Das bringt mich auf die Idee, mein Gedankenspiel mal umzukehren:
Welchen Einfluss hätte es auf die nachfolgenden Pianisten gehabt, wenn es schon zu den Zeiten von Mozart, Beethoven, Chopin, Brahms, die alle anerkanntermaßen hervorragende Pianisten und der Überlieferung nach sehr gute Interpreten ihrer eigenen Werke waren, eine gute Aufnahmetechnik gegeben hätte, die ihre Interpretation für alle Zeiten festgehalten hätte?
Dass es von ihnen ´nur´ die Noten gibt, hat ja immerhin die faszinierende Konsequenz, dass man sich wirklich um eine Interpretation bemühen und sich wirklich in die Materie einarbeiten, sich eigene Gedanken machen muss, will man zu einem vorzeigbaren Ziel kommen. Deswegen spielten und spielen die Pianisten diese Werke nicht alle gleich, ganz und gar nicht, sondern nutzen den Interpretationsspielraum, den diese Literatur bietet.
Ja, genau. Die Tatsache, dass von Komponisten vor ~1880 ausschließlich Abstraktionen ihrer Ideen (also Noten) und keine Ausführungen (also Aufnahmen) existieren, begründet erst den riesigen Interpretationsspielraum. Hätten wir immer Aufnahmen gehabt, wäre nie ein Interpretationsspielraum entstanden, der eine so reiche musikalische Interpretationskultur ermöglicht hat. Die Aufteilung zwischen Komponist und Interpret wäre übrigens auch nicht in der heutigen Form existent - und das wäre ein riesiger Verlust. Denn Komponieren und Interpretieren ist ja, wenn man es ernst meint, jeweils eine Lebensaufgabe. Macht man beides, bedeutet das Abstriche an der maximalen Tiefe und Durchdringung der Tätigkeit.
Ich habe mit genug Komponisten zu tun gehabt, die lausige Interpreten ihrer eigenen Werke waren - aus zwei Gründen: erstens haben sie die Instrumente nicht so beherrscht wie jemand, der nur das macht und zweitens waren sie verständlicherweise zu tief im eigenen Werk drin, um eine produktive interpretatorische Distanz dazu aufzubauen. Viele Werke gewinnen dadurch, wenn jemand anders als der Komponist sie spielt, weil der Zuhörer vom analytischen und emotionalen neuen Zugang eines Interpreten zum Werk profitiert.
Hätten wir von Mozart, Beethoven, Chopin, Brahms Originalaufnahmen, hätten wir eine andere Musikkultur, vielleicht besser, vielleicht schlechter. Ich glaube: schlechter, denn die alten Aufnahmen würden höchstwahrscheinlich unter schlechten Aufnahmebedingungen sowie den beiden eben genannten Defiziten leiden, und gleichzeitig wäre es ein Sakrileg, eigene bessere Aufnahmen zu versuchen.
Aber ich gebe gerne eine Voreingenommenheit zu, ich halte grundsätzlich nicht allzu viel von Musikaufnahmen. Ich halte extrem viel vom Musikmachen. Aber Aufnahmen bringen Qualitätsvergleiche, kapitalistische Produktionsmechanismen, unerreichbar hohe Ansprüche für musikalische Anfänger und stilistische Anpassung und ästhetische Nivellierung mit sich. Die Vorteile von Aufnahmen sind mir natürlich klar, und hier geht es ja um eine Aufnahme von 1975 - aber mich persönlich interessiert immer zuerst das Konzept einer Musik und erst danach dessen Ausführung. Wenn das Konzept gut ist, verträgt es auch eine andere Ausführung (oder gewinnt dadurch sogar). Ist das Konzept schlecht, kann auch eine gute Ausführung nix mehr retten.
Bei einem Improvisationskonzert wie dem Köln Concert kann man das natürlich nicht immer klar trennen, weswegen ein wörtliches Nachspielen kaum Sinn macht. Wenn man das Konzept von der Ausführung trennt (also z.B. Motive/Strukturen von ihrer Verarbeitung), könnte man aus den Strukturen was neues improvisieren. Das würde in meinen Ohren Sinn ergeben.