Musikalische stilkunde

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Günter Sch.
Günter Sch.
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Im folgenden möchte ich eine kleine musikalische stilkunde darstellen. Die kriterien sind:
historische situation - rolle der musik/aufführungspraxis - zeitstil/personalstil - gattungen und formen - zeittypische, musikalische gestaltungsmittel (instrumentarium, machart, ohrenfällig/typisches) - komponisten

Für den hörer ergibt sich eine andere reihenfolge:
instrumente - machart (strickmuster) - gattung/(form - besonderheiten, die auf eine bestimmte periode, womöglich einen bestimmten komponisten schließen lassen.

Es geht natürlich nur um mitteleuropa und epochen, deren musik schriftlich fixiert ist und noch aufgeführt wird.
 
Eigenschaft
 
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Weder kaiser noch päpste hatten das Römische Reich wieder herstellen können, und ein heiliges schon gar nicht; was in den kreuzzügen erobert war, ging gerade verloren, die wiederkunft Christi, der weltuntergang stand bevor. Dante hielt seiner mitwelt einen spiegel vor und hatte keinen zweifel an der kugelgestalt der erde, Papst Bonifazius VIII. ließ fleißig ablässe verkaufen, aber schon war der abgesandte des französischen königs unterwegs, der ihm in Anagni eine ohrfeige gab. Fortab residierten und amüsierten sich die päpste in Avignon unter französischer aufsicht, und zeitweise gab es deren zwei oder drei.
Was hat das mit musik zu tun? Als eine kirchliche zentralgewalt fehlte (70 jahre lang), experimentierten die scholae cantorum der kathedralen und klöster mit dem überlieferten liedgut, und niemand redete ihnen drein bei der gestaltung ihrer gottesdienste und feste.
Von Frankreich ausgehend hatte man überall kirchen ungeahnten ausmaßes gebaut, hoch gewölbt mit modernster technik, eine skelettstruktur, deren gewicht auf schlanken pfeilern ruhte (Vasari nannte diese bauweise mit ihren zieraten "gotisch", barbarisch, verworren, und sachlich falsches wird gern tradiert). Die massiven wände wurden durch vielfarbige fenster ersetzt, so schilderte die "offenbarung" das himmlische Jerusalem, "und der auf dem thron saß, sprach: 'siehe, ich mache alles neu!'"
Neu war auch die musik der "ars nova": stimmen klangen prächtig in den neuen gewölben, und besser noch als eine, klangen zwei, drei oder vier: die mehrstimmigkeit war geboren. Wie plump war dagegen die "ars antiqua" mit ihren quintparallelen und einklängen, als man sich noch nach den theoretikern richtete, die nur einfache zahlenverhältnisse als konsonanz gelten ließen. Wie lieblich klang die verpönte terz, man stelle sich vor, wie sich die musiker zu überbieten suchten in diesem verbotenen neuland. Nur im tonmaterial blieb es bei den vertrauten weisen aus der gregorianischen sammlung, aber auf vielerlei weise konnte man sie umspielen, umranken, figurieren! Nicht neues erfinden, war die absicht, sondern traditionelles zu verschönern, zu den edelsteinen gesellten sich engelschöre. Bleiben wir bei der realität: es war in der masse gefärbtes glas, und wer da sang, waren keine engel, sondern kleriker und knaben.
 
Mehrstimmiger, polyphoner gesang erfordert planung und fixierung, tonhöhen und -dauern mussten geregelt und festgehalten werden, um nicht im chaos zu enden, auch um wiederholungen zu ermöglichen, was war praktikabel, was irrweg? Als solcher zeigte sich das mensuralsystem, das nur zwei zeichen hinterlassen hat: den halbkreis, als buchstabe "C" missdeutet für einen 4/4 takt, mit einem punkt "Alla breve", wobei die "brevis" als zählzeit unserer halben note entsprach. Eine schwierigkeit beim lesen alter musik besteht darin, dass sie in uns ungewohnten, langen notenwerten notiert ist und, als man sich ihrer erinnerte, schleppend und langweilig interpretiert wurde.
Viele weichen wurden gestellt, mancher bedeutungswandel fand statt, der "ténor" sang den cantus firmus, darüber lagen der "altus" (die hohe, falsettierte männerstimme) und der sopranus als knabenstimme, der "bassus" ergänzte das klangbild in der tiefe.
Tonmaterial waren die 6 (authentischen) modi, zu denen sich die jeweils "plagalen" gesellten, die bei gleicher reihe eine anderen ausschnitt verwenden, die "finalis" liegt in der mitte.
Neben der kirchenmusik gab es weltliche canzonen, ballaten aus dem reichen schatz der zeitgenössischen, endlich vom latein befreiten poesie, und schließlich eine fülle von tänzen und tanzliedern. Dante lässt seinen verstorbenen freund Casella am fuße des läuterungsberges seine eigene canzone "Amor, che ne la mente mi ragiona" singen, sodass die abgeschiedenen ergriffen lauschen und fast vergessen, sich zu entsündigen.
Zwei namen leuchten aus dem anonymen dunkel: Francesco Landini (Florenz) und Guillaume de Machaut (Reims), beide sind gut dokumentiert, ihre werke werden rekonstruiert und wieder aufgeführt, es lohnt, sie anzuhören.
Kultur und wohlstand wanderten von den adelssitzen in die städte und residenzen, muster war der hof Kaiser Karls IV. in Prag (Guillaume de Machaut war u.a.sekretär seines vaters gewesen).
Vor mir liegt eine LP "Musica in Bohemia in tempore Caroli IV.", und ich erfreue mich der frisch/lebendigen musik mit ihren minneliedern, lamenti, motetten, ballaten, saltarelli, estampidae zum klang von fiedeln, lauten, pfeifen, blockflöten, krummhörnern, trummscheiten, schlagwerk neben solo- und raumdurchflutendem a-cappella chorgesang.
 
