Hallo Guter, (was für ein netter Nick!)
nachdem die Anderen hier deine klar formulierten Fragen schon kompetent und praxisdienlich beantwortet haben, bleibt nur noch wenig zu sagen.
Nur soviel: es sieht deinem Eingangspost nach zunächst so aus, als würdest du hauptsächlich modernen Mainstream-Jazz ansteuern.
Die Aebersold-Sammlungen beinhalten sehr viel Nützliches an praxisgerecht aufbereitetem Rezeptewissen, aber viel wichtiger erscheint mir die Tatsache, daß die dort ausgearbeiteten Regeln letztlich ein Extrakt aus konkreter Musik sind, und Jahrzehnte bis Jahrhunderte an harmonikalischem Wissen darstellen, angefangen etwa mit J.S. Bachs "Wohltemperiertem Klavier" bis in die heutige Ära des modalen Jazz und mikrotonaler Musik.
Diesen Gedanken kannst du dir ja zusätzlich noch mitnehmen, als Metagrundlage für deine eigene Einarbeitung in die harmonischen Funktionen, Skalen, Voicings, Rhythmikmuster und Phrasierungen, Solo- und Begleitstile usw., also alles, was mit der Zeit bei dir so an Lernaufgaben auftauchen wird - denn "ein Bißchen in Richtung Jazzimprovisation" gibt es nicht.
Geflügeltes Motto: "entweder ganz, oder gar nicht." Nur so entsteht der langfristige Spaß!
Was dein klar erkennbares Interesse an dem durch die westliche Diatonik u. Chromatik verfügbaren Skalenmaterial - und wie man dieses im Jazz "gehörrichtig" anwendet - betrifft: der Ursprung selbst der mittelalterlichen Kirchentonarten liegt mindestens 2500 Jahre in der Vergangenheit. Da die ersten bekannten Instrumente nach derzeitigem musikhistorischem Erkenntnisstand verschiedene Rhythmusinstrumente, Lyra, Monochorde, Flöten und Hörner waren, war das Grundthema, auf das damalige Musiker ganz sicher als allererstes stießen, bestimmte
erlebbare Charakteristiken von Saitenteilungen oder Flötenlöcherabständen (Intervallen) bei scheinbar absoluten Tonhöhen, die sie im Lauf der weiteren Entwicklung dann in gebrochene Akkorde bzw. jederzeit verfügbare, für die damalige Kultur gültige "Konventional"-Skalen umsetzten.
Und alles mußte singbar sein. Diese Skalen wurden dann wiederum bis in die heutige Zeit tradiert und von diatonisch nach chromatisch erweitert, bis in die verschiedenen Epochen des Jazz und der modernen "E-Musik", wo schon seit Jahrzehnten Vierteltöne und noch geringere Tonabstände verwendet werden. Die heutige Trennung "Skala vs. Akkord" ist ein relativ moderne Sache - einem antiken Musiker hättest du höchstwahrscheinlich kaum schlüssig erklären können, daß da ein harmonietechnischer Unterschied gemacht werden kann, er hätte wahrscheinlich gemeint, daß das alles sowieso das Gleiche sei, und dich dann wahrscheinlich sehr schnell zu einer Art Barbar erklärt.
Kurz gesagt: du hast IMMER nur wenige konsonante, aber viele mehr oder weniger dissonante Intervallabstände, die du in bestimmter Weise aufeinander schichtest (gr. u. kl. Terzen, Quarten, Quinten, gr. u kl. Sexten, gr. u . kl. Septimen), und darüber kannst du mit wenigen Ausnahmen immer mindestens den gleichen Tonvorrat spielen, aus dem auch schon die Akkorde bestehen.
Das ist die simple Regel. Hier stehen allerdings über Jahrhunderte hinweg erlernte (bzw. konditionierte) Hör-Erwartungen im selben Kontext, wie das, was das Ohr von sich aus "will" oder "gerade noch so duldet". Heutzutage werden in den verschiedenen Musikrichtungen bis zu dreißig verschiedene Skalen alleine aus dem chromatischen Tonmaterial verwendet, und die solltest du mit der Zeit alle in- und auswendig können.
Das ist die schwierigere Regel.
