
Fastel
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Hi,
ich möchte Euch zur Abwechslung mal einen echten Buchtip vorstellen: Wladimir Kaminer: Militärmusik
Kaminer ist momentan wohl der meistgelesene russische Autor, der mit "Militärmusik" einen autobiografischen Roman abliefert, der vor den abenteuerlichsten Geschichten zu platzen scheint. Thematisiert wird seine Jugend, in der er in einem Theater in Moskau studierte (sturzbetrunkene Schauspieler in Kindermärchenaufführungen), seine abenteuerlichen Konzertveranstaltungen (siehe Auszüge) und seine Zeit bei der Sowjetischen Arme... uvm.
Zu den vielen Erlebnissen - vor der Bühne der Hochzeit des Sowjet-Kommunismus - kommt ein, wie ich finde, grandioser Witz in seinen Erzählungen, mal unterschwellig, mal schwellig. Mir fällt nur Helge Timmerberg ein, der ernste Situationen ähnlich komisch dar stellen kann und ähnlich frei von Klischees über die "Ferne" schreibt...
Leider ist es sehr schwierig einige Sätze zu wählen, die den Charakter des Buches widerspiegeln. Daher habe ich mal etwas größere Auszüge gemacht... da sollte man sich nur durchkämpfen wenn man sich wirklich für das Buch interessiert
Der erste Auszug handelt von der ersten Zeit der Aufkeimenden russischen "underground" Musikkultur. Früher musste man natürlich die Musik aus dem Ausland konsumieren, welche verboten war...
Die Tour mit Mammut wird im Weiteren noch beschrieben ("wir hatten Tricks auf Lager, wie man auf 10 Quadratmeter 100 Leute unterbringen kann"). Ebenso wie die ganze Arbeit mit Katzmann die in einer Irrenanstalt endete.Seite 112 schrieb:Und plötzlich kamen sie: die Generäle der Jugendkultur, die uns aus der Seele sprachen. Mischa, Boria, Pascha - die russische Ausgabe von David Bowie, Mark Bolan und Jonny Rotten.
Pascha Rotten und seine Gruppe "Die automatischen Befriediger", bildeten kein festes Ensemble. Es waren immer irgendwelche Musiker, die grade in der Nähe waren. Nur Pascha - der erste Punk der Sowjetunion blieb unersetzbar.
Einmal sollte ich ihn aus einer Irrenanstalt rausholen. Ich kannte einen Arzt und es hätte auch fast funktioniert. Aber als wir schon fast draußen waren, kam uns eine ehrenwerte etwa 60 jährige Frau entgegen. Pascha zeigte plötzlich auf sie und brüllte: "Die habe ich auch gefickt". Er war ein richtiges Schwein. [...]Bei seiner Punkhochzeit warf er seine Braut in den Mülleimer. Zuerst war sie beleidigt. Fast bei jedem seiner Auftritte fiel er betrunken von der Bühne. Nach der Perestroika geriet Pascha in Vergessenheit. Er starb letztes Jahr mit 38.
Mark Bolan [Mischa] sollte ich einmal vom Bahnhof abholen. Er spielte in einer von uns extra angemieteten Wohnung. Eines unserer ersten Undergroundkonzerte. Er war ein kleiner grauhaariger Mann. In der Hand hielt er einen Diplomatenkoffer. Eine Stunde vor Beginn saßen wir in der Küche, während sich die Wohnung langsam mit Leuten füllte. Mischa öffnete den Koffer. Es befanden sich 2 Flaschen Vodka drin.
"Die müssen wir jetzt leer machen" sagte Mischa nachdenklich, "sonst kann ich mich nicht auf den Gesang konzentrieren".
"Gut" sagte ich, "wenn es sein muss".
Als die Zeit reif war, aufzutreten, stellte sich heraus, dass Mischa nur die ersten Zeilen seiner Lieder konnte. Das machte aber nichts, da alle Versammelten Fans die Lieder auswendig konnten. So musste er nur die ersten 2 Zeilen vorgeben, den Rest sang das Publikum.
[...]
Bei einem Konzert lernte ich Katzmann kennen, einem Jungen, der mit 14 von zu Hause weggelaufen war. Er sah ziemlich intelligent aus und kannte sich gut mit Rockmusik aus. Zusammen mit verschiedenen Musikern pendelte er durch Moskau und besorgte für die Helden Auftritte. Er nahm mich in seine Firma auf. [Wir] organisierten innerhalb eines jahres mehrere Undergroundkonzerte. Das lief folgendermaßen:
In einer Wohnung versammelten sich 70 - 80 Fans und ein paar Musiker mit Gitarre und Mundharmonika. Das ganze war als Geburtstagsfeier getarnt. Trotzdem sprangen manchmal welche aus dem Fenster, wenn die Polizei aufkreuzte. Wir überlebte dutzende Razzien und alle Verhaftungen. Daraufhin riss sich die Jugendabteilung des KGB unsere Abteilung unter den Nagel. Sie wollten alles im Auge behalten und förderten deswegen die Eröffnung eines legalen Rockclubs. Dort durften wir weitermachen. Nur jetzt in einem gesetzlichen Rahmen - mit dem KGB zusammen.
