Wagner, sondern menschlichkeit, zuversicht, hoffnung, klarheit, nachdenklichkeit, trauer, überschäumende freude und immer wieder marschrhythmik. A-Dur ist eine strahlende, streicherfreundliche tonart, modulationsfähig nach allen seiten. Die wahre musik der revolution findet man nicht in Paris, sondern in Wien.
 
Klassik, romantik, biedermeier, vormärz, realismus, historismus, impressionismus, pointillismus, jugendstil, symbolismus, fauvismus (hoppla, jahrhundertschwelle!), Goethe,der noch weit in das jahrhundert ragt, kennt noch den "proktophantasmismus".
In literatur, baukunst, malerei mag so etwas stattgefunden haben, musikwissenschaft ist eine junge wissenschaft und borgte sich ihre terminologie zusammen. Wer findet eine fahrrinne in dem weitverzweigten strom der musik in diesem so einmalig reichen '800 ?
Haydns "Londoner sinfonien" sind "vor lebensfreude, spielfreude, und intelligentem witz funkelnde stücke" (Finscher), wer denkt an anderes als heiteres quartenspiel, hört er den anfang von Mozarts "Kleiner Nachtmusik", musik ist um der musik willen da. Aber ein auftaktiger quartensprung kann bedeutsam werden, zu etwas auffordern: etwa "zum fröhlichen jagen", an ein brünnlein zu gehen, zum tanz, "aux armes", zu den waffen zu eilen, aufzuwachen, die ketten des proletariers abzuwerfen, die quarte wird zum symbol, sie "drückt etwas aus", assoziiert etwas außermusikalisches.
Beethoven hatte einen kontertanz komponiert, country-dances waren in England beliebter als das höfische menuett, es gab keine rangordnung, man wechselte plätze und partner, es lag nahe, diesen 2/4 tanz als symbol für brüderlichkeit aufzufassen. Und siehe da, wenn der meister in einer sinfonie einen republikanischen "helden" mit alt-römischen tugenden zeichnen will, dann in Es-Dur, da klingen die drei hörner in Es am besten (bis zum hohen "c"), und im finale erklingt ebender kontertanz, am schluss in einer breit/feierlichen apotheose. Die musik hat eine "bedeutung" gewonnen. Goethes "Egmont" soll aufgeführt werden, Beethoven schreibt die schauspielmusik: die ouverture beginnt im 3/2 takt, schwer und lastend, das ist die spanische sarabande, die die spanische fremdherrschaft in den Niederlanden symbolisiert. Und jedermann wartet auf das "kopf-ab-motiv" (Egmont wird in Brüssel hingerichtet), bevor eine "siegessinfonie" positiv ausklingt (Brechts "reitende boten des königs" oder "befreundete indianer/glorreiche army" in jedem western und folgenden abgedroschenen, beliebten dramaturgien).
Ob volkslied, klavierlied, oper, das wort gesellt sich zur musik, jede art von emotionen, selbst handlungen oder eigenschaften werden der musik aufgepfropft, der patriotismus von Polen, Tschechen, Ungarn wird in musik umgemünzt, literarische programme werden "vertont", "leitmotive" lenken die phantasie, am schluss der entwicklung steht Richard Strauss' anspruch, ein glas bier so komponieren zu können, dass man die brauerei erkennt. Ahnt man den niedergang einer epoche ?
 
