Hallo Simon,
ich lese aus Zeitgründen heute erst hier rein und schließe mich dem Tenor an. Ich singe in einer Gruppe, in der viele Leute unterwegs sind, denen man "bescheinigt" hat, sie könnten nicht singen. Eine von ihnen hat sogar eine klassische Gesangsausbildung, wurde dann aber als "zu leise" "zu wenig dies" "zu wenig das" rausgeekelt aus der Szene und hat das Singen jahrelang an den Nagel gehängt. Inzwischen singt sie nicht nur viel lauter und viel schöner, sondern sie tritt auch wieder öffentlich auf, mit einer eigenen kleinen Combo. "Singen können" bezieht sich aus Laiensicht meist auf die richtige Intonation und eine angenehme Stimmfarbe. Ich habe jetzt seit einigen Jahren Gesangsunterricht und singe auch hobbymäßig in Mini-Konzerten, und ich habe ein ziemlich gutes Gehör. Inzwischen weiß ich, dass Leute, die sauber intonieren, zwar den Vorteil des spontanen Tönetreffens haben, dass es beim Singen aber auf x verschiedene andere Sachen ankommt. Singen bedeutet neben dem Tönetreffen und einem sicheren Rhythmusgefühl auch noch Sich-Öffnen, Emotionen reingeben in die Stimme, sich in die Musik fallenlassen können... Ich höre inzwischen, wann eine Stimme frei oder gepresst klingt, und ziemlich vieles von dem, was man so landläufig im Radio oder in diversen Castingshows hört, ist nicht wirklich "gutes Singen", auch wenn es fertig abgemischt und orchestriert ganz passabel klingt.
Wenn du hier verschiedene Popstars anführst, dann sind das meistens Leute, die vorneweg ein gewisses musikalisches Gespür haben, die aber auch jahrelang an ihrer Stimme und ihrer Musikalität arbeiten. Selten kommt es vor, dass jemand so ein Ausnahmetalent ist, dass er sich einfach in ein Studio stellen und sofort bravourös singen kann. Die meisten Leute, die später "gut singen", haben vorher eine gewisse Übung mitgebracht, viele Soul-, Jazz- und Bluessänger haben zum Beispiel schon im Kirchenchor singen gelernt - und beziehen ihr Rhythmusgespür aus dem Gospel-Gottesdienst. Einige der aktuellen Popsternchen haben ggfs. aber auch nur eine interessante oder spezielle Stimmfärbung, eigentlich aber eher ein dünnes Stimmchen. Da lässt sich technisch allerdings noch viel dran machen. Ed Sheeran ist zum Beispiel auch jemand, den ich nicht als begnadeten Sänger bezeichnen würde, aber er hat ein feines musikalisches Gespür, einen angenehmen Stimmklang und ist insgesamt eine nette, sehr sympathische und quicklebendige Erscheinung, da macht das Gesamtpaket den Erfolg.
"Mein" Pianist sagt, es gäbe keine unmusikalischen Leute. Und meine Gesangslehrerin sagt, jeder könne in einem gewissen Umfang singen lernen. Jeder hat halt andere Baustellen. Ich konnte theoretisch "schon immer" aus Laiensicht singen, weil ich schon immer eine sichere Intonation und eine angenehm klingende Stimme hatte, ich musste und muss aber immer noch sehr mühsam lernen, mich zu öffnen, meine Stimme richtig zu stützen und von der Bruststimme übergangslos in die Kopfstimme zu kommen, weil ich sonst nicht mal einfachste Popsongs ohne Geknödel singen könnte. Andere Leute haben eine offene, freie Stimme und keine Hemmungen, intonieren dafür aber nicht ganz sauber oder kommen beim Rhythmus ins Schleudern. Aber das kann man alles lernen, ein guter Lehrer sieht diese Baustellen genau und trainiert das.
Bei dir höre ich in der Hörprobe oben zum Beispiel, dass deine Stimme relativ "frei" klingt. Störend finde ich aber, dass du den eigentlichen Stimmklang mit einer Stilistik zudeckst, die nicht deine eigene zu sein scheint und die aufgesetzt klingt. Das liegt vermutlich daran, dass du ein Vorbild im Kopf hast, das du "nachsingst". So machen das die meisten am Anfang. Ziel des Singens sollte es aber sein, seine eigene Stimme zu finden und das optimal zum Ausdruck zu bringen.
Also: Leg los! Probier einfach ein paar Stunden aus und beobachte deine Fortschritte. Dann merkst du auch, ob Singen dir überhaupt etwas gibt. Singen kann einen sehr glücklich machen, aber natürlich auch - wenn die Stimme einfach nicht das Instrument ist, das man gern "spielen" möchte - auch zu Tode nerven, vor allem, wenn man nicht vorankommt. Irgendwo dazwischen spielt sich Gesangsunterricht und dessen Ergebnis meistens ab. Und es ist ein längerer Prozess, je nachdem, was du erreichen möchtest
Aber es lohnt sich definitiv, es auszuprobieren und es sich nicht von anderen Leuten ausreden zu lassen.
LG
Nicole