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Was für ein jahrhundert! Generationen von niederländischen meistern konstruieren und errichten tönende kathedralen, nicht räumlich aufwärtsstrebend, sondern horizontal in der zeit verlaufend auf den schlanken pfeilern der dreiklänge. Denn so dicht das polyphone gewebe, so groß die anzahl der stimmen, es erklingen immer nur drei verschiedene töne zur gleichen zeit. Durchgänge machen die stimmen flüssiger, leittöne verbessern die sangbarkeit, und schließlich wagt man kühne chromatik.
Durch dynastische heirat waren Flandern und Burgund verbunden, wohlstand und kultur blühten unter den vier herzögen von Burgund in regem austausch und verkehr. Zweisprachig wie heute in Brüssel wurde aus einem Josse van der Weyden ein Josquin des Près.
Nicht die fürstenhochzeit war grundlage der blüte: englische wolle wurde in den städten Flanderns gewebt zu hochwertigem, begehrtem tuch, in Brügge liefen die fäden des handels zusammen, angebot und nachfrage regelte eine neue einrichtung: die börse. Wer heute die "tote stadt" durchwandelt, stellt sich kaum vor, dass sie auf ihrem höhepunkt mehr menschen beherbergte als das damalige London. Der plötzliche niedergang - der hafen versandete, und Antwerpen übernahm die rolle - führte zum baustopp, und es gibt in der stadt nur ein "moderneres" haus.
Die tuchhallen und glockentürme, die belfriede (bellen=läuten), die vor feuer und feinden warnen sollten, auch die rathäuser flandrischer städte wetteifern mit den kathedralen, domen, münstern, dem himmlischen Jerusalem tritt ebenbürtig handel und wandel, fleiß und wagemut zur seite.
An namen fehlt es nicht: Guillaume Dufay gehört zur ersten generation. Die messe ist inzwischen "durchkomponiert", und die päpstliche bulle, eine gesiegelte urkunde, die jegliche mehrstimmigkeit in der kirche verbot, wurde während des schismas nicht beachtet. Man sagt, wer Dufays messe "Ecce ancilla", ein spätwerk zum ersten male hört, glaubt, es sei musik des späten 19., wenn nicht des 20. jahrhunderts. Chorsänger in Cambrai, reisen bis Italien, dem anderen kulturellen schwerpunkt der epoche, mitglied der päpstlichen cappella, magister in Paris, der aufmüpfigen und ketzerischen Sorbonne, ein reiches musikerleben, das wieder in Cambrai endet.
An kompositorischen mitteln verwendet Dufay imitationen, kanon, die stimmen fließen organisch, und wo wenig text ist wie im "amen", ergeht sich die musik in melismen und fiorituren, sie braucht viel mehr zeit als das gesprochene wort, sie dehnt sie nach belieben aus.
Und nun schaue man sich die singenden und musizierenden engel auf van Eycks Genter Altar an.
 
Johannes Ockeghem (gh= ch wie „ach“) vertritt die zweite generation, und ich zitiere Johannes Tinctoris Prolog „Ars contrapunti“ (1477) : “hörenswerte musik gibt es erst seit knapp einem menschenalter“. Komponisten beherrschen ihr handwerk, gehen spielerisch damit um und versuchen sich in allerlei kunststücken und rätseln.
Die „Missa in cuiusvis toni“ ist so angelegt, dass sie in allen 4 kirchentönen ausgeführt werden kann, sie kann dorisch, phrygisch, lydisch und mixolydisch erklingen. Wieweit in der praxis korrekturen angewandt wurden, um unsangliche intervalle zu vermeiden, wieweit auch instrumente hinzugezogen wurden, wissen wir nicht. Aber „akzidentien“,d.h. zusätzliche kreuze und been spielen eine zunehmende rolle und erweitern die tonal/chromatischen möglichkeiten.

Es gab auch damals „ohrwürmer“, einer muss die schlichte melodie auf den text „L'homme armé“, vor dem man sich hüten und gegen den man sich vereidigen muss, gewesen sein, die in vielfältiger form verwendet wird. So von dem schon erwähnten Josquin des Près (schüler Ockeghems) im parodieverfahren, das bekanntes aufgreift und verarbeitet.
In Frankreich tobte der hundertjährige krieg, es waren burgundische truppen, die Jeanne d'Arc gefangennahmen und an die verbündeten Engländer auslieferten.

Bevor wir uns Italien zuwenden, muss in Deutschland das Lochamer Liederbuch erwähnt werden, das unter anderem eines der schönsten deutschen lieder enthält „All mein gedanken, die ich hab, die sind bei dir“. Zwei gleiche „stollen“ werden gefolgt von einem kontrastierenden abgesang, dieser „Bar-form“ werden wir wiederbegegnen.
Ebeso lebendig geblieben ist Heinrich Isaaks „Innsbruck, ich muss dich lassen“, dessen schlussmelisma „wo ich im elend bin“, die klage des abschiednehmenden, die gemütslage vieler ausdrückte.
 
Was geschieht nicht alles in diesem "Quattrocento"?
Poesie und liedgut offenbaren tiefe, menschliche gefühle, das ist nicht mehr die anbetung einer edelfrau aus der sicht eines troubadours, eines minnesängers als dank für speis' und trank.
Die kirchenmusik entfaltet sich in virtuoser satzkunst, verbreitet sich über den kontinent wie vordem die neue architektur, wenn auch deren bauten zum teil noch unfertig sind, es womöglich bis heute geblieben sind. Denn schon längst hatten sich drei junge Florentiner auf den weg nach Rom gemacht, um sich die monumente der antike wie das Pantheon nicht nur anzusehen, sondern zu vermessen und zu studieren. Gähnte doch noch immer ein großes loch in Santa Maria del Fiore, das es zu überwölben galt, 1436 endlich ist die kuppel fertig, und nun baut man lieber im "neuen stil", nicht in die höhe strebend, verworren, barbarisch, sondern in höhe und breite ausgewogen. Ein hohles rohr ist stabiler als ein massives, dazu elastischer und vor allem wiegt es bedeutend weniger, und eine zweischalige kuppel, in ein trägergerippe in fischgrätentechnik vermauert, spart gewicht und material.
Perspektivische vorzeichnung schafft raumillusion in der malerei, statt des goldgrundes sakraler bilder wird landschaft, natur abgebildet. Öl, zunächst sparsam als bindemittel verwendet, ermöglicht feinste farbnuancen.
Nicht zu vergessen die beiden paukenschläge: 1487/88 umrundet Vasco da Gama Afrika und eröffnet neue handelswege zum osten, 1492 wird der globus nach westen hin komplettiert.

Die meister der polyphonie sind universell wie Leonardo da Vinci, sie sind mathematiker und astronomen, sie kennen sich mit zahlen aus, numerischen reihen, dem goldenen schnitt, mit symbolik und theologisch/philosophischer spekulation.Sie rechnen, entwerfen, konstruieren, entwickeln, entfalten vorhandene möglichkeiten, komplizieren, vereinfachen.
Der "cantus firmus" erscheint auch in der oberstimme. In Josquins erwähnter messe finden wir im stimmengewebe sequenzen, wiederholungen von phrasen auf anderer stufe, die den ablauf flüssiger, sangbarer und merkbarer machen, ein kontrapunkisches kunststück, das "Benedictus", ist zweistimmig, aber einstimmig notiert mit zwei verschiedenen tempoangaben: beide stimmen singen das gleiche, beliebte thema, aber die eine doppelt so schnell wie die andere. Über das ende mussten sich die sänger wohl einigen, aber das ist bei jedem kanon der fall.
 
