Wenn ich als Aufgabe gebe, mit 4 einfachen Tönen über eine einfache Akkordfolge zu improvisieren, dann ernte ich gelegentlich ein: "Nein, bitte nicht! Das kann ich nicht!"
Und deshalb meine Frage/Zweifel, ob man diese Art zu improvisieren wirklich erlernen kann.
Ich weiß, dass es diese Haltung bzw. Überzeugung gibt und dass sie gerade bei Leuten sehr verbreitet zu sein scheint, die gelernt haben, vom Blatt zu spielen.
Gleichzeitig macht sie mich fassungslos, weil sie die Gegebenheiten und die Fähigkeiten, zu improvisieren komplett auf den Kopf stellt.
In wahrer Wirklichkeit ist es nämlich so, dass Improvisation das erste ist, was wir lernen - es ist die erste Strategie überhaupt, mit der wir lernen.
Wenn ein Kind laufen lernt, dann besucht es keinen Kurs und bekommt nicht akademisch beigebracht, wie man "richtig" geht. Ein Kind schaut sich um und beginnt, auszuprobieren. Es experimentiert und improvisiert mit den Mitteln, die es hat. Und macht und macht und macht und macht - und irgendwann klappt es. Mit den Zwischenschritten des Rutschens, Gleitens, des Sich-Aufrichtens und irgendwo Festhaltens. Ein Kind läßt sich nicht dadurch entmutigen, dass es immer wieder hinfällt. Es macht weiter, bis es zufrieden ist.
Das gleiche passiert mit der Sprache: es hört, es brabbelt, es erzeugt Laute, orientiert sich an dem, was es um sich herum hört. Und aus all dem wird irgendwann etwas, was andere verstehen. Das gleiche mit Bobbycart fahren, Roller fahren, Fahrrad fahren and so on. Das gleiche mit Malen.
Die ganze Weltaneignung des Kindes basiert auf Schauen, Nachahmen und mit eigenen Mitteln so lange rummachen, bis irgend etwas dabei herauskommt, mit dem man zufrieden ist.
Wenn irgendjemand also sagt, dass er oder sie nicht improvisieren kann, dann ist das eine komplette Ignoranz dessen, was es über Jahre und Jahre
faktisch gemacht hat. Der Satz "Ich kann nicht improvisieren" ist schlichtweg nicht wahr - und gleichwohl wird er ja ernsthaft ausgesprochen und geglaubt und ist als solches eine Tatsache - und ein erstzunehmendes Hindernis beim Improvisieren.
Von daher macht es Sinn, sich darüber Gedanken zu machen, was man mittlerweile unter Lernen versteht oder zu verstehen gelernt hat. Offensichtlich eine andere Art zu lernen. Die natürlich ihre Berechtigung hat - aber eben nicht das einzige Mittel oder die einzige Herangehensweise an Lernen ist. Lernforscher sind sich klar darüber, dass es ganz verschiedene Arten zu lernen gibt und dass das völlig okay ist.
Was ist also das Besondere am "Lernen durch Improvisation"?
Erstens das Machen. Improvisieren lernt man dadurch, dass man es macht. Genau wie man es als Kind beim Laufen lernen, Sprechen lernen, Malen lernen macht. Aktive Beobachtung, um einen Eindruck davon zu bekommen, was da von statten geht und wo das Ziel liegen könnte. Nachahmen. Über die Nachahmung mit den je eigenen Mitteln - vor allem dem eigenen Körper und dessen Beherrschung durch Üben. Wobei eben irgendwann die eigene Bewegung wird - die eben genau das ist: das eigene Laufen, das eigene Sprechen, das eigene Malen, das eigene Musizieren. Kein Kind läuft, spricht, malt, musiziert genau gleich wie ein anderes Kind - bei allen Kindern gibt es persönliche Eigenarten, die eben über diese Art des Lernen und das Improvisieren geschehen.
Folgende Dinge sind über das bereits Gesagte dabei förderlich:
- Man vertraut auf das eigene Gespür, den eigenen Weg, die eigenen Mittel, die eigenen Fähigkeiten, den Weg und den Willen zur Selbstermächtigung.
- Man ahmt viel nach. Man saugt aus der Umgebung auf. Man achtet auf Details. Man läßt sich inspirieren.
- Man macht und macht und macht. Einfach machen ist die Devise.
- Dabei nutzt man alles, was man zur Verfügung hat.