Haydn entzückt, Mozart entzückt und verzaubert, Beethoven überwältigt den hörer, da säuselt kein laues lüftchen, es stürmt in manchen finalsätzen. Eine so zupackende, dramatische musik, die bisher unerschlossene psychische bereiche ausleuchtet, hatte man noch nicht gehört. Wenn er c-moll anschlägt, ob klavier-, violinsonate, trio oder sinfonie, geht es zur sache, obwohl die mehrzahl seiner werke heiter, aber nie ohne tiefgang ist, die langsamen sätze gehen an die grenzen des ausdrucks.
Dass es nicht leicht ist, Beethovens dramaturgien zu durchschauen, beweisen der unsterbliche unsinn der „Mondscheinsonate“ und der seelenvolle augenaufschlag etwa beim seitenthema der sogenannten „Appassionata“, auch wird humor in der musik selten verstanden, aber ich will hier nicht in details der interpretation gehen.
Er ist „der erste“ klavierspieler in Wien, stolz auf seine virtuosität (er bringt technische schwierigkeiten an, um seinen konkurrenten das nachspielen zu erschweren) und wird als „general der musiker“ zu grabe getragen. Mit 57 zu früh, aber nur wenige bedeutende komponisten dieser epoche erreichen ihr volles lebensalter, Bach, Händel, Haydn, und dann? Liszt, Wagner, Verdi, alle anderen erliegen infektionen, immunschwächen, heute schwer zu diagnostizieren, zumal die frühen biographen lieber heroisieren und pietätvoll sehr zurückhaltend sind bei rufschädigenden symptomen.
Man muss virtuose sein, um auf sich aufmerksam zu machen, Paganini, Chopin, Liszt, Clara Schumann und andere, vergessene, machen „furore“ in ganz Europa, Berlioz träumt davon, „das größte orchester aller zeiten“ dirigieren zu dürfen, aber dass da ein wahrhaft großer komponist wie Franz Schubert am werke ist, bemerkt niemand. Seine sinfonien bleiben ungespielt, sein namensvetter, der konzertmeister Franz Schubert in Dresden (komponist eines possierlichen stückes „Die biene“) hat vom „Erlkönig“ gehört und verbittet sich, mit diesem machwerk in verbindung gebracht zu werden. Liszt bearbeitet ihn wie auch andere lieder, es wird eines seiner renommierstücke.
Schumann schlägt sich mit den „philistern“ herum, der freie künstler sieht sich an den rand der gesellschaft gedrängt vom emsig schaffenden, schachernden, kapitalbildenden und damit spekulierenden bürger.
Das ist die kehrseite der technisch/naturwissenschaftlichen revolution, die sich vollzieht, maschinen ersetzen hand- und heimarbeit, industrie, handel und wandel, eiserne schienen überwinden kleinstaatlich/störende grenzen, eine auswanderungswelle erfasst die am fortschritt nicht teilhabenden. Das deutsche volkslied wird Schuberts „Lindenbaum“, ausdruck von sehnsucht und resignation.
 
Alles in allem eine farbige zeit, der adel herrscht immer noch, gestärkt und abgesichert durch die Karlbader Beschlüsse, turn- und gesangvereine sind demagogischer umtriebe verdächtig, in den salons wird zu tee und butterbrot diskutiert, vorgelesen und musiziert, ob in Berlin oder Paris. Man kennt sich, Mendelssohn-Bartholdy über Liszt: „Er ist ein sehr liebenswürdiger Mann und der dilettantischste Dilettant, der mir vorgekommen. Er weiß Alles auswendig; spielt falsche Bässe dazu, und nur die Eigenschaft der Arroganz fehlt ihm, denn er ist bei seinem wirklichen Talent ganz bescheiden und zurückhaltend.“
Es gibt schwerreiche damen und mäzene, die einzelne künstler protegieren, ein großer bedarf herrscht an kurzen, instruktiven klavierstücken für die klavierspielende, meist weibliche jugend, Robert Schumann ist zur stelle, gibt jedem stück einen namen, damit man sich etwas darunter vorstellen kann. Die „Träumerei“ ist ein kompliziert gebautes, asymmetrisch/organisches gebilde, so etwas gelingt nur ein mal im leben, ein „Wilder Reiter“, der auf seinem steckenpferd durch die stube galoppiert oder ein „Fröhlicher Landmann“, der „dem pfluge fröhlich nachschreitet“ und vor sich hin pfeift, sind harmloser. Nicht so, wenn es gegen die lächerlichen philister geht oder Hoffmanns verrückter Kapellmeister Kreisler zitiert wird, dann wird es ernst, auch für den spieler.
Chopin macht polnisches bekannt: gravitätische polonaisen und empfindsame mazurken, unter seinen schlanken fingern bekommt der neue Érard-flügel donnernde étuden, hauchzarte nocturnes und glitzernde impromptus zu schmecken, die familie Rothschild ließ ihn nicht verkommen.
Auch Mendelssohn-Bartholdy findet exotisches in Italien und Schottland, neuer wein in den schläuchen von sonate und sinfonie, es sind ausbaufähige modelle, neues gibt es allenfalls in gesuchterer harmonik und modulation.
In der oper kämpfen komponisten gegen schwache deutsche libretti, trotzdem kommen „Fidelio“, „Freischütz“ zustande, romantische schauerstücke von Marschner, bis Albert Lortzing sich seine texte selber schreibt. Gesprochene dialoge haben tradition, aber Lortzing, selbst sänger, weiß, was sänger brauchen und gestaltet neben arien, „szenen“ und duetten sehr schöne und kunstreiche ensembles und finali.
Aber eines darf nicht vergessen werden: der siegeszug des walzers!
 
