Vielleicht kommt man dem Ganzen näher, wenn man näher Bezug zum Begriff Evolution nimmt.
Ein Grundzug der Evolution scheint eine zunehmende Differenzierung hin zu Vielfalt mit dem Einschluß der Entwicklung hin zur Kompelxität zu sein.
Das bedeutet aber auch, dass die Formen des Anfangs nicht verschwinden müssen - Bakterien und Einzeller gibt es gleichwohl weiter (und zwar mengenmäßig im Vergleich zu komplexeren Formen wie beispielsweise Säugetieren in wesentlich größerer Anzahl) - und sie haben auch weiterhin ihren Platz, ihre Lebensgrundlage und Daseinsform.
Was übertragen auf die Musik beispielsweise bedeuten würde, dass heute alle Formen der Musik auch weiterhin bestehen - mit all ihren jeweiligen Grundlagen (bloße Selbstäußerung, reiner Spaß am Spielen, Kommunikation, Motorik, Gefühlsäußerungen). Im Verlauf der Entwicklung entstehen komplexere Formen der Musik, die jedoch die anderen nicht verdrängen, sondern ergänzen.
Verdrängt oder verschwinden oder an Bedeutung verlieren werden Formen der Musik, deren Grundlagen nicht mehr in dieser Form erhalten werden und deren Bedürfnisse auf andere Art erfüllt werden bzw. werden können. So gab es ja eine Hochzeit der Hausmusik als eine bestimmte Form innerhalb einer Gesellschaft, Musizieren und Bildung und Kultur als Praxis in der Familie auszuüben.
Sie wird nicht gänzlich verschwunden sein, aber hat doch an Bedeutung verloren.
Evolution bedeutet auch, dass die Entfaltung mit den geistigen Fähigkeiten einherschreitet - also der Fähigkeit, mittels Geist, Bildung, Weitergabe und Aufführung komplexere Kunstwerke zu schaffen. Für mich bleibt aber weiterhin der Grundbezug zu den vielfältigen Funktionen der Musik erhalten, die eben Bedürfnisse seitens der Zuhörer und der Musikmachenden erfüllt.
Die Ausdifferenzierung von Gefühlen, von geistigen Fähigkeiten und von den gesellschaftlichen Bedingungen (Verfügbarkeit von Musikinstrumenten, Möglichkeit des Lernens, Möglichkeiten des Publizierens, Möglichkeiten daraus eine Profession zu machen) gehen dabei Hand in Hand - und ergänzen sich eher gegenseitig als dass das eine das andere verdrängt.
Nimmt man das Gefühl, die Emotion, das Bedürfnis als Grundlage, dann ermöglichen die entwickelten geistigen Fähigkeiten und gesellschaftlichen Bedingungen die Schaffung komplexerer Musik, ohne dass die Emotion verdrängt wird - im Gegenteil: sie hat ganz andere Möglichkeiten, sich zu äußern.
Und so wie in der Natur aufgrund der Evolution eine gleichzeitige Vielfalt aller Formen zu finden sind, die alle ihre Grundlage haben, so findet sich heute in der Musik auch eine Gleichzeitigkeit der Vielfalt, in der die Schaffung komplexerer Werke auch ihren Platz hat - und in dieser Form tatsächlich erst recht spät entstehen konnte - weil dazu eben eine gewisse Entwicklung der emotionalen, geistigen, gesellschaftlichen und individuellen Fähigkeiten und Bedingungen gegeben sein müssen.
Aber dahinter bleibt immer Grundlage, dass Musik bestimmte Bedürfnisse erfüllt - sonst wären komplexe Musikwerke einfach nur ein Sinnbild dafür, was der Mensch geistig zu erschaffen in der Lage ist - aber darüber hinaus würde sie nicht geschaffen und gehört.
Ein Bach-Werk ist nicht schön, weil es komplex ist. Sondern es ist schön, weil es in seiner Komplexität unsere Emotion rührt. Und das deshalb, weil diese Emotion schon beim Schaffen wesentlicher Bestandteil war.