Wo ist die Tonika ... ?

Wenn ein Stück in a-moll ist und du als letzten Akkord aber A-Dur hinpflanzt, dann ist das ganze Stück rückwirkend in A-Dur?
Derartiges findet sich zuhauf z.B. in Chorälen der Barockzeit, wo viele Moll-Choräle in einem Dur-Akkord enden, Stichwort "picardische Terz" [https://de.wikipedia.org/wiki/Picardische_Terz].
Das änderte und ändert aber nichts daran, dass der ganz Choral vor dem Schlussakkord in Moll steht. Er soll halt nur nicht in Moll enden.
Darüber hinaus gibt es reichlich Stücke, die in sich immer wieder zwischen Moll und Dur (desselben Grundtons) changieren. Dann würde man es eher so bezeichnen, dass das Stück "in A" steht und Dur/Moll dabei offen lassen. Der Tonika-Grundton bleibt ja ohnehin gleich und behält auch seine Funktion als harmonischer Bezugspunkt bzw. als harmonisches Gravitationszentrum.
Wenn ein Stück zwischen einer Tonart und ihrer Parallelen wechselt, würde man schauen, was überwiegt. Überwiegt die Dur-Tonart wäre diese das tonale Zentrum und die Abschnitte in der Moll-Parallele wären Ausweichungen, ansonsten umgekehrt. "Ausweichungen" kenne ich aber nur im Zusammenhang mit kurzen Abschnitten, die kein eigener Formteil sind, z.B. wenn es sich nur um wenige Takte handelt.

Bei Franz Schubert finden sich jede Menge Lieder, die in einer (oft großen) A-B-A-Form z.B. A-Teil in Moll, B-Teil gleichnamiges oder paralleles Dur und zweiter A-Teil wieder in Moll ablaufen. Die Festlegung der Tonart richtet sich dann nach den A-Teilen.

Voraus gibt es nicht wirklich - man weiß nicht wo es hingeht.
Aber es gibt - besonders bei kadenzierend ablaufender Harmonik - ja eine (durch Hörerfahrung geschulte) Erwartung was kommen müsste. Anders würde ja der Trugschluss nicht als "Trug"-Schluss wirken können.
 
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LoboMix,
da widerspricht aber nichts dem, was ich geschrieben habe, oder? Bei dem Beispiel mit dem Durakkord am Ende kommst du ja auf das gleiche Ergebnis wie ich, oder?

Der Trugschluss kommt überraschend und ändert nicht rückwirkend das davor, oder? Auch wenn man schon weiß, daß er kommen wird.

Es kommt halt darauf an, warum man die Tonart wissen will. Wegen der Notation, dann nimmt man die wichtigste Tonart und entscheidet an ausgewählten Stellen vielleicht sie zu wechseln. Und man freut sich, wenn die wichtigste Tonart die Schlusstonart ist. Denn dann hat man als Schlussakkord einen, der auch so ausschaut. Oder man will es wie der OP wissen, weil man ausdrücken will, was man empfindet. Dann wird man zu einem anderen Ergebnis kommen. Einem komplizierteren in vielen Fällen.
Gibt es noch einen dritten Punkt, warum man die Tonart wissen will?
 
Gibt es noch einen dritten Punkt, warum man die Tonart wissen will?
Was ich als häufigsten Grund kenne: die harmonische Analyse.
Je nach Stück und Kontext gibt es dafür verschiedene Konzepte.

Gruß Claus
 
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Und die harmonische Analyse hat das primäre Ziel, herauszufinden, warum was wirkt, wie es wirkt, oder?
Womit wir bei der Empfindung wären und damit eher bei dem Ansatz mit den wechslnden Tonarten.

Und sie hat das Ziel herauszufinden, warum etwas funktioniert. Also zum Beispiel, warum man leicht von f-moll nach As-Dur wechseln kann und von As-Dur nach Es-Dur. Das geht mit der Funktionsharmonielehre sehr gut. Für fast alle Stilrichtungen.

Hat das sich Entscheiden für eine Tonart einen Sinn? Wenn das tonale Zentrum doch ständig wechselt?
 