„Hm - ta -ta, hm – ta - ta“ oder „reg-nets noch? Reg-nets noch?“, 2 takte mit wechselbässen und nachschlägen, aber halt, die sind ungleich gewichtet, verzögert, sie „grooven“, was man erfährt, wenn man mit wienern musiziert. „Barcollando“, wie ein boot in bewegter see, schreibt Chopin in einem seiner walzer, aber mit maß.
Zwei beine hat der mensch, und dem entspricht viel musik im zweier- oder vierertakt, im dreiertakt dreht er sich, in diesem falle mit einem wechselschritt. Afrika kennt den dreiertakt nicht, wohl aber ein mikro-ternäres system, den„shuffle“, auch der muss „grooven“ und ist wie der walzerrhythmus metrisch kaum festzulegen. In der musik gibt es halt viel „unwägbares“.
Drehen erzeugt einen leichten schwindel, in manchen situationen ist erwünscht, den intellekt auszuschalten, denn sonst würde manches nicht stattfinden, was für den fortbestand der menschheit unerlässlich ist. Paartanz als „praeludium Veneris“ wurde denn auch gebührend verabscheut, verboten, aber immer wieder praktiziert. Der walzer befreite von lästigen regeln, löste eine epidemie aus und war bis ende des deutschen kaiserreiches nicht hoffähig, schon beim Wiener Kongress durfte er erst erklingen, wenn die allerhöchsten herrschaften sich entfernt hatten.
Der „Deutsche“, nicht zu verwechseln mit der höfischen „Allemande“, es gibt da immer ein wenig verwirrung, die „Tyrolienne“, der „Ländler“ sind vorstufen, auch die bezeichnung „Menuett“ als fester bestandteil von sonate oder sinfonie ist oft fragwürdig, denn auch da handelt es sich meist um den nachfolger, wenn nicht später um das ganztaktige „scherzo“, das den tänzerischen charakter verliert, allenfalls im „trio“ nachklingen lässt (das allererste menuett von Lully war zweistimmig gesetzt und hatte einen 3stimmigen mittelteil).
Schubert hatte seinen walzenden freunden aufgespielt, Carl Maria von Weber (das „von“ macht mir immer schwierigkeiten, denn Papa Weber hatte es sich illegal angeeignet, während die „Weberschen“ cousinen, Aloysia und Constanze, verehelichte Mozart, nicht den besten ruf hatten) eine glanzvoll/virtuose walzerfolge für das klavier komponiert, „Die aufforderung zum tanz“. Berlioz hat sie instrumentiert, und so wurde sie zu einem der bekanntesten und beliebtesten stücke, wenn auch fast immer nach der einleitung am aufwärtsstürmenden anfang falsch betont, nämlich am endton der phrase. Dass die hörer nach dem (scheinbar) glanzvollen schluss das nachspiel nicht abwarten, daran hat man sich gewöhnt.
Der walzer ist das musikalische leitfossil des '800, ob in gesellschaft, haus- und konzertmusik, oper, ballett und natürlich operette.
Welche charaktere von Schubert zu Sibelius' „Valse triste“!
 
