Ich glaube man muss hier in beide Richtungen deutlich mehr differenzieren, als das einige Beitragsschreiber aktuell tun.
Ich versuche mal ein paar Beispiele zu geben, was ich meine.
Dafür ist es wichtig ein bisschen meinen Standpunkt und meine Erfahrungen zu verstehen: Ich habe Musik/Lehramt studiert, 10 Jahre als Gitarrenlehrer gearbeitet (von Kindern mit 5 Jahren bis Erwachsenen über 60 Jahren) und unterrichte aktuell sowohl an einem Gymnasium, als auch an einer Gesamtschule.
Ob ein Video oder eine Gitarrenstunde hilfreich ist und Fortschritt bringt, kommt immens auf den jeweiligen Schüler und dessen Können und Vorwissen und Art zu lernen an:
Es gibt Leute, die können wunderbar selbstständig mit einem Video Dinge lernen, haben Fleiß und Motivation sich damit auseinanderzusetzen und ziehen daraus große Erfolge.
Es gibt andere Leute, die lernen besser durch Interaktion. Sie schauen sich an, wie jemand das vor macht, stellen Fragen und imitieren.
Es gibt Schüler, die wollen die Hintergründe verstehen, Stücke in der Zeit einordnen, Kontexte im Blick haben etc, andere interessiert nur die reine Musik.
Manche finde Theorie super und hilfreich, andere finden das schrecklich und lernen lieber über das Gehör.
und... und... und..
Es gibt nicht DEN Weg Musik/Gitarre spielen zu lernen. Das ist immer eine sehr individuelle Geschichte.
Man muss sich auch mal vor Augen halten, dass der absolute Großteil der Musiktheorie nicht vom Himmel gefallen ist und Leute dann damit Musik gemacht haben, sondern das eigentlich alle Theorie erst nachträglich gesammelt und aufbereitet wurde und diese ganzen Systeme erst gefolgt sind, nachdem Musiker sie schon längst intuitiv benutzt haben.
Und unsere Noten funktionieren auch nur für unseren Teil der westlichen Musik. Wer mal Musik mit Viertel- und Achteltönen spielen möchte, hängt da schon in der Luft.
Noten sind auch immer nur ein Behelf um Dinge darzustellen. Mein Gitarrenlehrer sagte immer "gefrorene Musik". Man muss deutlich mehr verstehen als in den Noten steht um sie zum Fließen zu bringen.
Daher empfinde ich diese Aussage:
Um Noten gibts nix zu diskutieren. Die muss man können.
Deutlich zu kurzsichtig, um es freundlich zu formulieren.
Ich gebe noch ein paar Beispiele:
- Lautenspieler haben jahrhundertelang Musik aus Tabulaturen gespielt, als einfache Art Töne festzuhalten, bevor sich Noten in dem Bereich überhaupt durchgesetzt haben.
- Es gibt zig Szenarien, wo es einem gar nix für das Gitarrespielen bringt Noten lesen zu können. Spielt man Stücke in anderen Stimmungen wie DADGAD. Da ist es toll, dass du lesen kannst was in den Noten steht, trotzdem sitzt du dann vor deiner Gitarre und fängst an abzuzählen wo jetzt die Töne auf einmal sind. Mit Tabulatur ist das deutlich einfacher.
- Ich hab mal ein Stück in Lautenstimmung gespielt, wo die G-Saite auf Fis gestimmt wurde. Da sind dann immer Töne auf den mittleren Saiten betroffen.. das hat mich dermaßen oft aus der Bahn geworfen, weil mein Hirn halt "A ist im 2. Bund" abgespeichert hat. Und das war auf einmal im 3. Bund. Ich hab dann irgendwann das Ding einfach komplett auswendig gelernt und die Noten weggetan.
- Dein Bassist kommt an und zeigt dir einen coolen Basslauf und du willst den mit der Gitarren doppeln... da brauchst du auch keine Noten, sondern guckst einfach wie er den spielt.
- Ich habe einen Schüler, der spielt auf wirklich hohem Niveau Klavier. Also so, dass er auch Konzerte geben könnte. Er kann keine Noten lesen. Wenn er ein Stück hört, kann er sich das so gut merken, dass er sich an ein Klavier setzen kann und die Töne nachspielen. Er ist ein unglaubliches Talent, aber sieht einfach keinen Sinn im Notenlernen, wenn er das doch einfach so spielen kann. Er sagte, dass er da eh nie drauf gucken würde, wenn er welche hätte.
Natürlich haben Noten Vorteile. Insbesondere eine hohe Übersicht und die Möglichkeit wirklich viele Informationen auf kleinem Raum unterzubringen. Noten sind WESENTLICH platzsparender als gute Tabulaturen, die ähnlich viel Informationen über Stimmen, Stimmführung, Notenlänge etc enthalten.
Und natürlich kann man sie einfach mit anderen Leuten austauschen, die auch Notenlesen können.
Aber sie sind nicht zwingend notwendig. Ich nutze mit meinen kleinen Kids in der Schule z.B. auch grafische Notationen, mit Farben und leicht verständlichen Symbolen. So können sie direkt mitspielen, ohne dass ich erst wochenlang Notentheorie pauken muss. Auch so kann man ganz ohne Noten wunderbar zusammen Musik machen.
Trotzdem würde ich jedem empfehlen Noten zu lernen, wenn man vor hat viel mit anderen ausgebildeten Musikern zu spielen oder Stücke auf einem tiefgreifenderem Level zu verstehen.
Aber müssen muss man gar nix.
