Der Begriff "abstrakte Musik" trifft es übrigens besser als der Begriff "atonale Musik".
Das hat Sauter sehr gut dargestellt:
Ich habe den Eindruck, weder du noch Herr Sauter hat sich eigentlich gefragt, was das Wort "abstrakt" bedeutet. Mir will sich da beim besten Willen keine Verbindung zu: "das Neue als Wert für sich" oder "getrennt von ästhetischen Gesichtspunkten" einstellen. Abstraktion ist, vereinfacht gesagt, schlicht die Verallgemeinerung eines spezifischen Gegenstandes zu einer weniger spezifischen (und meist auf bestimmte Parameter fokussierten) Idee.
Abstraktion und Konkretion können nun durchaus Teil des kompositorischen Prozesses sein - oder eigentlich: Sind wohl beide immer seit jeher Teil des kompositorischen Prozesses. Komponisten (wie alle anderen Menschen) nehmen konkrete Dinge aus ihrer Umwelt wahr und abstrahieren davon gewisse, für sie interessante, Ideen. Dies ist schon mal die Grundvoraussetzung der menschlichen Wahrnehmung schlechthin, denn diese Abstraktion ist es, welche uns nicht nur einen unüberblickbaren Klumpen aus Sinneseindrücken als ganzes erleben lässt, sondern einzelne Aspekte dieses Klumpens als (auch sprachlich) abgegrenzte Objekte erkennen lässt. So können wir einen "Baum" sehen und uns an ihn erinnern, ohne uns jedes einzelne Blatt eingeprägt zu haben, die Textur seiner Rinde, der Boden auf dem er steht, etc.
Aus einer Vielzahl von solchen abstrakten Ideen, welche unsere Erfahrung, unser Wissen formen, schafft nun ein Komponist erneut ein mehr oder weniger
konkretes Musikstück, welches gewisse abstrakte musikalische Grundideen (der Form, der Harmonie, und so weiter) in eine ganz
spezifische, daher konkrete, Ausprägung bringt. Und dieses Produkt wird dann natürlich durch eine
spezifische Interpretation eines Musikers weiter konkretisiert.
Daher lässt sich schon einmal festhalten, dass jegliche Form der klingenden Musik erstens einmal ein konkretes Ereignis ist, zweitens aber bestimmte abstrakte Hintergründe hat (sei dies die Idee eines Hundegebells, sei dies eine Sonatenhauptsatzform, sei dies eine Zwölftonreihe).
Nun ist mir aber klar, dass der obige Gebrauch des Wortes "Abstrakt" wohl mehr auf die etwas verfremdete Verwendung angelehnt ist, welche aus der Malerei der Moderne stammt. Aber hier meint "abstrakt" eigentlich immer noch dasselbe: Abstrakte Malerei (wie sie Picasso etc. praktizierten) hat nichts mit einer Loslösung von ästhetischen Kriterien zu tun, noch bezeichnet sie prinzipiell
ungegenständliche Malerei. Die Abstraktion dieser Malerei ist genau was das Wort sagt: Von einer mehr oder weniger exakten gegenständlichen Malerei ausgehend, werden nun Stück für Stück einzelne spezifische Parameter beiseite gelassen, andere fokussiert (und natürlich und unvermeidlich: letztendlich wieder in eine konkrete Form gebracht). Wichtig dabei ist, das sich abstrakte Malerei stets noch auf die gegenständliche Abbildung
bezieht, wenn auch über den Umweg der Abstraktion.
Dabei sei natürlich auch angemerkt, dass dies keinesfalls eine Erfindung des 20. Jh. ist. Bereits die mittelalterliche Malerei veranschaulicht sehr schön, wie gewisse Parameter der gezeigten Dinge ausser Acht gelassen werden, um das dem Künstler wesentlich erscheinende stärker in den Vordergrund zu rücken.
Nun aber zur Musik: Es gibt nun einige seltsame Menschen, welche die abstrakte Malerei der Moderne für unästhetisch halten (das sei ihnen ja gewährt) und daraus für sich ableiten, den Terminus "abstrakt" ebenso für andere Kunstrichtungen zu verwenden, welche ihnen nicht zusagen. Aber leider passt das so gar nicht in die Musik...
Die Auflösung der Tonalität hat nun wirklich gar nichts mit einer Abstraktion zu tun. Wer etwas anderes behauptet, soll mir erst einmal erklären, welches tonale Konkretum nun eigentlich abstrahiert wurde...
Sauters Zitat ist geradezu lächerlich. Er redet von einer Trennung "von allen ästhetischen Gesichtspunkten" - wobei doch "ästhetische Gesichtspunkte" an sich schon der Inbegriff einer Abstraktion sind. Wenn schon, wäre eine Musik, welche "nur sich selbst genügt", dem Begriff des Konkreten viel näher als eine, welche aus einer jahrhundertelangen Tradition der Stilisierung (unserem "westlichen tonalen System") hervorgegangen ist.
Des weiteren ist es äusserst belustigend, wie Sauter vorgibt, die Gedankten sämtlicher Komponisten und deren Hörer lesen zu können. Woher weiss er denn, dass für alle diese Komponisten Ästhetik oder ein "schöner Klang" keine Rolle spielen? Woher weiss er, mit was diese Komponisten alle "befasst sind"? Woher weiss er "dass sie ihre Persönlichkeit ausdrücken" wollen, oder "Botschaften vermitteln" wollen? Und woher weiss er, dass es nicht viele Hörer gibt, die diese Musik tatsächlich
genissen?
Ich jedenfalls, erlebe ganz anderes von mir selbst und meinem Bekanntenkreis...