Musik war lange ein vorrecht des adels gewesen, jetzt wollte der bürger einen anteil daran haben, aber auch da gab es ein oben und unten: im aufgeklärten Weimar hatte man nur zutritt zur Esplanade und dem park an der Ilm, wenn man "anständig" gekleidet war. Das setzte sich lange in konzert und theater fort: standesdünkel, kleiderordnung, siebwirkung durch eintrittspreise, das "niedere volk" war von vornherein ausgeschlossen.
Der adel ging müßig, er hatte zeit für "kultur", nicht, dass jeder besonders kunstsinnig gewesen wäre, aber es gehörte zum guten ton, zur gesellschaftlichen akzeptanz. Der in kontor, bank und wachsender industrie arbeitende bürger war abends müde, genoss die feiertage und wollte sich bei leichter kost entspannen und erholen, er hatte andere bedürfnisse, die eine immer kapitalistischer werdende wirtschaft zu befriedigen suchte. Liszt sagte seufzend, als man in seiner gegenwart über ästhetik debattierte: "mundus vult kitsch"., eine variante der redensart, dass die welt betrogen werden wolle.
Wer anderer leute geld haben will, muß schmeicheln, am gaumen oder anderswo kitzeln (wo sitzen die stärksten instinkte?), eine traumwelt vorgaukeln, kurz: unterhalten. Verlage gründen sich, trivialliteratur verkauft sich gut, die abenteur des räubers Rinaldini werden sogar von dienstmädchen gelesen, zeitungen entstehen als wegwerf-produkte, und während im konzert- und opernhaus hinhörmusik geboten wird, erklingt in gartenrestaurants, cafés und vorstadtbühnen eingängig/populäres. Am schluss des jahrhunderts gibt es unmassen an walzern, polkas, mazurken, galopps, märschen, charakterstücken, intermezzi und potpourries (bezeichnend), ein riesiges répertoire an caféhausmusik, es gibt komponisten mit opuszahlen weit über 1 000.
Die zunächst "klassische" operette blüht mit den modetänze der zeit, einer locker gestrickten handlung, einem schuss satire, situationskomik und melodienseligkeit. Hier strebt alles zu bestimmten, wirkungsvollen und immer wieder gern gehörten modellen: die 8/taktige periode mit vorhersehbar ablaufender harmonik ist trumpf.
Wir sind in der lage von Wagners drei nornen, wir wissen halbwegs, "was da war", "was da ist" und aus der sicht des vergangenen "was da wird".
Wir wissen z.b., dass die von armen, verrückten teufeln, etwa einem holländer und seinem saufkumpan beschmierten leinwände heute mit vielen millionen gehandelt werden, dass auf die "klassische" operette die "moderne" und das "musical" folgten, dass die differenz zwischen "konzertmusik" und populärem immer größer wurde, dass polka, mazurka, galopp von den tanzflächen verschwinden werden, nur der walzer noch im turniertanz überleben wird, dass komponisten neue wege suchen jenseits von tonalität und 8/taktiger periode, überlagert von einem vielgefächerten breiten strom an jeweils modischem.
 
Wir haben den "Opernthread" in die nähe gerückt, denn ich habe "oper" weitgehend ausgeklammert, um wiederholungen zu vermeiden.

Jetzt bin ich am scheidewege, sieben jahrhunderte durchstreifen heißt, nur einen lichtstrahl hierhin und dorthin zu werfen, wobei ich versucht habe, dinge miteinander zu verknüpfen und verständlich zu machen, die auch anders gesehen und beleuchtet werden können. Vielleicht ist aufgefallen, dass ich mich der üblichen terminologie ungern bediene.