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Es waren gewiss keine idyllischen zeiten, kriege, pestilenz, religionsstreit, parteienhader, not und elend wie eh und je, Burgund wird französisch, Flandern habsburgisch, ein junger augustinermönch begleitet eine delegation seines klosters nach Rom, rutscht bußetuend bäuchlings die „heilige treppe“ im Lateranspalast hinauf, später wendet er sich gegen den ablasshandel und setzt einen langersehnten, weitreichenden prozess in gang, der protestantischen bildersturm (die „papistische“ musik blieb nicht verschont) in den Niederlanden und eine schonungslose gegenreformation entfacht.
Italien wird das gelobte land der musiker, da gibt es noch kirchenmusik alten stils, aber auch nicht mehr lange, denn die ist inzwischen papst und klerus ein dorn im auge, lenkt sie doch vom wort Gottes ab, und kein mensch versteht mehr die altehrwürdigen texte, wenn alle durcheinander singen, weltliche weisen haben sie gar eingeschmuggelt, das muss ein ende haben.
Flämische tradition wandert nach Venedig, Adrian Willaert, in Brügge geboren, vielgereist, möglicherweise an den höfen von Böhmen und Ungarn tätig, wird 1527 zum Maestro da capella am Marcusdom ernannt. Aber hier wie auch am hofe Franz I. von Frankreich, weht ein anderer wind, waltet ein anderer schönheitssinn: polyphonie, ja, aber imitationen und kontrapunktische kunststücke in maßen, oft nur am anfang eines tonsatzes, zugunsten wohlklingender, musikalischer phrasen. Die linearität der stimmen wird eingegrenzt durch harmonische erwägungen, wir wissen, wohin das führen wird, und es ist reizvoll, die verbindenden glieder (keine „missing links“) zu verfolgen.
Im weltlichen durchläuft das madrigal die gleiche entwicklung, meist 5stimmig polyphon, als tanzlied rhythmisch kompakter bis zum homophonen satz.
Keine geselligkeit ohne musik, wer nicht zur laute greift, ein flötchen bläst, singt mit. Maskenzüge, fürstenhochzeiten, karneval, festlichkeiten aller art: musik, musik, musik! Mit einem bunten, vielfältigen instrumentarium, pauken und trompeten, businen, schalmeien, serpente und was weiß ich im freien, die „leisen“ instrumente, violen, harfe, laute und das neue virginal/clavizimbel, das hackbrett mit tasten in der camera eines palazzo und in der stube wohlhabender bürger.
 
Als "intermezzo" mögen zwei ereignisse dienen, die die sozialen gegensätze und spannungen sichtbar machten, der Deutsche Bauernkrieg und der "sacco di Roma", da war karneval zur furchtbaren wirklichkeit geworden: die umkehrung gesellschaftlicher verhältnisse.
http://de.wikipedia.org/wiki/Deutscher_Bauernkrieg
http://www.kriegsreisende.de/neuzeit/sacco-roma.htm
Dass man menschen nicht ungestraft maßlos ausbeuten kann, söldner auch bezahlen muss, war eine bittere erfahrung, die weltordnung war in gefahr.
Wenn ich auf der anderen seite lese, dass der orienthandel für Venedig so einträglich war, dass reeder/kaufleute/patrizier guten gewinn machten, wenn nur eines von 5 schiffen zurückkehrte, überläuft mich ein schauer. Wer trug die lasten, wer erfreute sich des wohlstands? Aber auch hier zeichnet sich der niedergang ab, das Mittelmeer und der mühsame landweg verlieren allmählich an bedeutung angesichts der neuen entdeckungen.

Zwischendurch freut man sich seines lebens, tanzt pavane und gagliarde oder volte (man unterscheidet die "getretenen" von den "gesprungenen" tänzen), singt madrigale und lauscht feiertags der noch immer reichen kirchenmusik, die allerdings in protestantischen landen dem schlichten, einstimmigen choral weichen muss.

Wer zählt die namen ? Hier eine auswahl:
Andrea und Giovanni Gabrieli in Venedig nutzen die emporen der Marcuskirche für doppelchöriges, auch instrumentales musizieren mit echo-wirkung
Giovanni Pierluigi aus Palestrina bei Rom wird von papst Gregor XII. beauftragt, die kirchenmusik zu reformieren
http://de.wikipedia.org/wiki/Madrigal_(Musik) erspart mir die aufzählung
Auch in England blüht die musik vokal als madrigal und instrumental für das neue virginal. Aber das ende des "Golden age" ist abzusehen.
Nicht zu vergessen die 2 000 werke von Roland de Lattre alias Orlando di Lasso, der nach wanderleben als kapellmeister der herzoglichen hofkapelle in München sesshaft wurde, der "fürst der musiker".
Auf der schwelle des neuen zeitalters steht Michael Schulze, Prätorius klingt freilich besser, aus Wolfenbüttel mit allein 1 200 liedbearbeitungen, von denen "Es ist ein ros' entsprungen" wohl jeder kennt.

NB: Wer die aufrührerischen bauern verurteilt und das verhalten der landsknechte in Rom unangemessen findet (die berichte sind teilweise übertrieben, wenn man die aussagen von augenzeugen vergleicht, und all die kunstwerke, die angeblich besudelt, zerstört oder verschleppt wurden, noch vorhanden sind), sollte bedenken, dass man sie und ihre lebens- und arbeitsbedingungen mit keinem wort erwähnen würde, wenn sie nicht aufbegehrt hätten. Geschichtsbildend sind kriege, dynastien, herrscherbiographien von einem "großen" zum anderen, kaum ein wort darüber, wenn menschen ausgebeutet und drangsaliert werden, bis sie in ihrer verzweiflung überreagieren. Auch unsere musikbetrachtung ist "oberklassengeschichte", wie sah es in den unteren schichten, auf dem lande aus ? "Die im dunkeln sieht man nicht".
 
