Es wäre allerdings viel zu kurz gegriffen, es dabei zu belassen, oder gar in die Richtung weiter zu gehen und unseren Tonsystemen, wie sie sich seit Jahrhunderten herausgebildet haben eine immanente Natürlichkeit zu attestieren.
Der Begriff "Natürlichkeit" beschreibt das, worum es in diesem Zusammenhang geht, wohl nicht sehr passend. "Natürlich" ist auch z.B. das Rauschen eines Baches und das Fauchen einer Raubkatze. Die Natur enthält Bedrohung und Geborgenheit, Lärm und Wohlklang. (Beliebt sind Geborgenheit und Wohlklang.)
Ich denke, die Begriffe "Konsonanz" und "Harmonie", im Rahmen der Mehrstimmigkeit, beschreiben besser, worum es hier geht.
Betrachtet man alle möglichen Tonhöhen von z.B. drei zusammen erklingenden Tönen, so muß man feststellen, daß "konsonanter" "harmonischer" Zusammenklang rein statistisch eher selten ist. Doch genau dieser wurde und wird in der Musik bevorzugt und kultiviert. Vielleicht als Abbild einer idealisierten (harmonischen) Welt? Es wird ja i.d.R. im Leben viel eher Harmonie als Disharmonie angestrebt.
Durch die Verwendung von Harmonien und Disharmonien läßt sich leicht ein Spannungsfeld aufbauen, welches gut nachvollziehbar ist und dem auch viel eher emotionelle Bedeutung beigemessen werden kann, als dies z.B. zwischen verschiedenen Arten von Disharmonien der Fall wäre.
Wieso lösen wir nicht in Primen auf, was viel konsonanter wäre? Oder zumindest in reine Quinten, Quarten, Terzen? (Man beachte, dass eine reine Quarte, ein akustisch sehr reines Intervall, in der klassischen Musik keine Option für ein auflösendes Ende wäre.) Oder, wenn wir schon in Dreiklänge auflösen wollen, wieso nicht in einen Dur-Quartsextakkord? Oder, um in die andere Richtung zu gehen, wieso lösen wir nicht in grössere Akkorde auf, welche Naturtöne bis zum, sagen wir, 17. enthalten?
Richtig, die Prim wäre das konsonanteste Intervall. Unisono-Chor-Gesänge können auch durchaus als Ausdruck hoher Harmonie gelten. Die nächst konsonanten Intervalle wären Oktav, Quint und Quart.
Und ein Gesang genau in diesen Tonabständen erfolgte, als man den Schritt von der Einstimmigkeit zur Mehrstimmigkeit vollzog (einstimmiger
Gregorianischer Choral -> Mehrstimmigkeit des
Organums).
Der Übergang zur Mehrstimmigkeit erfolgte allmählich. Man wollte zunächst lediglich den einstimmigen Gesang verstärken:
Das erste Dokument, das die Organumpraxis nachvollziehbar beschreibt, war die Musica enchiriadis (gegen 895), ein Traktat, das traditionell (und vermutlich inkorrekt) dem Mönch Hucbald (* um 840; † 930) zugeschrieben wird. Danach war die Organumpraxis gar nicht als Mehrstimmigkeit im modernen Sinn konzipiert: Die hinzutretende Stimme sollte lediglich den einstimmigen Gesang verstärken.
Quelle:
http://de.wikipedia.org/wiki/Organum
Das gelingt gut mit Oktav, Quint und Quart. Warum, können wir heute akustisch erklären: Die menschliche Stimme enthält die harmonischen Vielfachen der Grundfrequenz (Obertonreihe). (Je höher die Obertöne sind, desto leiser werden sie gewöhnlich.)
Ein Zusammenklang zweier menschlicher Stimmen verschmilzt um so mehr, je niedriger das entsprechende Intervall in der Obertonreihe (bezogen auf den Grundton) anzutreffen ist. Also Oktav, Quint, Dur-Terz. Dann deckt sich eine maximale Anzahl von Obertönen.
(Diese Technik zur Tonverstärkung wurde alsbald auch im Orgelbau verwendet. Mitunter werden die Obertöne bis zum 14. verwendet (= 15. Teilton). Das funktioniert möglicherweise deshalb so gut, weil wir schon vor der Geburt und auch danach, es gelernt haben, daß die vielen harmonischen Obertöne der menschlichen Stimme zusammengehören und sie schließlich nur als einen "Ton" wahrnehmen, obwohl, entsprechend der Obertöne) ganz viele Orte der Hörschnecke erregt werden.)
Wenn schon auf kulturelle Aspekte abgehoben wird, so besteht m.E. die bedeutendste kulturelle Leistung der Musik in unserer Kultur darin, überhaupt die Richtung der Mehrstimmigkeit beschritten zu haben. Keine andere Kultur ist diesen Weg so konsequent gegangen. Dieser Weg war also nicht "naturgegeben" oder ähnliches.
