Noch eine Beobachtung zur Saitenlage: Sowohl bei meiner Gitarrenlaute als auch bei meiner Renaissancelaute – einer ‚echten’ Laute, Kopie einer Laute aus dem Jahre 1602 - beobachte ich, dass Hals- und Deckenebene nicht zusammenfallen, sondern leicht zueinander geneigt sind. Das heißt, dass der Abstand der Saiten zu Hals bzw. Decke in der Mitte, also am 12. Bund, am größten ist und zu den Rändern - Sattel und Steg - hin abnimmt. Da ich nicht annehme, dass dies zumindest im Fall meiner Renaissancelaute das Resultat eines Pfusches ist - sie stammt von einem sehr guten Luthier mit damals, zum Zeitpunkt der Anschaffung, über 30 Jahren Berufserfahrung - muss es wohl eine gewisse bautechnische Begründung dafür geben. Der Luthier ist momentan nicht erreichbar, also muss ich selbst denken, und ich denke mir das so:
Die Tonschwingung wird, wie wir wissen, von der Saite auf die Decke übertragen: Von jedem Punkt der schwingenden Saite breitet sich die Schwingungsenergie kreisförmig aus, trifft auf die Decke und versetzt sie in Schwingung. Da die Amplitude einer Schwingung in einem Medium exponentiell abnimmt, wird die Stärke der übertragenen Energie vom Abstand des Punktes zur Decke bestimmt sein. Das alles aber ist hochgradig dynamisch: der Abstand des Punktes zur Decke verändert sich ständig wegen der Sinusnatur der Saitenschwingung, die Schwingung breitet sich quer zur Decke aus und trifft daher in verschiedenen Abständen zeitversetzt und in verschiedener Abschwächung auf die Decke - so erklärt sich übrigens das Anschwellen des Tons kurz nach dem Anschlag - alles in allem: ein halbwegs exaktes mathematisches Modell wäre eine gute Arbeit für einen theoretischen Physiker und führt wahrscheinlich auf eine partielle Differentialgleichung, die nur mit viel Rechnerunterstützung numerisch gelöst werden kann.
Die Alten, die nicht viel von Physik und überhaupt nichts von Infinitesimalrechnung wussten, müssen sich dieses Problem - so denke ich mir - mit ein wenig Hausverstand gelöst haben - was oft viel mehr wert ist. Der alte Luthier zur Zeit John Dowlands wird sich das so gedacht haben: Die Lautstärke wird umso größer sein, je näher die schwingende Saite an der Decke, je kleiner also die Fläche zwischen Saite und Decke ist.
Sind nun Hals und Decke exakt in einer Ebene, so ist diese Fläche zwischen Sattel, Saite Steg und Decke annähernd ein rechtwinkeliges Dreieck, die Fläche zwischen 12. Bund, Saite Steg und Decke also ein abgeschnittenes Dreieck - ein Trapez. Steht die Saite in Höhe h vom 12. Bund ab, so muss sie (Strahlensatz!) am Steg 2h über der Decke liegen - die Strecke vom 9. bis zum 12. Bund, bei Lauten schon auf der Decke, ist hier zu vernachlässigen, denn darunter liegt ja ein solider Holzklotz, und die Decke darüber schwingt daher eh kaum.
Ist nun l die Mensurlänge, so errechnet sich diese Fläche zu 3hl/4.
Wenn aber andrerseits Hals und Decke nicht in einem gestreckten Winkel zueinander stehen, sondern gegeneinander leicht geknickt sind, so ist diese Fläche annähernd ein rechtwinkeliges Dreieck mit Fläche hl/4, also nur ein Drittel der Trapezfläche!
Das heißt natürlich nicht, dass der Ton nun dreimal so laut sein wird, da ja bekanntlich die Empfindung der Lautstärke mit dem Logarithmus der Intensität wächst – das wusste der alte Luthier allerdings nicht - aber immerhin ein wenig lauter.
Der langen Rede kurzer Sinn: Ein leichter Knick zwischen Hals und Decke – und damit eine hohe Saitenlage an den höheren Bünden, die in der Lautenpraxis ohnehin so gut wie nie bespielt werden - ist an sich nicht schlimm und könnte durchaus beabsichtigt sein. Das würde ich zu bedenken geben, wenn jemand bei zu hoher Saitenlage vorschnell an eine – ziemlich aufwendige - Neueinrichtung des Halses denkt - es könnte auf Kosten der Lautstärke gehen. Dann schon lieber den Steg abtragen.
Es könnte natürlich sein, dass sich der Winkel zwischen Hals und Decke im Laufe der Zeit verkleinert, der Hals bei schlechter Verzapfung durch den Saitenzug also so stark zur Decke geneigt wird, dass auch ein Abtragen des Stegs keine befriedigende Verbesserung bringt. Das war bei meiner Gitarrenlaute so, weil der Leim nachgelassen hatte und der Halszapfen, der oben direkt an der Decke anlag – ein schwerer konstruktiver Mangel übrigens - dort im weichen Längsholz keinen Widerstand fand – der Hals wackelte und hatte die Decke schon beschädigt, eine Reparatur war unumgänglich. Ich habe nun den Halszapfen oben etwas abgetragen, einen dünnen Querriegel aus Esche im Halsklotz direkt unter der Decke verzapft und den Hals in ursprünglicher Position neu eingesetzt. Das sollte für die nächsten Jahrzehnte halten. Nur natürlich, die Saitenlage … Also wieder mein ursprüngliches Problem: Steg abtragen oder neuen Steg einsetzen.
Und noch ein Nachtrag: Bei meiner türkischen Oud, sehe ich gerade, liegen Hals und Decke exakt in einer Ebene. Warum das wiederum so ist, weiß ich nicht – die arabischen Lautenbauer dachten sicher nicht weniger über ihre Arbeit nach als die europäischen. Und rein gefühlsmäßig klingt die Oud auch nicht schwächer als die europäische Laute, etwas dunkler sicher, aber das hängt wohl damit zusammen, dass der vom Volumen her wohl doppelt so große Korpus die tiefen Komponenten einer Tonschwingung stärker unterstützt. Allerdings setzt bei der Oud der Korpus nicht wie bei der europäischen Laute am 9. Bund, sondern schon bei der Quintlage an, also am 7. Bund – wenn sie Bünde hätte. Das heißt: 2/3 der Saite liegen über der Decke! Die längere Strecke über der Decke kompensiert also möglicherweise den durch die lineare (und sicher einfacher zu realisierende) Ausrichtung von Hals und Decke bedingten Verlust an Lautstärke.