"Das ist gotik", höre ich vor unserem münster, das kein münster ist, nicht von mönchen erbaut und betrieben, auch keine kathedrale mit theologischem lehrstuhl oder dom, denn ein erzbischof wurde erst im 19.jh, eingesetzt, sondern eine städtische pfarrkirche. Das einzige (ost)gotische bauwerk, das ich kenne, ist das grabmal des Theoderich in Ravenna, und das ist nicht "gotisch". Baumeister waren eher die Langobarden, und manche familie gab die geheimnisse der kunst an viele generationen weiter.
Zurück nach Freiburg: das mittelschiff mit den beiden türmen ist "romanisch", das erste joch des langhauses "gotisch primitiv", und es wäre wohl eingestürzt, hätte man nicht einen neuen baumeister aus Straßburg geholt. Der korrigierte die fehler (kann man alles sehen) und baute "hochgotisch" weiter. Den turm baute ein anderer, man vermutet ihn in einer überlebensgroßen büste, die jetzt im Augustinermuseum steht. Da einer bürgerkirche nur ein turm zustand (!), dachten die Freiburger, wenn nur einer, dann ein richtiger, spektakulärer, und dieses ist der einzige, "gotische" turm, der von einem baumeister entworfen, begonnen und fertiggestellt wurde: der schönste von allen. Später wurde der romanische ostchor (da beginnt jeder kirchenbau) abgerissen und durch einen spätgotischen ersetzt. Das letzte stück ist die renaissance-vorhalle am südportal.
Ihr seht, wer da sagt "das ist gotisch" und glaubt, damit alles gesagt zu haben, irrt, er hat nur ein sachlich falsches schlagwort benutzt und nichts verstanden.
Man sieht nur, was man weiß, und mit dem hören ist es auch nicht anders.

Auch im 20.jh. werden wir nur ein spotlight auf dieses und jenes richten, in manchem bin ich befangen durch eigenes erleben und werten, ich habe nicht immer hingehört und fürchte, persönliches nicht immer ausklammern zu können.
 
Jetzt kann ich auch auf "Dissonante klassik" verweisen, wo es um musik im 20.jh. geht. Gemeint ist konzertante musik jenseits vom gewohnten Dur und moll, ungewohnt für unsere ohren.
Lassen wir alle beteiligten zu wort kommen, pluralismus, ahoi! Der leser möge sich die rosinen, falls vorhanden, herauspicken.
Lassen wir das ganze fragmentarisch, ergänzungsbedürftig, wie es ist, anregungen sind jederzeit willkommen.
 
Vielleicht hat jemand opern von Mozart um die weihnachtszeit von dem Salzburger Marionettentheater gesehen und die großen sänger der 50er jahre dazu gehört. Sie waren/sind auch preiswert als DVD zu haben. Mir war neu, dass in Paris ein professionelles marionetten-musik-theater existierte, aus dem die "Opéra comique" hervorging. Dort wurde oper, nicht nur "komisch", mit gesprochenen dialogen gepflegt, was in Deutschland schule machte. Auch die rezitative wurden der "Carmen" nachträglich zugefügt, was dem realismus des werkes sehr abträglich war.
In Estherhaz, dem "Kleinen Versailles", gab es lange ein marionettentheater, für das auch Haydn schrieb. Da wurde wie in Paris live hinter bühne gesungen und musiziert.
Ich sah einmal den "Freischütz" ohne musik, von handpuppen gespielt und hatte meinen spaß daran, die musik "stört" ja den verlauf der handlung.
 
Alle waren sie da, jung und tatendurstig: Ludwig Tieck (1792), Clemens Brentano (1797), Achim von Arnim (1898), die brüder von Eichendorff, Joseph erst 17jährig (1805), Friedrich de la Motte Fouqué u.a..
Sie lebten, liebten, sangen, tranken, studierten und infizierten sich meist mit den kleinen geißeltierchen, die zur geißel des jahrhunderts wurden und viele hoffnungsvolle leben verkürzten. Wieweit sie zu schöpferischer tätigkeit anregten und immensen arbeitseifer entfachten, ist schwer zu sagen.
Später wurde das szenarium nach Heidelberg verlegt, aber die ursprünge lagen dort - und nun lüfte ich das geheimnis:

"Da steht eine burg überm thale
und schaut in den strom hinein,
das ist die fröhliche Saale,
das ist der Giebichenstein."

