Nun gut, der X-50 will nicht primär ein Stagepiano sein, sondern für wenig Geld eine große Bandbreite an Natur- und Elektroniksounds bieten und dabei einsteigerfreundlich sein. Und es muß schon irgendwoher rühren, daß der X-50 so viel billiger ist als eine TR88, eine M3 oder gar eine kaum unter 8000 Euro zu habende OASYS.
Wer vornehmlich nach Klaviersounds sucht, dem ist in der Tat mit entsprechend spezialisierten Geräten eher geholfen. Und auch wenn heutzutage die großen Workstations etliche Megabyte ihres Samplevorrats (oder des Samplevorrats einer Erweiterungskarte) für ein einziges Super-Klavier aufwenden, so wird der primär Klavierklänge Suchende eben eher bei Digital-/Stagepianos fündig. Diese fungieren eben in erster Linie als Ersatz für ein Klavier, somit wird besonderes Augenmerk aufs Klavier gelegt. Digital-/Stagepianos werden entsprechend auch vornehmlich nach ihrem Klaviersound beurteilt, von Kunden gleichermaßen wie von der Fachpresse, was noch ein Grund ist, sich bei der Entwicklung besonders auf diese zu konzentrieren.
Dazu kommt dann auch noch, daß kaum ein Naturinstrument so aufwendig zu sampeln ist wie ein Klavier. Zunächst einmal hat man idealerweise Samples von jeder einzelnen Taste. Das sind schon mal 88. Dann will man auch hören, wie das Klavier je nach Anschlagstärke nicht nur lauter und leiser wird, sondern wie sich der Klang als Ganzes verändert. Aufmerksame Ohren erkennen den Unterschied zwischen Samples verschiedener Anschlagstärken und demselben, verschieden gefilterten Sample. Unter vier Velocity-Stufen geht bei professionellen Samples gar nichts. Der MIDI-Standard unterstützt 127 Velocity-Stufen, so weit sind wir noch nicht, aber sechs oder acht gehören heute zum guten Ton. Mal 88, wohlgemerkt. Geloopt werden darf das Sample auch nicht, also muß jedes Sample (Stereosample natürlich) einige Sekunden lang sein. Dann gibt's noch separate Samples mit gedrücktem Dämpferpedal, sprich, wieder einmal darf der ganze Samplevorrat verdoppelt werden. Heutzutage wird dann auch noch Wert darauf gelegt, daß der Klang der Mechanik beim Loslassen der Taste zu hören ist. Und so weiter und so fort.
Diese extremen High-End-Klavierprogramme werden entsprechend natürlich nur in High-End-Digitalpianos und High-End-Workstations verbaut, wenn sie denn nicht schon so monströs ausfallen, daß sie auf mindestens einem Dutzend DVD-ROMs für den Computer verkauft werden müssen. Je weiter man in der Preisklasse absteigt, desto mehr Features werden gestrichen. Nur noch drei oder vier Velocity-Layers, keine Samples der Mechanik mehr, Samplelänge wird gestutzt, statt dessen wird das Sample geloopt und von einer Hüllkurve ausgefadet, und irgendwann wird auch nicht mehr jeder einzelnen Taste ein eigener Samplesatz zugewiesen.
Wenn du kannst, erniecaster, empfehle ich dir, mit denselbem Kopfhörer, mit dem du den X-50 getestet hast, und außerdem über Lautsprecher nach Möglichkeit die folgenden Produkte anzuhören:
- Kawai DP1 (12.000 Euro schwerer Monster-Digitalflügel mit schwindelerregenden Features, kann übrigens nur Klavierklänge), von dem ich nicht glaube, daß man ihn irgendwo antesten kann, aber man weiß ja nie
- Synthogy Ivory (Über-Klaviersoftware mit einem Samplevorrat von mal eben 50 Gigabyte), über High-End-Audiohardware natürlich
- falls diese nicht erhältlich sind, einige beim Händler deines Vertrauens zur Verfügung gestellte Stagepianos von € 2000 aufwärts (Yamaha, Roland, Kawai, Kurzweil...) und/oder andere Software wie z. B. Native Instruments Akoustik Piano
Vielleicht liegt es wirklich am Kopfhörer. Aber von einem 600-Euro-Einsteiger-Rompler kann man keinen gleichermaßen perfekten Klaviersound erwarten wie von einem über 10.000 Euro teuren spezialisierten Instrument, das seine exorbitanten Samplemengen in Echtzeit von einer internen Festplatte streamen muß, weil ein ROM zu klein (!) und zu langsam wäre und kein bezahlbarer RAM der Welt derart viele Daten aufnimmt, einer Software, für die man im Prinzip einen eigenen Hochleistungsrechner braucht, auf dem sonst nichts läuft, oder einem realen, perfekt gestimmten Edel-Konzertflügel von beispielsweise Steinway & Sons.
Martman