Auch wenn ich der Eingangsfrage dieses Threads, in der ja explizit nach ggf. neuen Harmoniekonzepten Beethovens gefragt wird, nichts so recht bei zu steuern weiß - dazu fehlt mir schlicht der ausreichende Überblick über Beethovens Gesamtschaffen - möchte ich dennoch einige Aspekte zum "Neuerer" Beethoven in die Diskussion bringen.
Dabei geht es mir zum einen konkret um die Klanglichkeit seiner Musik, die man sicher als innovativ bezeichnen darf in ihrer Kompromisslosigkeit. Zum anderen um einige nachweisliche Aspekte seiner Persönlichkeit, die man in eine engen Beziehung zu seiner Musik setzen kann.
Was Beethovens Klanglichkeit angeht, fällt mir bei ihm immer wieder eine gewisse Schroffheit, eine kompromisslose Direktheit auf, manchmal meine ich eine eine regelrechte Aggressivität zu spüren.
Ich möchte das als einen Abschied vom Vorherrschen des Schönklangs in der Musik bezeichnen. Um es zugegebenermaßen etwas stark vereinfacht und platt auszudrücken, ist Mozart, ist Haydn usw. eigentlich immer "schön". Gelegentliche klanglich drastische Stellen lassen sich als Lautmalerei interpretieren. Auch die Klangcluster, die sich - nicht nur bei Bach - am Ende vieler Orgelwerke über dem Orgelpunk-Ton im Pedal zusammen ballen, weichen für mich als sozusagen klangliche Schlussapotheose nicht von dem Konzept eines grundsätzlichen Schönklangs ab (wobei mir bekannt ist, dass Bachs Musik von vielen Zeitgenossen zunächst wegen ihrer Kompliziertheit abgelehnt wurde).
Beethoven nimmt aber immer weniger Rücksicht darauf, ob seine Musik im überkommenen Sinne "schön" klingt, je älter er wird. Er wird immer kompromissloser. Bekanntlich empfanden besonders seine Spätwerke wie etwa seine späten Streichquartette für seine Zeitgenossen regelrecht als eine Zumutung. "Regelrecht" müsste eigentlich besser heißen "regelwidrig", da sich Beethoven hier immer weniger bis gar nicht mehr an überkommene Regeln und Formprinzipien halten möchte. Stark aphoristische Themenarbeit mit mehr "Fetzen" als Themen, ständige Unterbrechungen und harte Kontraste, langsame Tempi bis zum quälend langsamen, Zeit-Überdehnungen bis zum Stillstand.
Hier eine Fassung mit Partitur zum Mitlesen des Streichquartettes op. 130:
https://www.youtube.com/watch?v=f7jpSN8BDug
Im Gegensatz zur allgemeinen Einschätzung habe ich allerdings an vielen Stellen auch das das Gefühl, dass Beethoven eine schon geradezu diebische Freude daran hatte, die Töne nach seiner Klinge springen zu lassen und ein geselliges, manchmal neckisches Treiben zu veranstalten. Ich habe jedenfalls an vielen Stellen schmunzeln müssen.
Der Satz "Alla danza tedesca" (ab 21:30): ein federleichter Hauch, eine sommerliche Brise, ein Traum, entrückt, ein Schmunzeln ob der Leichtigkeit des Seins in der Musik (die ihm das Leben wohl nicht so oft bot).
Und natürlich die "Große Fuge" op. 133 (ursprünglich als Schlusssatz des Quartetts op. 130 gedacht wurde es auf Wunsch des Verlegers wegen seiner Länge als Einzelwerk verlegt, Beethoven hat dann für op. 130 ein Rondo neu komponiert als Schlusssatz).
Hier wird das thematische Material ausgequetscht und bis zum Anschlag regelrecht durchgeprügelt, ohne Rücksicht auf Verluste (oder gar den Zuhörer - so etwas wäre Mozart oder Haydn nie in den Sinn gekommen - ist es ja auch nicht). Gefallen? - Pustekuchen! Aber das Stück funktioniert, fasziniert (mich jedenfalls).
https://www.youtube.com/watch?list=PLjTrT4zFsim5CS5OijbvMvcaeDm16ILKh&v=XAgdd2VqLVc
Ein Paradebeispiel ist natürlich die Hammerklaviersonate op. 106:
Vor allem in den 4. Satz (ab 29:50). Da höre ich Chopin, Liszt, Wagner, manche Stellen würde ich als "Hevay Metal" der Klassik bezeichnen, einige Passagen würden Free-Jazzer alle Ehre machen.
Ein echter "Hammer", diese Klaviersonate! Und zudem am vielen Stellen eine Musik mit dem Hammer.
Kurios mag auch die Stelle aus dem letzten Satz der Klaviersonate op. 111 anmuten, die Igor Stravinsky als "den ersten Boogie Woogie der Musikgeschichte" bezeichnete (im Video 5:24-7:16):
Hatte Beethoven hier Scott Joplin im Ohr (0:22-0:33)?
Beim Anhören des Schlusssatzes der 9. Sinfonie habe ich ab Takt 851 immer den Eindruck eines auskomponierten "Brickwall-Kompressors". Eine durchgängige ff-Parfcorcejagd, Power und Druck bis zum Anschlag, völlig abgedreht.
