anonymusus
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Ich finde das völlig in Ordnung, wenn ein Engländer Dur mit "Major" bezeichnet, schießlich heißt das so. Wenn's ein Deutscher macht, ist das meist entweder ein alberner und überflüssiger Anglizismus oder der heutigen Globalisierung geschuldet.
Und warum um alles in der Welt hätte beispielsweise Francis Poulenc seine "Messe en sol majeur" stattdessen "Messe in G-Dur" nennen sollen? Schließlich war er Franzose, warum darf er dann nicht seine Muttersprache benutzen?
Ich finde das auch völlig in Ordnung, wenn ein Angelsachse "major" sagt, warum nicht? Ich schrieb dagegen: "wenn HIER jemand ....." - kleiner Unterschied.
1. Nicht nur beim Generalbass stehen noch Noten (die Bass-Stimme), auch bei einem Realbook-Standard steht die Melodie in Form von Noten, was dagegen beim Generalbass nicht sein muss.Meinst Du mit "klassischer Bezifferung" den Generalbaß? - da stehen aber neben den Zahlenkürzeln noch Noten dabei (darf man ja auch nicht vergessen) und außerdem hat die Generalbaß-Schreibweise durchaus ihre Grenzen: was in der harmonisch eher einfachen barocken Musik noch völlig problemlos war, ließ sich dann später nicht mehr sinnvoll anwenden.
Und auch zum kunstgerechten Generalbaßspiel muß man viele Konventionen kennen - da sehe ich keinen prinzipiellen Unterschied zu den Jazz-Akkorden.
Ich persönlich kenne (abgesehen vom BC) keinen einzigen Fall aus der "klassischen Musik", wo man nach wie auch immer gearteten Akkordsymbolen spielen muß, die bleiben doch eigentlich immer nur der harmonischen Analyse vorbehalten, oder sehe ich das falsch? Will meinen: ich sehe keinerlei Praxisbezug der klassischen Harmoniebezeichnungen.
Und zum Abschluß noch eine kleine Provokation: Das "bewährte und logische klassische System" hat sich meiner Ansicht nach praktischen Gesichtspunkten in keinster Weise bewährt, denn erfahrungsgemäß sind die wenigsten rein klassisch ausgebildeten Musiker aus dem Laienbereich in der Lage, ohne exakt vorgegebene Noten überhaupt etwas spielen zu können. Und sei es das einfachste Kinderlied.
Bei Profis mag das anders sein, doch auch hier bemerke ich eine gewisse Unwilligkeit, auch nur das Geringste spontan und frei zu spielen.
Wie kommt das?
2. Die barocke Musik ist harmonisch sicher nicht so einfach, wie Du sie hier darstellst. Durch ihre Polyphonie ergeben sich viele Reibungen, Durchgänge etc., die manchmal schwer zu lesen sind. Du unterschätzt hier ganz offensichtlich die harmonische Wirkung einer echten Polyphonie, weil Du sie aus dem Jazz nicht kennst. Aber gut, lassen wir das.
3. Harmonien durch Bezifferung, bzw. klassische Harmonisierungskürzel darzustellen (d.h. auf der Stufentheorie basierend mit Stufenangaben in Ziffern), ist weit verbreiteter als Du denkst. Ich habe einmal sämtliche Rezitative einer Rossini Oper nur damit eingespielt. Oder in der Kirchenmusik: die Kirchenlieder werden meistens wie beim Realbook nur aus dem Gesangbuch mit eigenen Harmonieangaben frei begleitet etc.- etc.
Überall dort hat sich die klassische Stufentheorie mit Bezifferung bewährt und all das kann harmonisch ganz weit offen nach oben sein. Jede Form von "harmonischem Überlegengeitsgefühl" ist hier fehl am Platz.
4. Dein letzter Punkt führt mal wieder zu diesem Lagerdenken und diesen Vorurteilen, die mich mittlerweile ankotzen - entschuldige vielmals meine Wortwahl. Der Grundgedanke der Klassik ist nun einmal, geniale Meisterwerke klassischer Komponisten, d.h. einen Extrakt aus etwa 600 Jahrhunderten der menschlichen Kulturgeschichte, so nahe an den Intentionen des Komponisten wie möglich zu spielen und dabei gleichzeitig seine eigene Interpretation mit einzubringen. Das führt zu anderen Schwerpunkten und einer deutlich präziseren Reproduktionsfähigkeit.
Ich könnte Dir mit gleicher Münze heimzahlen, indem ich sagen würde, dass die Themen von Bird und Dizzy bei dem legendären Tokyo Konzert derartig hingepfuscht wurden, dass mir die Ohren klingelten. Aber das war eben für sie nebensächlich, im Mittelpunkt stand die Improvisation. Aber zurück zum Ernst:
Wenn es um Literaturspiel geht, wird wohl jeder klassische Schüler bei gleicher Eignung und bei gleichem Übungseifer jeden Schüler der Jazz- oder Rockfraktion in Bezug auf Genauigkeit und saubere Technik hinter sich lassen. Genau umgekehrt wird es in puncto Improvisieren und freies Spiel aussehen. Warum also Birnen mit Äpfeln vergleichen? Du verlangst von einem Klassiker eine Jazz-typische Disziplin, also erfüll Du auch bitte eine klassische.
Und zum Schluss eine nicht sehr schmeichelhafte Feststellung: Früher waren die Fronten zwischen den beiden "Blöcken" sehr verhärtet. Ich durfte z.B. während meines Studiums noch nicht erzählen, dass ich auch in anderen Genres tätig war. Heute sehe ich bei den Klassikern deutlich mehr Offenheit den anderen Sparten gegenüber als bei den Jazzern. Es gibt mittlerweile schon einige Klassiker, die wie ich in beiden Welten tätig sind. Orchestermusiker gründen nur aus Spaß eine Big Band, Opernsänger/innen singen Gospel oder amerikanische Traditionals etc.
Ich habe auf den Ludwigsburger Schlossfestspielen einmal eine Oper dirigiert und als wir alle hinterher aus dem Bühneneingang kamen, hörten wir eine Big Band open air auf dem Marktplatz. Wir gingen tatsächlich alle begeistert hin und hörten uns das an und nachdem der Busfahrer uns endlich in das Hotel gefahren hatte, machten wir dort im Foyer - wo der Flügel stand - eine große Jam Session mit Standards etc.
Aber all das passt sicher nicht in Dein Vorurteilsbild.