Ganz frischen Beginnern würde ich aber zumindest am Anfang auch zu einer persönlichen Betreuung raten.
Ich auch. Der große Vorteil eines Lehrers ist, dass man individuell auf einen Schüler eingehen kann. Das kann ein Video nicht.
Wenn jemand ein Video dreht muss er viele Entscheidungen fällen: Für wen mache ich das Video? Wie genau erkläre ich Dinge? Was setze ich als gewusst voraus?
Und es ist sehr wahrscheinlich, dass ich dann manche Lernenden unterfordere und andere überfordere.
Ein Lehrer kann Feedback geben, sehen was der Schüler kann und da helfen, wo es nötig ist. In den meisten Fällen dürfte das deutlich schneller und effektiver gehen, als mit einem Lernvideo(-kurs).
Es gibt auch auf Youtube viele wirklich schlechte Videos zum Gitarre lernen und eher wenig wirklich gute. Als ich mir das eingangs gepostete Beispiel angeguckt habe, war ich auch an manchen Ecken deutlich irritiert.
Auch hier wieder ein paar Beispiele, damit es nicht nur flach und pauschal bleibt:
View: https://www.youtube.com/watch?v=RPXdHOnbArs
Lasst hier mal ab Minute 2:20 laufen.
Da fällt folgende Aussage (sinngemäß): "Der G-Akkord wird zwar so gegriffen, aber das H auf der A-Saite klingt eh nicht mit, weil der Ringfinger die Saite abdämpft"..
Wenn jetzt ein Anfänger das sieht, denkt der sich "Oh, super, bei ihm klingt das auch nicht mit und er sagt das ist gar nicht schlimm, sondern von Vorteil, weil ich dann den Finger da bewegen kann".
Für mich ist das einfach richtig schlampige Technik: Wenn der Ton eh nicht mitklingt.. warum greife ich den dann überhaupt? Dann kann ich den ja auch weglassen. Wenn ich den Akkord dann insgesamt anschlage hab ich auf den tiefen drei Saiten statt einem Akkord in Grundstellung (G-H-D) einen reduzierten Klang (G-abgedämpft-D), also einen terzlosen Klang, während ich vorher klar Dur hatte. Das ist musikalisch schon ein ziemlich großer Unterschied ob ich einen Dur-Akkord oder einen Powerchord habe. Das einfach kommentarlos zu übergehen oder gutzuheißen, finde ich schon recht fragwürdig.
Vollkommen anders wäre es, wenn er sagen würde "Hey, wir brauchen einen freien Finger, den wir bewegen können: Wir dämpfen jetzt
absichtlich die Saite ab, damit der Mittelfinder frei wird, aber wir keine falschen Töne mitspielen"
Zweites Beispiel: Ab Minute 1:40.
Er erklärt, dass der G-Akkord besonders ist, weil man den Grundton auf der tiefen E-Saiten liegen lassen kann und dann drei Leersaiten hat wo man andere Sachen reinspielen kann.
Das ist durchaus richtig, aber eigentlich nichts Besonderes. Das geht mit zig anderen Griffen auch, teilweise sogar besser.. E-Dur, E-Moll, A-Dur, A-Moll.. da kann ich sogar die leere Saite mit dem Basston klingen lassen und völlig frei mit den anderen Fingern hantieren. Mit C und D und Dm und selbst H7 geht das auch. Ja, da hat man dann nicht so viele leere Saiten dazwischen, aber hier greift mein ersten Beispiel: Er lässt da auch einfach einen Ton weg (das H) und nutzt den Finger. Das kann ich bei den ganzen anderen Akkorden genauso machen.
Insgesamt finde ich aber, dass er eine sympathische Art hat und seine Sichtweise da ganz gut erklärt. Ob man dem immer folgen muss und ob man selbst etwas darauf lernen kann, ist dann letztlich eine individuelle Entscheidung, wie eingangs erklärt. (Aufgrund der weniger Videos, die ich mir da jetzt angeguckt habe, maße ich mir aber nicht an da über seine gesamte mediale Präsenz zu urteilen)
Man muss sich aber wirklich nicht immer an etablierte Wege halten und darf gerne auch mal Systeme hinterfragen. Eines meiner Lieblingsbeispiele zur Zeit ist Jacob Collier. Jemand mit einem unglaublichen harmonischen Verständnis weit jenseits von allem was man in Lehrbüchern findet. Bis ich gerafft habe, was er mit seiner Idee einer Untertonskala überhaupt meint, hatte sich mein Gehirn schon deutlich verknotet. Jacob hat also wirklich kein Problem mit Noten etc, hat sich aber trotzdem von Taylor eine spezielle Gitarre mit fünf Saiten bauen lassen und hat die D-A-E-A-D gestimmt. Einfach weil das für ihn Sinn ergab. Etablierte Stimmung und 6-Saiten? (Zitat: "look how many fingers I have! Five! Come on!")
Von daher ist es immer gut sich mit anderen Sichtweisen auseinanderzusetzen und das was der Fingerfux da in seinem Video an Gedanken preis gibt ist doch in jedem Fall bereichernd und es gibt auch nicht so viele Leute, die solche Art von Content produzieren.
Man muss da nicht überall zustimmen, tue ich auch nicht, wie oben erklärt, aber durch die Auseinandersetzung alleine kann man ja schon was mitnehmen. Immer kritisch bleiben, aber auch mal nachvollziehen wie andere Leute denken und von welchem Standpunkt aus sie argumentieren oder Wissen teilen.