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Leitfossilien ermöglichen die datierung geologischer schichten, oft sind es technische neuerungen, die eine neue epoche menschlicher kultur einläuten und dem denken und fühlen ausdruck verleihen, "leitformen" hervorbringen, an denen sie sich erkennen und messen lassen: faustkeile, pfeilspitzen, keramik, felszeichnungen, skulpturen, bauwerke.
Der spitzbogen, aus zwei kreisbögen konstruiert, hat andere statische eigenschaften als der rundbogen und erlaubte die neue skelettbauweise, jetzt weiß man kuppeln zu wölben, und ein blick über Rom, Paris, London, Prag, Dresden zeigt die auswirkung.
Diffuse machtsysteme streben nach einheit, nach zentralgewalt, im absolutistischen régime wird sie realisiert, das wiederum verlangt nach legitimation und repräsentation.
Nicht mehr der hochragende, potenz versprechende phallus der türme, nicht der breit hingestreckte palast, das rathaus, das bürgerhaus mit harmonisch gegliederter fassade, nein, die krönende und alles umfassende kuppel wird zum zeichen der zeit. Michelangelo hatte die Peterskirche in Rom als zentralrundbau entworfen, ein langhaus wurde angegliedert, wie es prozessionen und kultus erforderten, und Bernini fügte die kolonnaden hinzu, um die gläubigen draußen liebevoll oder besitzergreifend zu umarmen. Wer heute über Rom blickt, weiß, wer das sagen hat, in London weiß man nicht auf anhieb zwischen St.Paul und der börse zu unterscheiden.
Komponieren war bisher auswählen, übernehmen, ausgestalten, umspielen, eher arrangieren als erfinden gewesen, die cantus firmi waren nicht sehr charakteristisch, wurden zunächst im ténor versteckt, bis sie an die oberfläche gelangten, die klänge fluteten vorüber. Bekannte weisen mögen einen behaltens- und merkeffekt gehabt haben, Luthers "Vom himmel hoch" konnte auch gleich gesungen werden, die melodie "Ich komm aus frembden landen her" war wahrscheinlich sehr populär.

Wenn ich nun ein charakteristisches "subjekt", ein thema erfinde, es sinnigerweise "Dux (herzog, fürst, souverain)" nenne, in allen stimmen durchführe, wo es leicht wiedererkannt werden kann, aber wenn es gleichsam als bekräftigung auf anderer stufe wiederkehrt, also nicht mehr neu und führend ist, "comes (begleiter/statthalter/graf)" heißt, wenn ich jeden themeneinsatz kontrapunktisch weiterspinne, und das ganze einem modulationsplan unterwerfe, wobei auch die tonalität gefestigt wird, ja, was haben wir denn da?
 
Was machen prominente und die es sein und bleiben wollen? Sie setzen sich in szene, und dazu eignet sich besonders die bühne.

Die handvoll literaten und musiker, darunter Vincenzo Galilei, vater eines weit berühmteren sohnes, die um 1595 in Florenz zusammenkamen und sich "Camerata" nannten, wollten ihren kollegen von der bildenden zunft nicht nachstehen. Die reisten nämlich nach Rom, um antike architektur und skulptur aufzufinden, zu vermessen und die gewonnenen kenntnisse zu verarbeiten, und da lag die idee nicht fern, das antike drama wiederzubeleben. Man wusste aus den werken von Aischylos, Sophokles und Euripides, dass ein chor die stimme des volkes darstellte und sich auf einer "orchestra" genannten fläche bewegte, bei Plautus gibt es auch eingestreute "lieder", nur musik war nicht erhalten, man wusste zwar, dass etwa die homerischen epen von "rhapsoden" bruchstückweise vorgetragen wurden, selbst Kaiser Nero sang zur kithara, und man stellte sich eine art sprechgesang vor zu sparsamer akkordbegleitung. Die cameratisten experimentierten, und was dabei herauskam, nannten sie "opera", das zusammenwirken vieler künste: dichtung-musik-darstellung-tanz-bühnenbild-kostüm.
Die erste oper hieß "Dafne", die geschichte eines mädchens, das vom gott Apollo verfolgt, von anderen, gnädigen oder neidischen göttern, möglicherweise auch von ihrem vater, dem flussgott Penaios in einen lorbeerbaum verwandelt wurde.
Es war sicherlich ein schock für die verwöhnten ohren, man war an kunstvolle kirchenmusik, 5stimmig-polyphone madrigale, vieltönige instrumentalmusik bei den prächtigen maskenzügen und tänzen gewöhnt. Wir haben leider keine zeitgenössische kritik, und auch das werk ist nicht erhalten, aber der begriff "monodie" sagt uns, dass einstimmig, eher eintönig mehr rezitiert als gesungen wurde.
In Florenz wie anderen italienischen stadtstaaten hatte der geldadel (die erste bank war der Monte dei Paschi in Siena, ein "monte" war eine art leihhaus, wo man sich mit bargeld gegen pfand versorgen konnte, dazu kam das wechseln der buntscheckigen münzen: was dabei herauskommt, wissen wir) sich auch formal geadelt und die sprösslinge der kaufmanns- und bankiersfamilie Medici regierten als großherzöge und hielten hof. Baulust und repräsentation werden zum bedürfnis, um den herrschafts-anspruch nach außen hin zu dokumentieren, dem volk gelegentlich ein schauspiel zu bieten, die maskenzüge hatte ich erwähnt, nun bot sich eine neue gattung an, den mächtigen zu schmeicheln und sie zu überhöhen.
 