[...]
Das wollten wir natürlich nicht und gingen auf Tournee. Die Entdeckung neuer Helden und deren Aufbau wurde zu unserem Beruf. Die Nachfrage wurde immer größer, das Konzertleben brummte. Katzmann und ich durchkämmten die Studentenheime auf der Suche nach Leuten, die eine Gitarre einigermaßen grade halten konnten - und das mit Charisma.
Unsere letzte Entdeckung war ein Kerl aus Nowosibirsk, den alle "Mammut" nannten, weil er sehr klein war. Wir steißen in einem Studentenwohnheim des medizinischen Instituts auf ihn. Dort hatte er bei den Mädchen enorme Erfolge eingeheimst. Mammut war ein typischer Held. Klein, dünn, blond mit einem Erlöser Bart. Seine Schuhe hatten Kindergröße. Auf seiner 12 Saitigen Gitarre, die fast so groß war, wie er selbst, spielte er sehr gut und vor allem laut. Wenn man ihn mit westlichen Musikern vergleicht, war Mammut eine Art russischer Jim Morrison. Mit hoher Stimme sang er selbst gedichtete Lieder: tragische Geschichten von Jungen Menschen, die unbedingt sterben wollten oder sterben mussten. Die Mädchen brachen in Tränen aus[...]
Mammut gab 3 mal wöchentlich ein Konzert im Studentenheim des Medizininstituts. Wir besorgten ihm weitere Auftrittsmöglichkeiten. Mit seinen blonden Haar sah er wie ein kleiner skandalöser Jesus aus, der anstatt für ein ewiges Leben, für einen schnellen Tod plädierte. Dazu kam, dass Mammut privat alles andere als ein drogensüchtiger Freak war. Er rauchte und trank nicht. Katzmann erzählte mir, dass er Mammut sogar schon einmal früh morgens beim Jogging erwischt hatte. Mit uns diskutierte Mammut am liebsten über die Schädlichkeit von Zugluft und die Abwehrkräfte des Organismus. In Nowosibirsk hatte er fünf Jahre lang Medizin studiert, und eigentlich hatte er Arzt werden wollen. Aber das Schiksal hatte etwas anderes gewollt.
[...]
Wie Mammut nach Moskau kam wusste keiner so recht. [...]Mammuts Freundin hatte sich auf dem Klo aufgehängt oder so. Auf jeden Fall war es eine Geschichte, die zu seinem Heldentum passte und ihm noch mehr Charisma verlieh. Mit ihm wollten wir nun auf Tournee gehen, er war für eine solche Reise der beste Kandidat. Ein Nichttrinker und Nichtraucher, der sich sehr für Geld interessierte. Außerdem wusste wir, dass Mammut in den Studentenheimen litt. Die Mädels dort verfolgent ihn Tag und Nacht, und fingen an, ihre Begeisterung auf aggressive Art zu äußern. Man hatte ihn schon ein paar mal auf dem dunklen Flur bei den Eiern gepackt. Im Medizinischen Institu herrschten damals noch rauhe Sitten.
Eine weiter lustige Zeit hatte er vorher. Kaminer nahm 1982 einen Gärtnerjob in einem Park an. Seine Aufgabe war es eher den Park zu beaufsichtigen aber er klaute lieber die Lautsprecher der Anlage und verscheuerte dies(n) an Musiker. Später stellte sich heraus, dass der Park zum Betriebsgelände eines U-Boot Pruktionsbetriebes gehörte. Die Arbeiter kamen morgens und gingen abends. Der Park war ihnen wichtig. Die grüne Landschaft verleitete sie aber oftmals dazu, die eine oder andere Flasche im Park zu leeren und ein Nickerchen in den Büschen zu machen...
Naja wie das ausgeht, lest Ihr am besten selbst.Seite 90-ff schrieb:Leben im Park:
Aus diesem Grund erschienen viele Mitarbeiter (der U-Bootproduktion) morgens nicht rechtzeitig und kamen abends nicht mehr nach Hause.
Das verminderte die Produktion von U-Booten, die das Land brauchte und zerstörte außerdem das gesunde Familienleben, welches das Land forderte.