1791 pachtete der komponist Johann Friedrich Reichardt ein grundstück unweit der burgruine. "Zurück zur natur" hatte Rousseau gerufen, und vor den porphyrfelsen am fluss fand 1786 ein nachtkonzert statt: reihenweise scharten sich zuhörer, "einige oben auf dem berg wie statuen im trügerischen dunkel der nacht".
Der vielgereiste Reichardt hatte davon gehört und hatte bald "von der höhe seines lieblichen gartens" einen blick zum Petersberg, an klaren tagen wohl auch bis zum Brocken.
In Königsberg geboren, von keinem geringeren als Kant gefördert und ermutigt, mit 15 studiumbeginn, musikalisches wunderkind, in Hamburg bei Philipp Emanuel Bach, mit 23 preußischer hofkapellmeister.
1500 lieder von 125 verschiedenen autoren (Schubert mit seinen 600!), "Bunt sind schon die wälder", schön gebaut mit sequenzen, wurde zum volkslied wie "Wach auf, meins herzens schöne" in barform. Opern und singspiele, aber er betätigte sich auch als publizist, Seine sympathie für die französische revolution kostete ihn seine stellung, gönner verschafften ihm einen posten als Salinedirektor in Halle, wovon er und seine große familie leben konnte.
Ob es ein kompliment ist, wenn sein schwiegersohn sagt, seine beste komposition sei sein garten gewesen? Andere meinten damit seine sieben töchter, "gesangsgöttinnen" (Tieck), kein bediensteter, der nicht ein instrument geblasen hätte, kurzum: Reichardts haus und garten war zentrum des zusammenspiels von natur, musik und fröhlicher geselligkeit. Hier wurde auch eine volksliedsammlung geplant, die später als "Des knaben wunderhorn" erschien.
Goethe schaute auch herein (verewigte die charakterschwächen seines gastgebers im "intermezzo" der Walpurgisnacht), und wenn in Bad Lauchstädt theater gespielt wurde, war man dabei. Man ging zu fuß, und der unglückliche Eichendorff stolperte kurz vor dem ziel, fiel in den dreck und musste zurück nach Halle, um sich umzuziehen.
Reichardts garten gibt es noch heute, ebenso den nahen "amtsgarten", die burg, die Saale, fahrt mal hin!
 
Ich weiß, dass es nicht unbedingt in diesen Thread passt, aber ich habe eine Anfrage an Günter.
Du hast in einem Post vom "Humor" in der Musik gesprochen. Ich glaube, es wäre sehr interessant, darüber mehr zu erfahren, nicht nur über die offenkundig humoristischen Werke von Komponisten, sondern eher den versteckten Humor, der bestimmten Werken innewohnt.

Beste Grüße
Effjott
 
Das klassische beispiel ist "The surprise", die sinfonie nr. 97 in G-Dur. Das andante beginnt piano, wird nach 8 takten pianissimo wiederholt, und dann weckt ein orchesterschlag die sanft schlummernden auf.
Auch die "abschiedssinfonie" in fis-moll ist eher humoristisch als melancholisch zu verstehen. Im übrigen gibt es bei Haydn eine fülle spaßhafter einfälle, z.b. scheint ein finale mit kadenz zu schließen, die hörer werden gefoppt, denn nach einer generalpause geht es weiter, und wenn das stück wirklich zu ende ist, rührt sich keine hand, man will ja nicht noch einmal hereinfallen.
Haydns sinfonien sind mir schwer zugänglich: sie stehen ganz unten im regal meiner bücherei!

Wenn wir Bachs violinsonate in f-moll spielen, verheddern wir uns anfangs immer im letzten satz mit seiner vertrackt, verschobenen rhythmik. Ich stelle mir vor, dass Bach sich köstlich amüsierte, wenn es ihm gelang, einen kollegen hereinzulegen. Man spielte ja meist vom blatt zur eigenen "rekreation".