Das madrigal stirbt in schönheit, Claudio Monteverdi und Gesualdo, fürst von Venosa sorgen für eine nachblüte, meisterhafte ausdeutung der texte mit sparsamen, musikalischen mitteln bei dem einen, kühnste harmonisch/chromatische wendungen bei dem anderen. Zum mindesten von da an gibt es auch für uns „hörenswerte musik“ (wir werden das noch einige male wiederholen), unbedingt anhören!
Montverdis opern werden jetzt wieder aufgeführt, auch wenn die instrumentierung erraten werden muss, wahrscheinlich hat man auch damals alles blasen, streichen, zupfen und schlagen lassen, was gerade zur hand war.
In Deutschland geben die landsknechtstrommeln 30 jahre lang den takt an, auch Frankreich leidet unter den religionskriegen, und doch konsolidiert sich eine zentralmacht von Franz I. über Henri IV., die minister Richelieu und Mazarin hin zu Louis XIV. Wenn man das prachtgemach im Louvre betritt, zu ehren der hochzeit des katholisch gewordenen Henri mit Maria von Medici von meister Rubens' werkstatt ausgemalt, sagt man auf den ersten blick „schön scheußlich, richtig barock!“). Und so sind die maßlosen huldigungen an Queen Elizabeth, die dramatisch/musikalischen darbietungen, bei denen die ganze griechische mythologie aufgeboten wurde, um der herrscherin zu schmeicheln. Man schwelgte in superlativen und huldigte denen "von geblüt und Gottes gnaden", wobei ich mir einen kleinen seitenblick nicht versagen kann, denn Mary Stuart, mit dem französischen thronfolger verheiratet, stellte nüchtern fest. „Bei Monsieur funktioniert auch nicht eine seiner leibesöffnungen“, folge ererbter krankheiten und inzucht. Sie wurde auch bald witwe, kehrte nach Schottland zurück mit den bekannten folgen. Herkules in Kassel und in Dresden, wo August wohlpräparierte hufeisen verbog und seine manneskraft bewies.
In Italien dagegen ging das leben seinen gewohnten gang: in Venedig hatte man den guten einfall, waisenmädchen eine gediegene musikalische ausbildung zu geben, statt sie in „konservatorien“ nur „aufzubewahren“, opernhäuser schossen wie pilze auf in den reichen städten, in Cremona bastelte man an einem neuen instrumententyp, streichinstrumenten mit 4 saiten und ohne bünde, die solistisch wie chorisch, vor allem melodisch einsetzbar waren. Die melodie, harmonisch gestützt von begleitenden stimmen, ist auf dem vormarsch, in der oper wechseln rezitative und arien, und da ein werk nur während einer saison aufgeführt wird, erfinden die komponisten eine kurzschrift, um sich überflüssige arbeit zu ersparen, zumal sie während der proben auf die wünsche der sänger eingehen und dauernd ändern müssen.
Die „gelehrte“ musik“, die fugenkomposition überlassen die Italiener gern den Deutschen, wenn sie wieder zeit und muße zum musizieren haben werden. Ab 1648 besteht hoffnung, und 1685 kommen in Mitteldeutschland zwei komponisten zur welt, die bis heute „hörenswerte musik“ hinterlassen werden.
 
"Die löbliche Music ist von den anhaltenden gefährlichen Kriegs-Läufften in unserm lieben Vater-Lande Teutscher Nation nicht allein in grosses Abnehmen gerathen, sondern an manchem Ort gantz niedergeleget worden".
So Heinrich Schütz, einer der drei großen "S" neben Johann Hermann Schein und Samuel Scheidt, dem ersten deutschen orgelmeister. 1624 veröffentlichte dieser eine sammlung "Tabulatura nova", das war keine tabulatur, keine griffschrift, sondern erstmalig im druck die modernen 2 oder 3 5-liniensysteme für tasteninstrumente ohne oder mit pedal. Auch in Deutschland beginnt der siegeszug des klaviers, wobei alles, was tasten hat, ein klavier ist, das "klavier" ist dann zunächst ein "pianoforte", aber das hat noch 100 jahre zeit. Statt Czerny, Clementi und Cie. könnten angehende klavierspieler werke von Scheidt und Froberger spielen, eine schule der geläufigkeit, wobei die linke hand nicht geschont wird.
In den "lied-partiten" werden damals bekannte weisen geistreich variiert, beliebt war "Schweiget mir vom weibernehmen, es bringt eitel ungemach". Lucas Cranach der jüngere variiert das thema bildlich: die junge frau fischt nach dem geldbeutel des alten ehemannes, der junge mann nimmt einige runzeln in kauf, eben des prallen geldbeutels halber, harmonie ist selten. Dafür in der musik: kirchentöne klingen noch an, aber Dur und moll dominieren, man begnügt sich mit wenig vorzeichen, denn erst die temperierte stimmung macht weiteres erträglich, geduld!
Pavane und gagliarde sind aus der mode, die 4/4allemande ist jetzt der feierliche schreittanz zur eröffnung streng nach rangordnung, in der 3/4 courante geht es lebhafter zu, die 3/2 sarabande ist aus Spanien importiert, am schluss die fröhliche 6/8 jigg oder gigue. In Versailles gibt es schon was ganz modernes, das menuett.
Wenn man nicht dazu tanzt, spielt man diese folge und nennt sie eine suite oder partita.
 
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Wie kann man die musik Bachs und Händels unterscheiden ? Beide wurden im selben jahre geboren, aber die lebensläufe unterscheiden sich von anfang an: Bach wuchs in einer musikerfamilie auf, Händels musikalische begabung musste sich bahn brechen. Gleiche zeit - gleicher zeitstil, verschiedene persönlichkeiten, lebensläufe- personalstil.
Wenn der kleine Händel über den nahen markplatz ging, stand da noch nicht sein bronzedenkmal und ratterten keine straßenbahnen, aber die spätgotisch/barockisierte kirche war da, dort traktierte Friedrich Wilhelm Zachow sonn- und feiertags die orgel und sang die gemeinde, schleppend wie eh und je, man aß grütze und trug seinen mantel ein leben lang. Das war in Eisenach genauso, nur hieß der organist dort Johann Christoph Bach.
Zum musikalisch/örtlichen zeitstil gehörten die polyphone satzweise, wie der einstimmige oder für den kirchenchor vierstimmig homophon gesetzte protestantische choral, das orgelspiel mit präludien und fugen, figurierten chorälen und toccaten, bei denen der organist brillieren konnte.
Für hausmusik stand in wohlhabenden bürgerhäusern ein spinett oder das anspruchsvollere clavicembalo, zum lernen und üben war das clavichord mit seinem leise zirpenden, sensiblen klang da. An musikalischen formen überwog die suite, auch "sonaten", d.h. für ein solo-instrument gedacht. Die notenbüchlein der Anna Magdalena Bach enthalten modestücke: präludien, polonaisen, menuette, murkis (vom dudelsack hergeleitet mit bordunbässen), suiten, choräle, lieder.
Öffentliche konzerte gab es kaum, in residenzen und reichen handelsstädten gepflegte unterhaltungs- und tafelmusik, reisende virtuosen brachten die neuesten konzerte (in Italien entstandene soli mit orchester) mit, oper mit ouverturen, auch "sinfonien" genannt, rezitativen und da-capo-arien, für das volk spielten allenfalls die stadtpfeifer auf, die auch zu festlicher kirchenmusik herangezogen wurden. Trompeten und pauken waren dem adel und hohen feiertagen vorbehalten. Wir haben schon im ohr "Schallet, ihr pauken!" was dann im Weihnachtoratorium zu "Jauchzet, frohlocket!" wird.
Der weitgereiste Händel, der "bel sassone" in Italien, opernunternehmer in England und erfolgreicher oratorienkomponist ist vergleichbar einem al-fresco maler, der in breiten pinselstrichen, schnell und auf fernwirkung hin, für die öffentlichkeit arbeitet. "Lernt, mit so einfachen mitteln so große wirkungen zu erzielen", rät Beethoven.
Bach ist dagegen miniaturmaler, der sich mit spitzem pinsel in einzelheiten vertieft, ohne immer an verdienst oder öffentliche ausstellung zu denken, sich aber tapfer seinen aufgaben als hofkapellmeister und kirchenmusiker stellt. Dass in der Thomas- und Nikolaikirche jeden sonntag eine neue kantate erklang, nahmen die leipziger nicht besonders zur kenntnis, das war so selbstverständlich wie die stundenlange predigt, vielen womöglich genauso langweilig.
 