In diesem Dilemma kam der Direktion der Gärtner grade recht, und zwar als zentrale Person, die dem Park seine ursprüngliche gesellschaftlich - erzieherische Funktion wiedergeben sollte. Ganz im Sinne der Bekämpfung des Alkoholismus in der Arbeiterklasse wurde für den Park mit Hilfe der Moskauer Philharmonie ein kulturelles Programm entworfen, dass den Namen "Sommertheater" bekam. Die Moskauer Philharmoniker und Musikschulen funktionieren wie alle anderen Bildungsstätten auch nach den Regeln der Planwirtschaft. Jedes Jahr produzierten sie allein in Moskau Hunderte von Schauspielern und Musikern - viel mehr als die Stadt beschäftigen konnte. Die Schlauen erkämpften für sich ein lauschiges Plätzchen beim Fernsehen oder in den großen Kulturhäuser, der Rest ließ sich in der Moskauer Philharmonie nieder, eine Art Abflussbecken der russischen Kultur.[...]
Für ein Sommertheater waren die Fachkräfte der Philharmonie natürlich sofort zu haben, schließlich bekamen sie für ihre Auftritte eine zusätzliche Gage.
In der Nähe des Fußwegs, der quer durch den Park führte, wurde eine Bühne in Form einer Kurmuschel aufgebaut und Bänke davor aufgestellt. Meine Aufgabe bestand darin, die Künstler dreimal in der Woche zu empfangen. Außerdem musste ich bei den Veranstaltungen dabei sein und Ärger aller Art zu vermeiden und die Entertainer anschließend auszuzahlen. Ich bekam ein Megaphon und 75 Rubel in die Hand - ein Drittel davon war meine Gage.
Die erste Nummer, die uns die Philharmonie anbot bestand aus funfzigjährigen Zwillingen, die Klarinette spielten. Unter anderen Umständen wäre es vielleicht eine nette Unterhaltungsshow geworden, aber nicht in unserem Park. Die Zwillinge kamen mit dem Auto an und wirkten schon ziemlich angetrunken.
Zu diesem Zeitpunkt hatte die Arbeiterklasse bereits unsere Muschel im Park entdeckt und sie zu ihrer Stammkneipe auserkoren. Als die Zwillinge ihre Klarinetten auspackten, machte es sich grade die Rugbymannschaft des Betriebes auf den Bänken gemütlich. Sie feierten ihren Sieg über eine andere Rugbymannschaft eines anderen Betriebes.[...]
Bereits nach der ersten Serenade meuterte die halbe Mannschaft und drohte mit Prügel, sollte noch ein einziger Pups aus den Röhren kommen. Die Kunst traf auf das Volk und ging gnadenlos unter. Um weitere Konflikte zu vermeiden, ließ ich die Musiker ihre Gagenquittung unterschreiben und ging mit ihnen ein Bierchen trinken. [...]
Beim nächsten mal trat eine Rezitatorin auf, eine Frau mittleren Alters[...]. Sie trug Gedichte vor, ein sehr erlesenes Programm, alles aus dem silbernen Zeitalter der russischen Poesie. Sie hatte ein Kostüm und einen Schminkkasten dabei und fragte mich nach einer Umkleidekabine. Auf mich machte sie einen rührenden Eindruck. Die Rugbymannschaft vom Vortag hatte die Bänke noch immer nicht verlassen. Ich befürchtete, dass es zu Mord und Totschlag kommen könnte, wenn die pure Kunst zum zweiten mal auf das Volk stürzen würde. Wie sollte ich diese Frau alleine verteidigen? Sie war wild entschlossen ihr gesamtes Repertoire durchzuziehen und hatte sich bereits mangels Umkleidekabine hinter einem Busch umgezogen. Sie trat in einem Abendkleid mit vielen blitzenden Sternen hervor.
>Ich bin bereit<, sagte sie >wo ist nun mein Publikum?<.
Schweigend zeigte ich auf die Rugbymannschaft, die sich bereits im Delirium befand, auf 3 Omas, die geduldig auf deren Flaschen warteten, und auf all die anderen, die sich vermutlich hinter den Büschen befanden.
Die Frau sah sich um, nahm mir das Megaphon aus der Hand, stellte sich in die Mitte des Fußweges und fing an zu lesen:
Ich danke Ihnen - Herz und Hand! dafür,
Dass Sie mich unwissend zu Ihnen tragen:
Für meine nächtlich stille Tür,
Für seltene Treffen in verschiedenen Parkanlagen,
Für unsere Nichtspaziergänge im Mondrevier,
[...]