Hier könntest du auch mal als eigene, regelmäßige und ernsthafte Gehörübung versuchen, nämlich: jeden dir bekannten Akkord zunächst in Mittellage so lange wie möglich liegenzulassen (Klavier, Orgelsound, Synthpad), um dessen Gesamtcharakteristik in dein inneres Vermögen - Ton- und Klangfarben auch ohne (!) Instrument zu hören und zu erinnern - zu absorbieren. Absorbiere das, was du hörst, mit ganzer Aufmerksamkeit. So erwirbst du ein erweitertes Tongedächtnis. Je öfter du genau das machst, desto leichter wird es dir irgendwann fallen, intuitiv richtig zu HÖREN, welche Töne auf eine Intervallschichtung (= Akkord) genau NICHT passen, weswegen man letztere im Jazz auch konsequent "
avoid notes" nennt (das kommt letztlich aus der klassischen Harmonielehre, wo es bekanntlich vor hochwohllöblichen Verboten und Tonsatzkonventionen nur so wimmelt).
Diese "zu-vermeiden-Töne" sind all die Töne, die über einen bestimmten Akkord nicht etwa bloß "irgendwie zu dissonant" klingen, sondern die völlig falsch, völlig unzusammenhängend und "
completely out of space" klingen. Hast du genau das eine Weile lang gemacht, brauchst du keine "das-darf-man,-das-darf-man-nicht" Rezepte und Skalen-Hausnummern aus Büchern mehr auswendig lernen, sondern du weißt dann automatisch, was geht und was nicht.
Der Witz ist: beachte/vermeide "avoid notes", aber alle anderen Töne sind somit zunächst erlaubt! Wobei man aber je nach gewünschtem Gesamtklanggeschehen nicht alle "prinzipiell erlaubten" verwenden muß, da nicht alles immer angemessen in den mitunter komplexen Spannungsverlauf paßt. Die gern gehörte Regel: "eine passende Skala (oder auch zwei) pro Akkord" stimmt jedenfalls so nicht, und schränkt den möglichen Tonvorrat mitunter unnötig ein. Es ist also besser, bei der Hörerfahrung selbst anzusetzen, und sich dann lieber nachträglich im Lehrbuch die theoretische Bestätigung für das bewußt-strukturiert Gehörte zu holen.
Stufe 1. Lehrbuch: man bekommt einen Hinweis auf ein Phänomen
Stufe 2. Instrument/Gehör: man untersucht alles Mögliche, das da passiert und strukturiert selbst
Stufe 3: Lehrbuch: endlich kapiert man, was der Kerl (oder die Kerlin) eigentlich meinte...
Die einzige echte Autorität sind die Musik und dein Gehör, nicht irgendein noch so gutes Jazz-Tutorial, obwohl alle diese Tutorials natürlich einen bisweilen sehr hohen, praktischen Wert haben können.
Nur geht eben dein eigenes Gehörempfinden und Klangfarbengedächtnis vor. Was empfindest du, sobald du einen bestimmten Akkord spielst? Welche Assoziationen bekommst du dabei? Dann erst kommen die allgemein bekannten Regeln, und daß du diese im Lauf der Jahre möglichst alle intus haben solltest. Es geht um deine eigene Hörerfahrung, wie du dazu stehst, und nur dann findest du auch deinen eigenen Ausdruck in allem, was schon fertig verfügbar ist.
Der Levine ist ein ausgezeichnetes Arbeitsbuch, ich kann dir allerdings auch noch ein weiteres Buch empfehlen, es ist sehr praxisorientiert und geht - bei etwas anderer Arbeitsperspektive - ebenfalls schön in die Tiefe:
http://www.schott-musik.de/shop/buecher/musikbuecher_musikliteratur/show,91932,h.html
Zusätzlich kannst du auch noch eine andere Übung machen: irgendeine Melodie über einen Pedalton spielen, und stur das Tonzentrum (Pedalton) festhalten. Wo entstehen schmerzhafte Spannungen, wo wird es eng, was paßt gar nicht?
Und: dasselbe auch über einen gehaltenen Tritonus (drei Akkordtöne in 6 Halbtönen Abstand) zur Begleitung, dazu wieder deine improvisierte Melodie oder Skala, Grundton des Akkordes entweder in der Tonart oder außerhalb. Was entsteht, was fehlt, wie fühlt es sich für dich an?
Viel Erfolg und Spaß!