"Wann endest du (mit deinem geschwätz) ? Und wann beginnest du (mich zu rasieren) ?" ruft der verzweifelte Nur-ed-din dem bejahrten Abul Hassan Ali Ebn Bekar, dem barbier von Bagdad, zu.
Eine lange entwicklung erreicht ihren höhepunkt und ihr ende: von sechs tonreihen sind zwei übriggeblieben, wir nennen sie Dur und moll, die auf jeder stufe eines 12tönigen systems genutzt werden können, sogar auf tastenintrumenten nach einführung der temperierten stimmung, die den tonraum einer oktave in 12 gleiche abschnitte teilt. Damit kann man innerhalb eines satzes in andere tonarten modulieren, was wiederum längere, harmonisch und melodisch interessante formen ermöglicht.
An zwei parametern hält der zeitstil aber fest: an der monothematik, ein thema, eine bewegung beherrschen einen ganzen satz, und es wird weiterhin registermäßig musiziert, in "terrassendynamik" deutlich abgestufter lautstärken und klangfarben. Die tasteninstrumente geben keine übergänge her, aber auch im neu organisierten orchester bleibt es beim gegensatz der gruppen.
Viele instrumente sind verschwunden, die neue cremonenser, dünnwandige, 4saitige, bundlose bauart der streichinstrumente hat sich durchgesetzt, der bogen verliert an krümmung, auf mehrstimmigkeit wird verzichtet. An bläsern sind übriggeblieben flöten, wobei die blockflöte zunehmend von der beweglicheren und intonationssichereren querflöte abgelöst wird, oboen und fagotte. Festlichen glanz geben trompeten, waldhörner und pauken, unerlässlich das continuo, cembalo (von dort leitet der maestro) oder orgel mit bassinstrument. Da ständig neues gespielt wird, hat sich die kurzschrift des bezifferten generalbasses durchgesetzt, nur "obligate", unerlässliche stimmen werden notiert. Die harmonik hat sich um den dominantseptakkord und den schreckenverbreitenden, verminderten septakkord ("Barrabam!" in Bachs Matthäuspassion) erweitert. Aber in vorhalten schreckt man vor dissonanzen nicht zurück.
Als instrumentalformen sind besonders beliebt das "concerto" mit einem soloinstrument (Vivaldi), oder das "concerto grosso" mit mehreren solisten, aber auch suiten, bei Bach auch "Ouverturen" genannt wegen der ausgedehnten eingangssätze. Das "Air" aus der in D-Dur kennt ja wohl jeder. Die"Brandenburgischen konzerte", Händels "Wasser- und feuerwerksmusiken" gehören hierher.
Wir waren davon ausgegangen, verschiedene stile zu erkennen und zu unterscheiden: zusammengefasst, was man gemeinhin "barock" nennt: monothematik, terrassendynamik, continuo, typische instrumente und formen wie fuge und suite, in der oper die da capo arie (ABA), wobei die reprise gern ausgeziert wird und virtuoser kastratengesang, der heutiges "werktreues" nachspielen problematisch macht.
 
Exkurs:
Aufklärung findet eh und je statt, eltern höherer lebewesen vermitteln ihrem nachwuchs das lebensnotwendige, das nicht in instinkten festgelegt ist. Wir erben eine grundaustattung von genen, dann lernen wir durch beobachten, nachahmen und einprägen mem für mem (die „bits“ des durch nachahmung erlernten, behaltenen und „kulturell“ weitervermittelbaren) laufen, sprechen, schwimmen, radfahren und vieles andere. Wir denken (nicht selten ausschließlich), was andere denken, benutzen die gleichen redewendungen, den gleichen wortschatz, und sobald wir uns einer gruppe zugehörig fühlen, essen wir, kleiden uns, glauben, haben die gleichen vorbilder, bevorzugen die gleiche musik, tun wir alles, was da „angesagt“ ist. Solche nachahmungszwänge können bizarre formen annehmen, magersucht kann tödlich sein, hier eine harmlose aber aufschlussreiche variante: 1958 lief der film „Das mädchen Rosemarie“, wieviele solcher “mädchen“, zum mindesten in „look and outfit“, bevölkerten daraufhin die straßen! Offenbarten sich da heimliche wünsche?
Wo kämen wir hin, wenn jeder dächte, urteilte, nach eigenem ermessen handelte! Die suche nach dem jeweils „größten“ und „besten“, nach idealen und vorbildern gehört auch hierhin, sie erlaubt schlichten gemütern, bequem die vielfalt zu übersehen, schon den „zweitgrößten“ und „-besten“ braucht man sich nicht zu merken.
Herrscht aber ungleichgewicht der hirnhälften, dann haben die betroffenen womöglich eigene, noch nie geäußerte gedanken, kreative ideen, außergewöhnliche fähig- und fertigkeiten, und bei größeren störungen sind sie gar genial, bezahlen das mit mangelnder kommunikationsfähigkeit, und die grenze zum anomalen, im extremfall pathologischen, ist fließend. Cesare Lombroso („Genio e follìa“) hatte schon vor 120 jahren vermutet, was heutige wissenschaft bestätigt.
Jeder souveraine herrscher, auch wenn er sein reich von einer anhöhe aus überschauen konnte, wollte „absolut“ sein und sein eigenes Versailles bauen. Dem nachahmungstrieb, repräsentationsbedürfnis, der baulust verdanken wir die residenzen, hofopernhäuser, hofkapellen, hofballette, kammersänger/innen und raritäten-, später kunstkabinette im zerrissenen Deutschland nach dem langen krieg, aber auch allgemein entwicklung, fortschritt, kultur. Ein amselpärchen vermittelt seit ur-generationen das gleiche, menschen bauen auf dem errungenen auf, entwickeln es weiter oder zerstören es, um auf früherer stufe neue wege oder dieselben ausgetretenen pfade zu gehen.
 