Nebenbei: die Entwicklung des Themas ab dem Cello-Solo ab Takt 92 bis zum Tutti-Ausbruch in Takt 164 - genial! Das Thema wird angestoßen und schnurrt wie ein Schneeball den Hang hinab wie ein Selbstläufer, ein perfektes Uhrwerk, und tankt immer mehr Energie dabei mit dem folgerichtigen Tutti ab Takt 164, absolute kompositorische Meisterschaft.
Der schon erwähnte Dominantseptakkord zu Beginn der 1. Sinfonie ist ja nicht deshalb so auffällig und war so kontrovers, weil er ein Dominantseptakkord ist, sondern weil er so frei an der exponiertesten Stelle des Stücks schlechthin steht. Den D7 gab es schon lange, das war nichts ungewöhnliches. Aber damit so "knallhart" und geradezu "frech" zu beginnen - unerhört! Und "unerhört" im wörtlichen Sinne, so etwas war seinen zeitgenössischen Zuhörern fremd und viele fanden es abstoßend, wie man nachlesen kann.
Für heutige Hörer mit ihrer Hörerfahrung mit Musik quer durch die Jahrhunderte und natürlich noch wesentlich komplexeren und exponierteren Klängen kaum noch nachvollziehbar.
Damit ich nicht missverstanden werde, Beethoven war auch an vielen Stellen ein Meister des "Schönklangs", als Klarinettist kenne ich dutzende wunderschöner Soli und Passagen aus Beethovens Musik, ein Traum, sie zu spielen. Nennen möchte ich z.B. die Stellen aus der 6. Sinfonie, etwa im langsamen Satz "Szene am Bach". Im "Gewitter"-Satz danach bringt er als schroffest möglichen Kontrast jede Menge Klangballungen von DV-Akkorden (V bitte hochgestellt lesen).
Als zweiten Aspekt möchte ich auf einige Facetten seiner Persönlichkeit eingehen.
Beethoven war ein höchst politisch interessierter Mensch, vor allem die freiheitlichen Gedanken der französischen Revolution faszinierten ihn bekanntlich sehr. Er nahm auch die sog. französische Revolutionsmusik neugierig auf. Bekannt ist seine Korrespondenz mit dem französischen Komponisten-Kollegen Étienne-Nicolas Méhul, dessen Opernschaffen Beethoven zu seiner Oper "Fidelio" angeregt, wenn nicht sogar regelrecht Pate gestanden hat.
Dass ein Komponist seine politischen Ambitionen in seine Musik einbringt und ihnen mit seiner Musik Ausdruck verleiht, hat es wohl vor Beethoven so nicht gegeben (ist mir jedenfalls nicht vergleichbar bekannt).
Das führt zu dem Aspekt der Subjektivität, die sich durch Beethovens Schaffen wie ein roter Faden durchzieht. (Dazu kann ich das Buch "Beethoven hören" von Martin Geck, Reclam-Verlag, empfehlen).
Er quält sich geradezu seine Partituren ab, verwirft auch ständig schon geschriebenes, müht sich an seinen vielen Skizzen ab. Aber eben nicht aus dem Gefühl heraus, dass die Stellen noch nicht "schön" genug sind, noch, gar, dass sie womöglich nicht "unterhaltend" genug sein könnten. "Unterhalten" scheint ihn nicht zu interessieren, im Gegenteil, unterhalten zu wollen oder zu müssen, geht ihm scheinbar am A... vorbei!
Es scheint dieses Gefühl des "Müssens" zu sein, dass ihn umtreibt und an vielen stellen wahrhaft "rücksichtslose" Noten auf das Notenpapier zwingt (ähnlich Schönberg, von dem das Bonmot überliefert ist, Kunst käme nicht allein von Können, sondern von "Müssen").
Beethoven schreibt so, wie er es will, ohne an seine Zuhörer dabei zu denken oder gar Rücksicht auf sie zu nehmen, und schon gar nicht, dabei Rücksicht auf klangliche Konventionen seiner Zeit und den damals überkommenen Traditionen zu nehmen.
Das macht ihn (beabsichtigt? unbeabsichtigt?) zu einem Revolutionär in der Musik, aber unbedingt auch zu einem Türöffner für neue Epochen in der Musikgeschichte. Ganz bestimmt darf man ihn als einen Wegbereiter der "Romantik" nennen, die die Subjektivität geradezu zum Prinzip erheben wird (und dabei später gelegentlich ins banal-sentimentale abgleitet). Aber ich höre bei Beethoven Impulse, die für mich auf musikalische Ausdruckswelten verweist, die sich erst viel später bei Chopin, Brahms, Liszt, ja sogar Debussy, wenn nicht sogar erst im 20. Jahrhundert etablieren (z.B. Konzepte der "Minimal Music").
Beethoven breitet abenteuerliche Klangwelten vor uns aus, weniger unterhaltend als den Hörer fordernd, heraus fordernd, dabei nie einfach nur in Klängen selbstverliebt schwelgend. Oft merkwürdig "schräg", manchmal unheimlich und erschreckend.
(Besonders merkwürdig, "strange" und ergreifend: die "beklemmt"-Stelle im 5. Satz des Streichquartetts op. 130 - im verlinkten Score-Video ab Min. 28:00)
Ich kann verstehen, dass Beethoven als so heraus ragend empfunden wird, aber auch, dass manche ihn nicht mögen.
In seinem Umgang mit Tönen, Themen und Klängen ist Beethoven so radikal, so extrem "Ton
setzer" wie es in der Musikgeschichte wohl nur wenige gab (wer war eigentlich noch so extrem? da sehe ich erst im 20. Jahrhundert wieder welche).
Gruß,
Jürgen