Die Betriebsdirektion war mit dem Ergebnis jedenfalls unzufrieden. Anstatt mehr Ordnung zu schaffen, brachten die Gäste nur noch mehr Unruhe in die Anlage. Der Philharmonie wurde daher gekündigt und man wandte sich der wissenschaftlichen Gesellschaft "Das Wissen" zu. Diese Gesellschaft sollte das Allgemeinbildungsnivau der Bevölkerung heben und brachte hunderte Lektoren hervor
Da vorher beworben war der Vortrag ziemlich gut besucht. Der Lektor fing an:...die an allem möglichen Orten das Publikum in einer allgemein verständlichen Sprache über die spannendsten Themen der Wissenschaft aufklärte. Das gefragteste Thema war zu diesem Zeitpunkt in der Sowjetunion: "Gibt es Leben auf dem Mars?". [...]
[Die Lektoren] versuchten immer wieder, die brennenden Themen mit der aktuellen Problematik des Landes, also dem Saufen, zu verknüpfen. So bestellte die Betriebsdirektion den Lektor in die Parkanlage um einen Vortrag über "Die Schäden des Alkohols oder: Gibt es Leben auf dem Mars?" zu halten.
Als der Veranstaltungsreihe im Herbst zuende ging wurde Kaminer zum Gespräch in die Kulturhausdirektion bestellt:Laut seinen Informationen wurden die Kanäle auf dem Mars schon lange von anderen Zivilisationen benutzt. Diese Zivilisationen würden uns schon seit Tausenden von Jahren beobachten, aber jeden direkten Kontakt vermeiden, weil sie viel klüger und gebildeter wären, als wir, also das Saufen verabscheuen. Sie hätten uns schon längst ihre Technologie anvertraut, uns glücklich und unsterblich gemacht, wenn wir nur mit dem Saufen aufhören würden. Darauf warteten die Außerirdischen bis jetzt vergeblich. Der Lektor zeigte auf einen Busch, unter denen 3 Männer mit einigen Flaschen Portwein saßen.
"Wegen solcher Typen halten uns die Außerirdischen immernoch nicht reif für einen Kontakt.
"Wie blöd" regten sich die alten Omas auf der Bank auf.
"Viktor, schmeiß sofort die Flasche weg, wir wollen unsterblich werden.", rief die Oma dem Buschmann zu, und alle lachten.
Viktor, der Mann mit der Flasche Portwein in der Hand, traute dem Redner nicht. Verzweifelt blickte er in seine Richtung, mal guckte er zur Flasche, mal zum Himmel. Er fühlte sich einigermaßen verarscht, konnte es aber nicht richtig äußern.
Der Lektor fuhr fort: Der Tod durch Alkohol sei der schrecklichste von allen, meinte er. Er hätte selbst einen Mann im Krankenhaus gesehen der Leberzirrhose bekommen hätte. Sein Blut bestünde mittlerweile zu 50% aus Spiritus. Alle lebenswichtigen Organe des Mannes hätten sich bereits im Sprit aufgelöst - Stück für Stück würde er jetzt seine Leber und sein Hirn herausspucken, bevor er stirbt.
Das Schlimmste sei aber: Die Menschen, die an der Flasche hingen, würden nicht nur ihre eigene Gesundheit ruinieren, sondern auch die Hoffnung anderer Menschen töten, irgendwann mal ein besseres Leben zu haben und vielleicht noch eines Tages eine andere fremde Zivilisation kennen zu lernen. So meinte jedenfalls der Lektor.
Der Mann unter dem Busch stand plötzlich auf. An seiner Körperhaltung konnte man erkennen, dass er eine wichtige Entscheidung getroffen hatte. Er holte zum Wurf aus.
"Verpiss dich mit deiner fremden Zivilisation", schrie er.
Die Portweinflasche der Marke "Roter Kaukasus" drehte sich in der Luft und zerschellte am Rednerpunlt.
"Du hast es gut gemacht im Park", sagte der Leiter. "Abgesehen von dem Lektor sind alle anderen Artisten heil aus dem Park gekommen"
So... vielleicht konnte ich ja jemanden Lust auf das Buch machen. Ausdrücklich sei gesagt, dass es kein reines Musikerbuch ist sondern wie oben erwähnt eine Autobiographie. Ich habe mich jedenfalls köstlich amüsiert und lese es grade zum zweiten mal.
Kostet tut das Buch höchstens 10 Euro und liegt in vielen Buchhandlungen.
Es gibt auch ein vom Autoren selbst gelesenen Hörbuch (siehe Bild), welches ich aber nicht kenne. Wohlmöglich gekürzt.
Weitere Bücher von Kaminer lohnen sich ebenfalls: "Meine Russischen Nachbarn" und "Russendisko" sind wohl die bekanntesten Bestseller.
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