Nachdem ich dieses Video gesehen habe (Zufallsfund), muss ich als alter Musikhandwerker erstmal meinen Hut ziehen ob der Fähigkeiten dieser Dame und staune über das "Multitasking" und die souveräne Bedienung von Geräten, deren Namen ich noch nicht mal kenne.
Das ist wohl eine der "Realitäten" einer Musikproduktion 2020.
Unabhängig meines pers. Musikgeschmacks nötigt es mir Respekt ab, was mit aktueller Technik und Können heute Live gemacht werden kann.
Nur hat das mit klassischen Gitarren-Looper-Tretminen nichts zu tun, wo man die Instrumente nacheinander als Audio aufzeichnet und damit immer wieder dieselbe Mono- oder Stereo-Audiospur überspielt.
Das da Gezeigte ist elektronische Musik, wie sie schon seit Jahrzehnten möglich ist. Da wird meistens kein Audio geloopt, sondern mit Sequenzen gearbeitet.
Um es mal den ganz alten Recken zu erklären: Ein Sequencer ist ein Gerät, das eine oder mehrere "imaginäre Hände" bereitstellt, um damit elektronische Musikinstrumente zu spielen, nur daß es ohne physischen Kontakt mit der Tastatur oder anderen Bedienelementen der Instrumente vonstattengeht – und eben auch nur dann funktioniert, wenn das Instrument entweder einen Sequencer eingebaut oder einen entsprechenden Eingang hat. Was da abläuft, ist also kein aufgezeichnetes Audio, sondern das sind Spielbefehle, ähnlich wie Noten.
Der Unterschied zwischen Looper und Sequencer ist also: Ein Looper ist wie eine Tonbandaufnahme eines Klaviers. Ein Sequencer ist wie die Lochrolle in einem Auto-Piano.
Tangerine Dream haben z. B. 1974 mit einem analogen Sequencer in einem Moog-Modularsystem gearbeitet. Der hatte nur drei Spuren, also drei "Hände", und konnte auch nur jeweils bis zu zehn Noten nacheinander spielen, allerdings eben als sich wiederholende Figur, und die normalerweise auch alle gleich lang (außer wenn man eine Spur opferte, um damit das Tempo zu regeln). Echtzeiteingriff war schwierig, Sequenzen noch nicht speicherbar, aber man konnte mit Schaltern bestimmen, wo die Sequenz beginnen, wo sie enden und in welche Richtung sie laufen sollte, was lustige Figuren hervorbrachte.
Mit der herstellerübergreifend genormten digitalen Schnittstelle MIDI (die viele Gitarristen nur als Fernsteuerung für Rackeffekte kennen, aber darüber kann man theoretisch ganze Produktionen fahren, wenn man mit der miesen Bandbreite haushalten kann), die 1983 aufkam, mit den ersten entsprechend ausgestatteten digitalen Sequencern und letztlich mit dem Atari ST mit Cubase und/oder Notator drauf kam man schon näher an das, was die Dame da macht. Speicherbarkeit war gegeben, aber über nur eine einzige MIDI-Schnittstelle nur maximal 16 Spuren, und dann war da noch das Problem mit der Bandbreite. Außerdem konnte man noch nicht einfach mal so einzelne Sequenzen nach Belieben einfliegen, das kam frühestens in den späten 80ern mit den Akai MPCs auf, wenn man sich sowas leisten konnte. Und die ganzen Synthesizer brauchte man noch jeweils als Hardware-Geräte.
Was in dem Video zu sehen ist, ist noch ein ganzes Stück fortschrittlicher: Die Künstlerin hat unzählige Spuren zur Verfügung, die über Verbindungen mit extrem hoher Bandbreite unzählige "imaginäre", also virtuelle, nur als Software im Rechner vorliegende elektronische Instrumente ansteuern können. Sie kann jederzeit händisch beliebig Sequenzen dazu- und wieder wegschalten.
Das Gegenstück zu der ewigen Nostalgie (bei mir) alter Musikinstrumente (Hammond, Rhodes, Clavinet, echte A-Drums, Paula Marshalls etc.)
Auf dem technischen Stand von 1967 entspräche sie einer Dirigentin oder einer Kapellmeisterin, die unzählige Musiker an in dem Jahr erschienenen Moog-IIIc-Modularsynthesizern dirigiert – die alle mit einer Präzision im Mikrosekundenbereich spielen.
Noch deutlicher kann man übrigens erkennen, daß es kein gelooptes Audio ist, sondern Sequencer, die Synthesizer ansteuern, wenn während der laufenden Sequenzen am Sound rumgedreht wird – und sich dadurch klangliche Veränderungen ergeben, die mit externer Bearbeitung (EQ, Gitarrentretminen, Multieffekte) so nicht möglich wären. Oder wenn beliebige Sequenzen mitten beim Laufen mal eben geändert, hinzugefügt, wieder entfernt und wieder hinzugefügt werden – bei übereinandergeschichteten Loops kann man nichts mehr ändern.
Hier mal der direkte Vergleich anhand von "No Scrubs" von TLC.
Elijah Aaron hat es mittels Live-Looping weitgehend akustisch gecovert.
LOOK MUM NO COMPUTER hat es mittels eines vollelektronischen Geräteparks unter Verwendung mehrerer miteinander synchronisierter Sequencer (und übrigens immer noch komplett analoger Klangerzeuger) und mit ein paar handgespielten Parts, aber komplett ohne klassische Looper bearbeitet. Ältere Semester seien vorgewarnt: Es wird SEHR elektronisch.
Noch ein Beispiel: "Baby One More Time" von Britney Spears.
Hector Daniel Ramos hat es nur mit einer Gitarre und einem Looper eingespielt.
Und wieder LOOK MUM NO COMPUTER ohne Looper, aber mit teils spontan händisch eingespielten Sequenzen. Noch ein Zeichen dafür, daß da kein Looper am Werk ist: Er dreht am Ende das Tempo hoch. Erstens geht das bei Loopern normalerweise gar nicht. Zweitens ändert sich die Tonhöhe nicht. Drittens gibt es auch bei einer Vervielfachung des Tempos keine Artefakte.
Martman