Allerdings hat dieser Weg zur Konsequenz, daß die Auswahl des Tonmaterials sich viel stärker als in anderen Kulturen daran orientierte, was angenehm, harmonisch, konsonant klang. Eine Mehrstimmigkeit ist, was die konsonanten Intervalle anbelangt, viel sensibler als eine einstimmige Musik.
Gibt es eine hepatatonische Tonleiter, die mehr konsonante Intervalle enthält als unser hepatatonisches System bzw. die Dur-Tonleiter, in der der Grundton auch noch sehr günstig gewählt ist? Falls nein, hätte die Dominanz dieser Tonleiter in unserer Musik handfeste "natürlich-harmonische" Gründe.
Die Dominanz der Dreiklänge (oder dominieren inzwischen eher Vierklänge?) gegenüber Zweiklängen oder der Prim spiegelt vielleicht nur eine kulturelle Entwicklungsstufe wieder. Wer weiß, vielleicht wird nach Oktav, Quint und Terz eines Tages die Naturseptim einbezogen, noch später vielleicht der 11. und der 13. Teilton in die mehrstimmige Musik?
Oder reichen uns die Annäherungen im chromatischen System aus? Oder die eines Vierteltonsystems?
... wieso lösen wir nicht in grössere Akkorde auf, welche Naturtöne bis zum, sagen wir, 17. enthalten?
Weil jeder der Teiltöne, wenn er gesungen oder auf einem der üblichen instrumente gespielt wird, seine eigene Naturtonreihe mitbringt und der Zusammenklang sehr komplex wäre. Es würde nicht mehr dem Prinzip der Harmonie entsprechen, das ja eher mit einfachen Verhältnissen (kleinen Zahlenverhältnissen) zu tun hat.
Des weiteren (und dies hat nun nichts mehr mit Chorgesang zu tun), sei natürlich auch angemerkt, dass westliche Komponisten immer schon ohne Bedenken dasselbe tonale System auf Instrumente anwendeten, welche keine harmonischen Obertöne haben (Glocken, Xylophone, pizzicato Streicher, etc.) und somit in einem Dur-Akkord nicht konsonant klingen - und nicht etwa dafür plötzlich ganz neue Tonsysteme erfanden. Dies belegt wiederum die Rolle kultureller Prägungen im harmonischen Bereich.
Dazu sollte man anmerken, daß kurze Töne (pizzicato Streicher, Xylophone) für eine harmonische Mehrstimmigkeit von untergeordneter Bedeutung sind. Dennoch ist man bei Xylophonen bestrebt, den Mangel der unharmonischen Obertöne zu beheben. Man fräst die Hölzer auf der Unterseite genau so aus, daß zumindest der erste Oberton in einem harmonischen Verhältnis zum Grundton steht. Die höheren Obertöne sind weniger wichtig, da sie kürzer erklingen.
Bei der Glocke ist man ebenfalls bestrebt, die Teiltöne durch die Glockenform so zu gestalten, daß der Zusammenklang möglichst harmonisch erklingt. Das geschieht durch die Gestaltung der Glocke mit einer entsprechenden Rippe, welche die Form der Glocke bestimmt. Bekannt sind die Moll-Oktav und Moll-Sext-Rippe. Eine Dur-Rippe zu erstellen war den Glockengießern Jahrhunderte lang nicht möglich. Erst durch Computersimulation konnte eine entsprechende Glockenform ermittelt werden. Diese "major-third-bells" erfreuen sich wachsender Beliebtheit an vielen Orten der Welt.
Übrigens ging man in der Gamelan-Musik mitunter den umgekehrten Weg. Man akzeptierte unharmonische Obertöne der verwendeten Metallstäbe und Glocken und wählte die Töne der Tonleiter so aus, daß sich bei Mehrstimmigkeit harmonisch zusammenklingende Töne bzw. Obertöne ergeben.
Wir sind für diese Stimmungen durch unsere ganz anderen musikalischen Erfahrungen weniger empfänglich.
Allerdings ist das harmonische Prinzip, auf dem unsere mehrstimmige Musik aufbaut, universell, weil die menschliche Stimme (und andere eindimensionalen Schwinger) nun einmal harmonische Obertöne hat. Und die gehört, kulturunabhängig, zum Erfahrungsschatz des Menschen.
Kulturell spezifisch ist jedoch die hochentwickelte Mehrstimmigkeit in unserer Kultur, welche auch eine (harmonische) Polyphonie ermöglichte.
Aufgrund unserer, kulturell bedingten, hohen Sensibilität, was (harmonische) Mehrstimmigkeit anbelangt, erscheint es uns ganz natürlich, wenn ein Chor nach Dur auflöst.
Viele Grüße
Klaus