1750
Die liste der aufklärer ist lang, aber jede neue erkenntnis zerstört gewohnte vorstellungen: wenn blut transportmittel ist (Harvey), hat es keine magisch/sakralen kräfte, mechanik und gravitation (Newton) brauchen keine den kosmos bewegenden engel, mehr als 7 bewegliche himmmelskörper sind denkbar, und die sterne sind nicht am firmament festgeheftet. Das wissen der zeit wird in einer "Enzyklopädie" gesammelt, rationales denken setzt sich durch, wobei allerdings noch viel scharfsinn darauf verwandt wird, die existenz Gottes zu beweisen. Gott ist noch im himmel, aber wo? Zweifel kamen aus den bauhütten der kathedralen, in deren nachfolge wird 1723 in England die erste freimaurerloge gegründet. Eine widersprüchliche zeit, noch sind die alten mächte stark, vieles geschieht im verborgenen mit kleinen schritten vorwärts und wieder zurück.
"Schon eilet froh der ackersmann zur arbeit auf das feld", van Swieten, der verfasser und Joseph Haydn, der komponist der "Jahreszeiten" haben gewiss keinen gesehen, aber schon die tatsache, dass es nicht um helden und gekrönte häupter geht, sondern um alltägliche, natürliche vorgänge, ist bemerkenswert. Und im kompendium der aufklärung, der "Zauberflöte" siegen zwar sonne und weisheit über die finsteren mächte der nacht, aber es wird noch geprügelt, versklavt, die frau bedarf des "leitenden mannes", ist aber in ausnahmefällen schon würdig, in einen geheimbund aufgenommen zu werden.
Mit den gekrönten häuptern ist nicht viel staat zu machen, in Frankreich herrschen mehr oder weniger kluge, aber nicht legitimierte frauen über schwache könige, Georg III. regiert zeitweilig in England, dann unterhält er sich mit dem heiligen geist, ist nicht ansprechbar (er soll nicht einmal eine maîtresse gehabt haben, was wunder!), und sein sohn (der den pavillon in Brighton in "Hindu-gotik" bauen ließ, an dem er dann, hochverschuldet, das interesse verlor) muss als regent einspringen, so geht das 59 jahre lang, und die kolonien in Nordamerika beschließen, ohne ihn auszukommen.
In Preußen gibt sich Friedrich II. aufgeklärt wie sein kollege Joseph II. in Wien, aber die leibeigenschaft wird erst anfangs des kommenden jahrhunderts abgeschafft, Napoleon sei dank für straßen (schnurgerade chausseen mit schattenspendenden bäumen), metrisches system, standesamt, ehescheidung und säkularisierung.
Nach kurzem übergang des "galanten stils" beginnt die musikalische "neuzeit".
 
Dreh- und angelpunkt ist Joseph Haydn in person und werk: 9 jahre chorsänger, 10 jahre unter anderm kammerdiener und repetitor eines italienischen sängers und gesangslehrers, klavierlehrer, 30 jahre in fürstlichem dienst, 2 konzertreisen nach England hinterließen neben vielem anderem 108 sinfonien, 52 klaviersonaten, 24 opern, 83 streichquartette, deren erfindung ihm zuzuschreiben ist und einen idealfall von vierstimmigkeit darstellt.
Viele günstige umstände treffen zusammen: die neu-organisation des orchesters durch die Mannheimer Schule, die verbreitung des fortepianos, die abkehr vom generalbass, die harmonische beschränkung auf Dur und moll mit allen modulatorischen möglichkeiten der temperierten stimmung, ein neues verständnis von polyphonie, nicht zuletzt der geist der zeit, der aufklärung. Dazu eine gründliche, wenn auch autodidaktische ausbildung, immenser fleiß, ein arbeitsmilieu, das stets zu neuer produktion drängt, womöglich auch die isolation, die ihn lebenslang nach neuem suchen lässt.

Nicht die jagd nach gold und reichtum löste die zweite welle der entdeckungen aus, James Cook vermisst, kartographiert, wissenschaftler an bord untersuchen tier- und pflanzenwelt, fremde völker, sprachen, komplettieren die ansicht des globus. Da ist es nicht abwegig, über "naturrecht", gar menschenrechte nachzudenken und sie zu formulieren. Die welt ist vielfältiger, als man bisher glaubte, viele dinge kann man von verschiedenen seiten betrachten, und schon sind wir bei einer dialektischen denkweise. Voltaire, Diderot, Baron d'Holbach, Rousseau schrieben und wurden gelesen.
All das wurde gewiss nicht in einem katholischen konvikt diskutiert, da war wichtiger, dass die zöglinge brav die hände über der bettdecke hielten, und was davon in die gesindestube der fürsten von Esterhazy drang, wissen wir nicht. Aber einer der ihren war held einer frechen komödie von Beaumarchais, Mozart wird sich um ihn kümmern. Was weiß man über das unbedeutende Weimar, wo deutsche sprache zu weltliteratur geformt wird?
Warum in der musik immer das anfangs eingeschlagene stur weiterspinnen, warum nicht einen musikalischen gegensatz anbringen? Themen erfinden, sie mit gegensätzen in konflikt bringen, sie "durchführen"? Noch kleinere bausteine formen, motive, die man schleifen und bearbeiten kann, oder eine phrase auf verschiedene instrumente aufteilen, was man "durchbrochene arbeit" nennt. Haydn entwirft, experimentiert und experimentiert, studiert mit 40 noch einmal den "Gradus ad Parnassum", das trockene lehrbuch des kontrapunkts von Fux, vieles ist anfangs konventionell, aber das genie bricht sich bahn, sonatenhauptsatz, sonate und sinfonie in neuem sinne werden geboren und das ganze nächste jahrhundert beherrschen. Neue töne, neue klänge, neue modulationen ja, aber über Haydns satzkunst kommen die nachfolger nicht hinaus.
 