Wer Haydns "zigeunertrio" in G-Dur spielt, muss sich darauf gefasst machen, im finale von violine und violoncello gejagt zu werden, beide rächen sich dafür, dass das klavier in den trios zu sehr dominiert, und jetzt zeigen sie dem tastenritter seine grenzen.

Über Beethoven ein anderes mal, jetzt muss ich alle fundbüros abklappern, um möglicherweise meine (verlorenen) dokumente wieder zu bekommen, nehmen wir auch das von der heiteren seite.
 
"Ma, - - - in Ispagna, - - - già mille e tre!" Zum glück sind "hits" nicht weiblicher natur, was machte ich mit "cameriere, cittadine - marchesine, principesse", gar "d'ogni forma, d'ogn'età" ? No! - - - No, no, no!
 
Beethoven, Klaviersonate F-Dur op. 10, 2
Wer im finale aus einem hanebüchenen thema eine gelehrte fuge zu machen versucht, die aber nur zu einem fugato gelingt, hat gewiss sinn für humor. Gehäufte tonwiederholungen haben oft auch eine komische wirkung.

Sonate G-Dur op. 14,2
Her widersprechen sich metrik und phrasierung, wie spielt man das hauptthema des 1.satzes? Meist hört man einen akzent auf dem schlusston, andere wollen brav das 1/6tel nach dem taktstrich markieren. Ich verwirre den hörer, weil ich den anfang der phrase betone, er weiß nicht, was gehauen und gestochen ist, und darin liegt die humoristische note.
Im Andante gibt es den "Paukenschlageffekt", und im finale eine raffiniert rhythmisierte, simple tonleiter, auch hier wieder gegen jede gepflogenheit zu betonen. Man denkt an den tschechischen "Furiant".

In op.28 finden wir neben manchem anderen eine schauerballade (Andante) und im finale einen dudelsackeffekt.

Op.31,1 ist gar eine komplette komödie, demnächst mehr darüber.
 
Die erste sonate des dreigestirns op.31 beginnt mit einem musikalischen witz: die hände sind nicht synchron, die rechte kommt ein 1/16tel zu früh, und das zieht sich durch den ganzen satz. Da sind sich zwei anscheinend nicht einig, was in donnergepolter endet. Das triviale seitenthema ist ein dialog zwischen sopran und bass, der auch turbulent endet. Am schluss wird man gefoppt durch gesäusel, pausen, rechthaberische akkordschläge und plötzliches piano.
Der 2.satz ist die karikatur eines bis zum geht-nicht-mehr ausgezierten duetts. Der sopran ergeht sich in langen kadenz-koloraturketten, nur im mittelteil wird es ernster, schimmert echtes gefühl durch, bevor" A" variiert wieder aufgenommen wird und das stück im dämmer mit leisem grollen versinkt.
Das finale ist ein echter "rausschmeißer", ein kehraus am schluss einer tanzveranstaltung.
Dialogcharakter, witzige verarbeitung, komische imitationen, neue varianten des rondothemas, dann bleibt die musik auf der dominante hängen, legt noch nach mit der großen septime - - - - , retardierende momente und ein furioser schluss, der aber auch im pp endet.

Kuerzum: eine derbe komödie, wo fliegen die fetzen bei zwischenmenschlichen beziehungen, wo kommt eine fingierte gesangsstunde vor? "Schlagt nach bei Shakespeare!"

Das werk wird selten gespielt, es ist nicht leicht, und wenn weder klavierspieler noch hörer es verstehen, fehlt jegliche motivation. Dann doch lieber "Mondschein" oder "Appassionata", die man gründlich missverstehen kann, aber dafür applaus erhält.

G-Dur ist Beethovens "spaßtonart" (ausnahme die romanze für violine).
 
Das liest sich mal wieder sehr spannend und bringt neue Erkenntnisse für mich.
Würdest Du auch das 4. Klavierkonzert mit einbeziehen in diese versteckten humoristischen Welten? Das würde mich mal interessieren, denn es gibt da ja ganz unterschiedliche Deutungen, wie z.B. dass man angeblich den Gesang des Orpheus wahrnimmt, der die Mächte der Unterwelt besänftigen will.
 