Hat das sich Entscheiden für eine Tonart einen Sinn? Wenn das tonale Zentrum doch ständig wechselt?
Z.B. wegen der Verständigung:

Kommt Jungs, spielen wir xy.
- in B - Dur?
Nö, in C. Wie Ronny da auf dem Pult stehen hat.
- Wieso, bei mir steht F.
Ja, der erste Akkord ist F, das Stück ist aber in C.
- Es endet doch auf G?
Ja, G ist die Dominante. Das Stück steht in C.
- Also klingend C oder für die Bläser C, also in Bb C?
Klingend C. C-Dur.
- Aber der Mittelteil ist doch in Moll?

und so weiter ;)
 
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Was ich als häufigsten Grund kenne: die harmonische Analyse.
Das würde ich auch als der häufigsten Grund ansehen. Gerade in der "Klassik" empfiehlt es sich sehr, sich über Tonarten und harmonische Strukturen Kenntnisse anzueignen um die Struktur der Kompositionen besser verstehen und nachvollziehen zu können.
Bei Textvertonungen kommt noch die harmonische Ausdeutung der Texte, besonders der darin aufscheinenden Gefühle und ganz allgemein der Stimmungen dazu.
Besonders das Liedschaffen von Franz Schubert ist eine riesige Fundgrube in dieser Hinsicht. Wie Schubert mit der Harmonik umgeht, wie er Akkord-Klänge und deren Farben einsetzt, ist beeindruckend, und hier wird deutlich, warum gerade er, historisch aus der "Klassik" kommend, als einer der wichtigsten Wegbereiter der Epoche der "Romantik" gelten darf.

Seine harmonische Experimentierfreude und intensive Akkord- und Tonartfarben-Gestaltung kommt aber auch in seinen Instrumentalwerken zum Ausdruck, als Beispiel soll hier die "Wanderer-Fantasie" (C-Dur op. 15 D760) dienen. Dieses einsätzige Klavier-Solostück mit einer Dauer von rund 20 Minuten fußt zwar auf der Form der typischerweise viersätzigen Klaviersonaten, fasst diese Viersätzigkeit aber in einem fortlaufenden Stück zusammen. In seiner für die Zeit durchaus gewagten, auf jeden Fall sehr ungewöhnlichen harmonischen und Tonarten-Fortschreitung lässt sich symbolisch als das Wandern des "Wanderers" (ursprünglich eines seiner Lieder) deuten.

Hier ein Zitat aus einem Text über diese Fantasie, wo ganz gut die Tonarten-Fortschreitung beschrieben wird:

Ein Zuhause (übertragen: eine Eindeutigkeit, eine formale Geborgenheit) gibt es also nicht. Thematisch,
formal und vor allem harmonisch dominiert das Schweifen, Schuberts Musik erreicht ihren Höhepunkt nicht
wie die Beethovens in der logischen Verknüpfung und thematisch-harmonischen Kulmination, sondern im ly-
rischen Freilassen, in der Melodie, im Gedicht, in der aufregenden harmonischen Wendung – hier das Lied
und die Gegenüberstellung der harmonischen Sphären C-Dur/cis-Moll und das Ersetzen der klassischen
Quintverwandtschaften durch Terzzyklen: Seitensatz-Version 1 T.47ff steht in E-Dur, Seitensatz-Version 2 in
Es-Dur/As-Dur, der langsame Teil in cis-Moll/Cis-Dur/E-Dur, das Scherzo in As-Dur, Trio Des-Dur, das Finale
in C-Dur. Die traditionelle Zielebene G-Dur taucht hier nur als Drehpunkt auf: bei der Überleitung zum Adagio
T.165ff wird G zu Gis verwandelt, bei der Überleitung vom Scherzo zum Finale T.291(=539)ff wird das As zu-
nächst enharmonisch zu Gis verwandelt, chromatisch über A, Ais und H bis zu C als c-Moll weitergeführt, in
c-Moll bildet dann As (mit hartvermindertem DD-Akkord) – G (als D) das rückführende Gelenk.
Es gibt also formal zwei harmonische Kräfte: das Kleinsekundverhältnis (als Neapolitaner ausgedeutet)
und der Großterzzyklus C-E-Gis/As-C (manifestiert durch Seitensatz-Versionen und Tonartenfolge der Teile).
Harmonisch und formal wurde gerade dieses Stück Ausgangspunkt für die Formenwelt Franz Liszts: Er
bearbeitete die Fantasie als konzertantes Stück für Klavier und Orchester und entwickelt die Verschränkung
der Satztypen vor allem in seiner h-Moll-Sonate weiter.

[Quelle: http://www.satzlehre.de/themen/wanderer.pdf]

Für jeden, der dieses Werk interpretieren möchte, ist ein tiefer Einblick in Tonarten, Quintenzirkel und in harmonische Zusammenhänge sehr empfehlenswert.