Haydn beruft sich auf Philipp Emanuel Bach, geht aber bald über ihn hinaus, ein langes leben ermöglicht eine entwicklung, die in den späten sinfonien und quartetten zu zukunftsweisenden meisterwerken führt, die populären lebensläufe Mozarts und Beethovens haben Haydn jedoch im bewusstsein der allgemeinheit in den schatten gestellt.
Betrachten wir die "Kaiserhymne" von 1797: ein sanftes auf und ab wird mit wechselnoten "verknotet", die antwort ist gegensätzlich in der bewegung, und fragend, weiterführend schließt der "stollen", um wiederholt zu werden. Der abgesang klettert höher und höher, moduliert in die dominante, und nach erreichtem höhepunkt fließt die melodie in sequenzen wieder herab und erlaubt sich vor schluss noch eine kleine rhythmische finesse. Ein vollkommener organismus ! Wer das nur, vierschrötig von einer blaskapelle gespielt, kennt, höre sich das "Kaiserquartett" an.
Wer sich an bestimmte formen klammert, wird finden, dass Haydn das gerüst oftmals versteckt, wie Sebastian Bach führt er seine hörer in die irre und freut sich, wenn die überraschung gelungen ist. Da kann ihm das heutige publikum oft nicht folgen, weil es exquisite verarbeitungen und musikalische scherze nicht hört und versteht. Fürst Esterhazy war "immer mit ihm zufrieden" (er hatte "offiziersrang" und speiste am tisch der höheren beamten), London war begeistert und Oxford verlieh dem einstigen jungen vom lande den ehrendoktortitel.
Ludwig Finscher, "Joseph Haydn und seine zeit" (2 000/2) ist sehr informativ und bringt viele notenbeispiele.
 
Da haben wir die „Wiener Klassiker“, aber wie unterscheiden sie sich, was ist zeit-, was personalstil ? Das ist nicht immer leicht bei Haydn, Mozart und manchen zeitgenossen, ich persönlich meine, der als sänger erzogene Haydn dächte eher instrumental, der als instrumentalist aufgewachsene Mozart vokal, bei Beethoven besteht darüber kein zweifel (ein zeitgenössischer kritiker nannte ihn einen „vergröberten“ Haydn) und Schubert, wenn wir ihn dazurechnen, singt wieder.
Das klassische orchester hat sich formiert: doppelt besetzte holzbläser, Mozart hat die klarinette entdeckt, bei Beethoven ist sie unerlässlich, je 2 trompeten und hörner (auch mal 3, später 4), pauken und ein kleiner streicherchor, Haydns „hauskapelle“ kam mit wenigen aus, und der durchsichtige, eher trockene klang wird heute wieder bevorzugt. Posaunisten standen unten auf der gehaltsliste, weil sie so wenig zu tun hatten (Oper und Beethovens 5.,6. und 9.sinfonie). In orchester- und kammermusik wird motivisch, kontrastreich gearbeitet, Beethoven baut einen ganzen sinfoniesatz auf einem 4tönigen motiv auf, wobei 3 sogar identisch sind., aber was macht er alles damit! Das gleiche motiv kommt allerdings schon in Haydns klaviersonate in Es-Dur vor, ebenso das „Eroica-thema“ in der ouverture zu Mozarts „Bastien und Bastienne“, musikalisches allgemeingut. Die durchführung nimmt einen immer breiteren raum ein, die coda wird zu weiterer veränderung genutzt, der hörer wird gefordert, wenn er all das nachvollziehen soll, kein wunder, dass diese „philosophische“ musik im melodiengewohnten Italien wenig anklang findet, ebensowenig in der sich mit musik berieseln lassenden gegenwart, sie ist anspruchsvoll. Und wären „Alla turca“ „Elise“ und „Mondschein“ nicht in jedem keyboard als demo gespeichert, wären auch sie „terra incognita“. Mit Pachelbels „Kanon“, Vivaldis „Jahreszeiten“, Händels „Halleluja“, Bachs „Air“ und durch film und seriosität vortäuschende werbespots aufgewärmte hits kommt man gut durch die jahrhunderte, zumal in der gegenwart eine ohrengerechte massenproduktion und -verbreitung stattfindet. Wir glücklichen fahren auch nicht mehr mit der postkutsche, erzählen uns gruselgeschichten bei kerzenschein und machen keinen kratzfuß vor irgendwelchem „Hochwohlgeborenen“.
 
Musik ist immer gruppen-, klassen-, situationsbezogen, selten, dass alle miteinander singen, spielen, tanzen, feiern. Am ehesten in unserem zeitraum in der kirche, aber auch da gab es große unterschiede, ob ein meister oder ein dorfschulmeisterlein die orgel traktierte, ob ausgebildete sängerknaben oder die dorfjugend sangen. Auf burgen wurde geharft und gefiedelt, in schlössern und bürgerhäusern schlug man (toucher) das clavecin, adel speiste zu kultivierter tafelmusik und begab sich in die hofoper. Die ersten öffentlichen konzerte gab es in London, ein wohlhabender kohlehändler hatte sie organisiert, wie das verhältnis gagen : eintrittsgeld war, ist nicht bekannt, aber mit musik war geld zu verdienen, es musste nur die richtige sein, und es kam auf die möglichst berühmten mitwirkenden an, die werbung. Haydn war gerade der richtige zur richtigen zeit, verdiente auf zwei reisen ein vermögen, komponierte zwei oratorien, führte sie in englischer sprache auf, was die wohlhabenden, londoner bürger gern hörten, baute ein haus bei Wien und hielt sich dienerschaft wie den vater der tänzerin Fanny Elßler.
Als Vater Mozart seine wunderkinder an höfen vorstellte, gab es keine honorare, sondern eine schnupftabaksdose, wie sie für solche zwecke bereitgehalten wurde, kein bares - wahres. Aber manchmal führten musiker auf eigenes risiko sogenannte akademien auf, wobei sie eigene werke vorstellten. Diese gelegenheiten waren selten, und bei Beethovens akademie am 22.12.1808 18:30 im Theater an der Wien standen auf dem programm: 5. und 6. sinfonie, 4.klavierkonzert, die Chorphantasie, eine konzertarie, 2 sätze aus der messe C-Dur. Da hatten die leute etwas für ihr geld, und alles war neu!
Mit diesem blick auf aufführungspraktiken sind wir schon im neuen jahrhundert, hatte es davor nicht in Frankreich eine revolution gegeben, und wie wirkte sich die aus? Das klarinettenquintett von Mozart (1789) lässt davon nichts hören, ein klangschönes, "apollinisches" meisterwerk im "neuen stil", sogar mit einer hm-ta-ta walzerbegleitung.
Cherubini war direktor der Pariser Akademie, blieb es und schrieb nun revolutionsopern, später dann wieder ein requiem zum todestag Louis XVIII., Grétry, Méhul, Jadin und andere hat man auch vergessen.
Mit der Marseillaise auf den lippen stürmte das volk die Bastille? Die wurde erst 1892 in Strasbourg gedichtet, als man gegen Österreich zu felde zog, die melodie soll aber nicht neu gewesen sein, evtl. deutsch.
 

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