Das 4.klavierkonzert empfinde ich nicht als spaßig, sondern rundum schön. Ich möchte auch in deutungen nicht zu weit gehen, aber die Shakespeare-assoziationen sind verbürgt und mir plausibel.
Man spiele einmal den 2.satz op.57 so wie es dasteht, pedalarm, mit finger-legato, teilweise "trocken", das ist kein weihevoller nachtgesang mit augenaufschlag, sondern eine spukhafte szene, die attacca in eine art (trauer)marsch (finale) mündet.
Musikalische dramaturgie unterscheidet sich von literarisch/dramatischer, sie hat immer mit dem "finalproblem" zu kämpfen. Man erwartet einen brillanten schluss, während in der tragödie etliche leichen herumliegen.
Man hat das seitenthema einer sonate auch das "weibliche" genannt, im 1.satz ist dieses weib recht energisch (wenn man es denn so spielt, wie es angelegt ist), während das männliche zaudert, unentschlossen hängenbleibt, wieder ansetzt. Musikalische psychogramme ! Wo gibt es da eine parallele? Wo eine spukszene mit dreifacher beschwörung (Hekate am trivium, am dreifuß) in variationen, wo ziehen schemenhafte gestalten in langer reihe beunruhigend vorbei ?
Man stelle sich einen schauspieler vor, der einen text spricht, den er nicht versteht, und wovon das stück handelt, weiß er auch nicht, musiker können das.
 
Günter Sch.;3310222 schrieb:
Man stelle sich einen schauspieler vor, der einen text spricht, den er nicht versteht, und wovon das stück handelt, weiß er auch nicht, musiker können das.


Der Satz ist geradezu genial;)
 
Wenn ich bei Google "Musikalische stilkunde" eingebe, was finde ich da als ersten eintrag? Die beiträge eines mir bestens bekannten autors. Ich war mir dessen nicht bewusst und fand es zufällig.
 
Lange herrschte die romantische vorstellung, komponisten würden von einer muse geküsst, verliebten sich unsterblich oder hielten zwiesprache mit gott, bevor sie zur feder griffen.
Von Händel ist bekannt, dass er keine note schrieb, bevor die aufführung gesichert war, er produzierte nicht "auf halde", hatte aber immer einen vorrat an eigenen und fremden musikalien, zu denen er griff, wenn die inspiration im rechten augenblick versagte. Ich könnte auch sagen, er arbeitete rationell und hatte für alle gelegenheiten die passenden versatzstücke zur hand.
Bach erfüllte getreulich seine vertraglichen verpflichtungen, indem er kammermusik am hof von Köthen, kirchenmusik als thomaskantor schrieb und mit den vorhandenen kräften aufführte. Zur "rekreation" entstanden nebenbei suiten, partiten und ouverturen (drei namen für dieselbe sache), deren abschriften im freundeskreis kursierten und kleine werke für den unterricht (die kleinen präludien, inventionen und sinfonien, die auch ein kompendium der kompositionslehre darstellen).
Einige ausgewählte werke ließ er auf eigene kosten als "Klavierübung" in 4 bänden drucken, andere muss man seinem forscherdrang zuschreiben: er lotete in zwei bänden die möglichkeiten der temperierten stimmung aus und trieb die fugenkomposition auf die spitze, ohne rücksicht auf deren ausführung.
Große meister, meisterhafte werke, die verbindung zum handwerk liegt nahe, und so fasste man damals den beruf auf: harte, ermüdende arbeit, die beiden das augenlicht kostete. Allein an schreibarbeit ein ungeheures pensum, wozu noch in beiden fällen unter oft schwierigen bedingungen die sorge um möglichst vollkommene aufführungen kam. Die realität ist eher angetan, unsere bewunderung zu wecken, als romantische vorstellungen.
Von einer großen liebe Händels weiß man nichts, hatte er dafür keine zeit?
 

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