Hier das Lied "Der Wanderer" [op. 4 Nr. 3 D 493] aus dem Schubert in der "Wander-Fantasie" zitiert:


View: https://www.youtube.com/watch?v=yYiPIc9KYAw

Und hier die Wanderer-Fantasie (mit Noten, es spielt Sviatoslav Richter):


View: https://www.youtube.com/watch?v=OJQQ0fPemaE

 
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viel geredet. Tonart ist Eb Dur.
 

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Eine Begründung wäre schön.
 
OK, Korrektur!
Das Intro ist in Ab Dur.
Der A-Teil in Eb Dur
und der B-Teil in Gb-Dur mit abschließender Modulation zurück zu Eb Dur.
 
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DD steht für Doppeldominante.
 
Analyse
 

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Eine winzige "Korrektur" zu Deinen notierten Changes: In Takt 8 des A-Teils bleibt der Sus liegen, und wandert nicht - wie zu erwarten wäre - zu dom7. Es ändert sich nur das Voicing. Da ich das selbst eingespielt habe, kann ich das ruhigen Gewissens behaupten ... :)

PS: Im übrigen hat die Nummer auch einen Namen: Sie heißt "Moonlighting" und war der Titelsong einer gleichnamigen TV-Krimi/Comedyserie aus den 80ern. Bei uns gelaufen unter dem Namen "Das Model und der Schnüffler".

LG
Thomas
 
Danke Thomas. Habs verbessert.
 
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Danke ihr beiden.
DD dachte ich mir, und hartvermindert soll vermutlich halbvermindert sein. Naja.
 
hartvermindert soll vermutlich halbvermindert sein.
1689510855009.png

*duckundschnellweg* :D

Viele Grüße,
McCoy
 
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... musste auch erst mal nachschlagen, hatte mit dem Akkord länger nicht zu tun ...
Als "hartvermindert" wird in der klassischen funktionalen Harmonielehre ein Dominantseptakkord mit tiefalterierter (= verminderter) Quinte bezeichnet. Also z.B. C E Gb Bb statt C E G Bb.
Diese verminderte Quinte ist neben der Terz ein zusätzlicher Leitton zum Grundton der Tonika (im Beispiel E->F und Gb->F).
 
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Aber mal im Ernst: Hat den Ausdruck hartvermindert ausser Hugo Riemann und HaPe Reutter nochmal jemand verwendet, oder entstammt der ausschließlich der Riemannschen Kategorisierungs- und Katalogisierungswut?

Also z.B. C E Gb Bb statt C E G Bb.
Interessant, bei den Jazzern heißt der C7(#11), steht meistens für MM4 [Mixo(#11) bzw. Lydisch Dominant] und hat ein fis anstelle des ges.

Wikipedia spricht übrigens beim hartverminderten Akkord von c - e - ges und bei c - e - ges - b vom verminderten Dominantseptakkord (was aber nichts heißen muß).

Einige Beispiele für verminderte Akkorde (jeweils auf dem Ton c aufbauend):

Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Vermindert
... und der weichverminderte ist dann wohl der hier? oder ist der harterhöht?
1689594469921.png
Hartübermäßig würde ich sagen. Weichvermindert gibt es ja offenbar schon (s.o.).

[OT]Ansonsten die Erda vor ihrem Auftritt in Wagners Rheingold immer fragen, ob sie weiche oder harte Eier zum Frühstück möchte:

View: https://www.youtube.com/watch?v=28R6PLLQQno
o_O
[/OT]

Viele Grüße,
McCoy
 
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Danke für den Wiki-Hinweis. Hätte ich ja auch selbst nachsehen können ...

... und den "weichverminderten" gibt es dort tatsächlich ... und ich dachte ich mache einen Witz ... wie peinlich.

"weichverminderter Dreiklang (c-eses-ges)"

oder entstammt der ausschließlich der Riemannschen Kategorisierungs- und Katalogisierungswut?
Also ich habe den Ausdruck glaube ich noch nicht gehört ... genau wie die bei Wiki erwähnte "verminderte Sekunde c-deses" oder die verminderte Oktave c-ces.
Ich weiß nicht, ob sowas irgendeinen praktischen Wert hat.
bei den Jazzern heißt der C7(#11)
Ja ... das war mir auch schon immer nicht ganz klar, wenn man Terzen stapelt, kommt man natürlich auf die 11, aber in der alterierten Skala ist das fis/ges ja der fünfte Ton bzw eine erniedrigte Quinte ... in der GT oder der Mixo#11 dagegen der vierte ... hab es dann eben so hingenommen und mich nicht weiter um eine tiefgründige theoretische Klärung bemüht ...
 
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