Das ist dann tatsächlich etwas, das mit Lernen der anderen Art zu tun hat: Die Begleitungen, die @McCoy oben gelistet haben, bilden, nachdem sie geübt wurden, einen Fundus, den man für die Improvisation zur Verfügung hat. Je größer der Fundus ist, desto besser die Basis für die eigene Improvisation. Das entspricht in etwa den Vokabeln für eine Sprache: je mehr Vokabeln man zur Verfügung hat, desto reichhaltiger die Möglichkeiten des eigenen Sprechens.
- Man wendet dieses "Vokabular" frei an (siehe "Machen") und zwar intuitiv.
Intuition ist die Fähigkeit sich seiner Mittel vorbewußt zu bedienen, also nicht angeleitet und verstandesgeleitet, sondern eben so, wie es sich aus sich heraus ergibt. Die Bezeichnung des gelungenen intuitiven Gebrauchs nennt man übrigens "Flow". Flow ist ein physisch nachweisbarer Zustand des Geistes, in dem es fließt und man ein Teil dieses Flusses ist. Man gibt sich hin. Damit ist das Improvisieren mit dem Meditieren vergleichbar - und beide Geisteszustände sind sich, auch physisch, sehr ähnlich.
- Dieses "Sich Hingeben" kann man auch so ausdrücken, dass man beim Improvisieren dem Prozess vertraut.
Die Prozessorientiertheit ist elementar. Man begibt sich in einen Prozess des Improvisierens mittels Intuition und es ist völlig ergebnisoffen, was dabei herauskommt. Mal hört es sich gut an, mal nicht, oftmals liegt es im Bereich von "ganz okay mit einigen tollen Stellen". Das unterscheidet sich fundamental von einer Zielorientiertheit. Bei einer Zielorientiertheit habe ich ein definitives Ziel/Ergebnis. Die Mittel ordnen sich dem unter. Das ist das, @Bjoerni was Du mit dem "Werkzeugbeispiel" und dem Hobel 1, 2 und 3 meinst. Das passt aber nicht auf Improvisation, das passt nur, wenn Du einen Schrank vor Augen hast und den genau so bauen willst, wie er auf der Zeichnung ist. Bei einer Improvisation weißt Du nicht, was dabei rauskommt. Du arbeitest nicht auf ein definiertes Endziel hin. Du begibst Dich in einen Prozeß - und was immer dabei herauskommt, ist vorher nicht absehbar. Noch nicht einmal von Meistern der Improvisation wie etwa Keith Jarrett. Ein zweites improvisiertes Köln Konzert wird es nicht geben. Jedes improvisiertes Konzert mit den gleichen "Grundpatterns" sieht anders aus, hört sich anders an, wird anders. Sonst wäre es keine Improvisation.
Das ist jetzt recht umfangreich geworden - aber mir lag daran, aufzuzeigen, dass wir als Menschen sozusagen improvisierend auf die Welt kommen und dass das unsere erste Strategie ist, der Welt überhaupt entgegenzutreten und zu lernen. In dem Sinne muss man nicht lernen, zu improvisieren - man sollte sich allerdings daran erinnern, wie es war, vor allem wenn man es "verlernt" hat, zu improvisieren.
Der sattsam bekannte Spruch, dass der Weg das Ziel ist, ist grundlegend für das Improvisieren.
Der Prozess ist entscheidend und damit das Machen und das Ausprobieren. Damit unterscheidet es sich von anderen Arten zu lernen und Dinge zu bewerkstelligen (Hobel-Metapher).
Das verweist auch darauf, dass die grundlegende Aufmerksamkeit darauf liegt,
auf diesen Prozess neugierig zu sein und ihn selbst als ungeheure Erfahrung und Bereicherung zu betrachten - und darauf zu achten, dass man Spaß dabei hat. Eine innere Haltung, die den ganzen jahrelangen Weg der Improvisation, des Machens und Übens als steinigen Weg betrachtet, als Übel eines Überganges, den man halt in Kauf nehmen muss oder als bittere Medizin, die halt zu schlucken ist, wird nur ein Ergebnis haben: dass man es sich selbst deutlich schwerer macht als nötig und dass die Gefahr steigt, dass man verständlicherweise über kurz oder lang dran gibt.
Man hört nicht auf zu lernen - und deshalb sollte Lernen und Improvisieren Spaß machen. Und Spaß ist etwas, wofür man selbst sorgen kann.
Herzliche Grüße
x-Riff